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Die jüdische Frau

(1934)

Die heutige Stellung der jüdischen Frau in Deutschland läßt sich nicht aus der Gegenwart allein begreifen. Ein kurzer Rückblick auf die vergangene und vorvergangene – vielleicht auch längst vergangene – Zeit ist dazu nötig, und günstig ist es, den Faden zurückzuverfolgen, soweit eine Heutige noch rückschauend Erleben, Erinnerung und Tradition als Hintergrund herantragen kann, um das Bild der deutschen Jüdin in eine richtige Perspektive zu setzen.

Es ist in letzter Zeit verschiedentlich versucht worden, in starken Frauentypen das jüdische Frauentum aufzuzeigen. Diese Versuche haben, durch die Jahrhunderte führend, schon rein der Zahl nach wenig Höhepunkte ergeben.

Nur mit Hilfe von Spezialstudien hat man für weite Epochen, von den biblischen Frauen abgesehen, in der Diaspora jüdische Frauen nachgewiesen, die über einen relativ kleinen Kreis hinaus Bedeutung gefunden hatten.

Viel genannt und aus der Ebene ragend ist Glückel von Hameln, die in liebenswerter und verehrungswürdiger Frauenart bedeutsam ist. Sie repräsentiert die jüdisch-deutsche Kultur ihrer Zeit, hat sie aber nicht beeinflusst. Ihre sehr eigenartige Aktivität war eine ganz interne, auf ihre – allerdings sehr große – Familie beschränkt. Wenn man nicht aus persönlichen Gründen die Memoiren der Glückel um ihres Menschentums willen »ausgegraben« und ihr damit viele Freunde gewonnen hätte, hätte sie außerhalb eines nicht sehr großen jüdisch-literarisch interessierten Kreises ihre Urstätt kaum gefeiert.

Es spannt sich hier ein ziemlich weiter und leerer Zeitbogen von Frau Glückel zu den Jüdinnen der vorvergangenen Zeit, jenen berühmten Frauen der Romantik, die in die deutsche Literatur eingegangen sind, die mir aber für die Entwicklung des deutschen, jüdischen Frauentums nicht maßgebend zu sein scheinen. Diese Frauen haben das Gleichgewicht zwischen ihrer jüdischen Herkunft und der deutschen Geistigkeit, in die sie ihr Schicksal gestellt hat, sicher nicht gefunden. Sie mögen ihre Andersartigkeit – um ein modernes Wort zu gebrauchen – den christlichen Kulturträgern gegenüber, zwischen denen sie wandelten, oft selbst befremdend, vielleicht auch beunruhigend, empfunden haben, aber die geistige Nottaufe, die sie empfangen haben, wird als starkes Plus das von ihnen als solches empfundene jüdische Minus wohl nie ganz ausgeglichen haben.

Und doch bestand längst zwischen Deutschtum und jüdischer Frauenart ein erkennbares Zusammenfließen.

Natürlich war es in jenen vorvergangenen Zeiten, an die ich denke, nicht so, daß die Jüdin aus ihrer Kultur die christliche Welt beeinflusst hätte, aber doch war es so, daß die in ihrer religiösen Innerlichkeit jüdisch ganz intakt gebliebene Frau, deutsche Kultursplitter in ihren allgemeinen Habitus aufgenommen hat.

Frauentracht und Mode war immer – bis auf die religiösen Forderungen an die Haartracht und den Kopfputz – deutlich von der Landestracht beeinflusst. Den Niederschlag eines Einflusses von Deutschtum auf jüdische Frauenart findet man jedoch am merkbarsten in dem feinsten und doch stärksten Lebensfaktor der Menschen, in ihrer Sprache.

Die »unbekannte Jüdin«, von der keine Chronik erzählt, die in der sittlichen Ebene der jüdischen Gesetze ohne starke Erhebungen einzelner Persönlichkeiten lebte, war durch die Jahrhunderte Trägerin der ungebrochenen, selbstverständlichen Jüdischkeit und zugleich unbewußt die Hüterin alten deutschen Sprachgutes. Dafür sind die Frauenbibel (Zennoh rennoh) und die Maasse-Bücher in ihrem »Weiberdeutsch« (jiddisch-deutsch), und ich möchte fast sagen: in klassischer Form die Memoiren der Glückel von Hameln, historische Beweise.

Trotzdem diese Ebene eine beträchtliche ethische Niveauhöhe zeigt, kann man in ihr schon die Keime einer Kulturellen Diskrepanz im Leben der jüdischen Frau finden, wie sie in der gepflegten Anschauung lag, daß die Frauen »jüdisch sein« sollten, aber nichts lernen durften.

Das Volk der Bücher verschloß den Frauen den Zutritt zum jüdischen geistigen Leben, zu seinen Quellen; nur stückweise und zurechtgestutzt, sollten sie glauben und tun, ohne zu wissen, warum.

Keine Bes-Jakob-Schule, keine Erwachsenenbildung kann heute mehr gut machen, was an der jüdischen Frauenseele und damit an dem Gesamtjudentum gesündigt wurde, dadurch, daß man der unbekannten Frau den jüdischen Sinn des Lebens vorenthielt und nur ihre physische Kraft dem Manne dienstbar hielt. Die Frau des Juden durfte als ein Lasttier die Bausteine des Familienlebens tragen; stumpf sollte sie in ihrem Rhythmus bleiben.

Wie wurde sie aber gelobt und gepriesen, die Esches Chajil (Minnegesang bei gefülltem Fisch), wie wandten sich die männlich-menschlichen Gesetzesauslegungen gegen sie, deren Geist sicher auch empfänglich und bereit war!!! –

Diese sakro-sankt gewordene Haltung rächte sich schwer. Was man nicht kennt – oder nur als unbequem und lästig kennt – ohne den sittigenden Wert zu erkennen, achtet man nicht hoch, und ich sehe Logik und Tragik darin, daß die Frauen und Mütter der vorvergangenen Zeit ihre Kinder nicht mehr in dem Respekt vor dem Geistesgut der Tradition erziehen konnten. Der Faden war abgerissen und damit das Leerhaus vorbereitet, für das man heute so gern und ausschließlich die Emanzipation verantwortlich machen will.

Aber ich sehe auch ein kleines geistiges Rinnsal aus jener Zeit das Frauenleben anregen und sich bedeutsam entwickeln, vielleicht als natürliche Kompensation der versagten jüdischen Geistesbildung.

Das deutsche Sprachgut vermischt mit jüdischen Bestandteilen, das Weiberdeutsch, ist die schmale Brücke in eine Welt, die sich der jüdischen Frau im Laufe der Zeiten eröffnete. Gerade die Gleichgültigkeit, mit der man was Frauen und Mädchen lernten (in der Zeit der Frühehe gab es kaum eine Mädchenzeit im heutigen Sinn), im Gegensatz zu dem behandelte, was Knaben und Männer lernen und wissen mußten, brachte eine stetige und anfangs nicht beachtete Bewegung in die jüdische Frauenwelt.

Der sichtbarste Niederschlag dieser Jahrhunderte alten Einstellung und ihrer Wendung zeigte sich an einer Stelle einwandfrei und symptomatisch: in der Frequenz der Baron Hirsch-Schulen in Galizien mit seinen vorwiegend streng orthodoxen Volksteilen. Anfangs wurden diese Schulen heftig bekämpft, und zwar vom Cheder her; Knaben sollten sie nicht besuchen. (Allerdings wurden von der Leitung auch große Fehler gemacht).

Was die Mädchen lernten, nahm man nicht wichtig, sie besuchten die Baron Hirsch-Schulen, vielfach auch polnische Schulen, mit großem Eifer und immer stärkerer Ablehnung ihrer eigenen Familien und solcher Kreise, die in ihren religiösen und äußeren Lebensformen ihnen weniger »gebildet« schienen, als die »Fräulein«, wie auch die Eltern ihre Töchter respektvoll nannten.

Ich habe selbst feststellen können, wie in Oesterreich, Ungarn, Rumänien, Böhmen, Mähren, Polen, Galizien, Rußland in 3 Generationen das Jiddisch-Deutsch, das Weiberdeutsch, sich entwickelte, wie die Mittelgeneration zunächst die respektive Landessprache der deutschen Sprache gegenüber wenig pflegte, sie kaum rein, und als Schriftsprache garnicht beherrschte. (Charakteristisch ist, daß in den wohlhabenden Familien die jüdische Köchin immer deutsch sprach, das andere Personal die Landessprache). Es erhob sich gerade unter den jüdischen Frauen ein deutlich deutschgefärbter und betonter Bildungsdrang, der den zwei – in gehobeneren Schichten oft dreisprachigen Frauen (wenn französisch dazu kam), neue Kulturelemente zugänglich machte, allerdings das Jüdische nach Form und Inhalt zurücktreten ließ.

Von den Prominenten der Pressburger Judengasse und ihren Ausläufern und Ausstrahlungen an, durch das Wartezimmer des Rabbi von Sadagora und anderer Hochburgen der klassischen Orthodoxie bis zu dem Kreis der Familien Schmelkes, Ringelheim, Ginsburg, Lilien, Buber, Nussbaum, Mandelstamm und Motzkin konnte ich den Einfluss deutscher Sprache und deutschen Geisteslebens mit großer Ehrfurcht beobachten, aber gleichzeitig auch bei den Frauen das Zurücktreten des jüdischen Bewußtseins, oft schon zugunsten eines neu erwachenden Nationalbewußtseins; z.B. in Ungarn, Polen und den böhmischen, heut tschechischen Sprachgebieten.

Die Frauen gingen natürlich an den Hohen Feiertagen, die Aelteren auch am Samstag, in den Tempel, aber sie konnten dem Gottesdienst nicht richtig folgen. Hier beginnt schon die Bruchstelle, die in späteren Jahrzehnten zur liberalen und zur Reformliturgie führt. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, die Frauen – und natürlich nicht nur die Frauen – der Gemeinde zum Verständnis des Gottesdienstes zu erziehen, als später einen Gottesdienst zu konstruieren, der sich unhistorisch und traditionslos dem versagenden Verständnis der Gemeinde anpaßt?

Die Tatsache bestand aber: die Frauen verstanden in der Mehrzahl weder die in einer Mischsprache mit hebräischen Zitaten durchzogenen Predigten, noch die Toravorlesung, noch den Wortsinn der Gebete, wenn sie sich auch meist ohne Kewonoh (Andacht) äusserlich dem Gang der gottesdienstlichen Handlungen anschließen konnten. Die alten Frauen mit Stirnbindel oder Scheitel sah ich allenthalben über ihren dicken, in Raschischrift gedruckten Büchern bitterlich schluchzen; die nächste Generation schwätzte und hatte schon in Quadratschrift gedruckte Gebetbücher, meist mit deutscher Uebersetzung, verlegt in Rödelheim, Wien und Prag. Wilna, Amsterdam und Krakau als Druckort ohne »Tatsch« (Deutsch) sah ich selten, doch mag das an mir gelegen haben.

Aus meinem Erfahrungskreis, den ich in den vorliegenden Zusammenhängen nur andeutungsweise heranziehen kann, muß ich feststellen, daß die jüdischen Frauen aller Schichten und Länder, zu denen ich gelegentlich sprechen konnte, für Vorschläge und Anregungen auf sozialem Gebiet rasches Verständnis hatten. Den Männern waren sie gleichgültig oder unbequem.

Die Frauen mit Tradition im Blut und im Gehirn zeigten zur praktischen Ausübung des Gebotes der Nächstenliebe in den der kommenden Zeit angepaßten Formen eine verständnisvolle Bereitschaft. Damit erkannte ich auch in der unbekannten Jüdin, innerhalb des Judentums, in der Diaspora, die Garantin, große entwicklungsfähige Aufgaben ausführen zu können. Diese Ueberzeugung nahm ich von Reisen immer wieder mit mir nach Deutschland, in meine tägliche Arbeit, deren Radius ich nicht eng sah.

Um die Entwicklung der deutschen jüdischen Frau aus meinem eigenen Gesichtswinkel zu schildern, war es nötig, in Vorstehendem den Hintergrund zu skizzieren, auf dessen Erleben sich für mich diese Entwicklung aufbaute.

Ich sehe drei tiefe Kerben in dem jüdisch-geistigen Leben der Frau unserer Zeit.

Die erste Kerbe kennzeichnet die Epoche, in der sich aus dem oft gedankenlos angewandten Gebot der Mizwoh, dem Nächsten zu helfen, durch die veränderten Zeitläufte die Notwendigkeit ergab, aus der aufgeblasenen Philanthropie und aus dem blinden Almosen-geben ein sinnvolles, verantwortungsvolles Tun werden zu lassen.

Die Gemeinde Frankfurt a. M. bot vor 50 Jahren einen ebenso reichen, wie schwierigen Boden für solche Bemühungen.

Es war darum nur ein verhältnismäßig kleiner Kreis von unbekannten Frauen (orthodoxen, wie liberalen), denen in Frankfurt der Gedanke weiblicher Fürsorge in ihren verschiedenen Tätigkeitsgebieten als Notwendigkeit klar wurde, und die in bescheidener, unermüdlicher, heiliger Kleinarbeit den Boden der Kehillo Kedauscho umackerten, um alte Kulturen zu pflegen und neue zu pflanzen. Dankbar sei dieser ersten Frauengeneration gedacht, die diesen Gedankengängen willig folgten, während die Männer ihnen hartnäckig Widerstand leisteten. Es ist interessant – trotz der nur skizzenhaften Darstellung – hier das Kuriosum zu verzeichnen, wie innerhalb dieser 50 Jahre aus dem männlichen Widerstand gegen eine Organisation der sozialen Arbeit eine Hypertrophie der Organisation geworden ist – bis zur fixen Idee einer alles umfassenden, jede persönliche soziale Leistung tötende »Dachorganisation«.

Diese in Frankfurt a. M. auf religiösem Humus bodenständig gewordene soziale Arbeit hätte keine über die Gemarkung der Stadt hinausgehende Bedeutung gefunden, wenn sie nicht von der Seite der allgemeinen deutschen Frauenbewegung Auftrieb und Bestätigung gefunden hätte. Aus dieser neuen Verschmelzung deutscher Kulturelemente mit jüdischem Kulturgut entstand eine geistige Substanz, die sowohl für die deutsche Frauenbewegung, wie für das jüdische Leben von höchster Bedeutung wurde.

Gerade die Jüdinnen, von denen viele es zu jener Zeit garnicht sein wollten, waren in ihren sozialen Stellungen keine »unbekannten« Frauen mehr. Diese Frauen, die garnicht wußten, wie jüdisch sie ihrer tiefsten ererbten Geistigkeit nach waren, bewährten sich als tragkräftige Stützen der deutschen Frauenbewegung; diese Bewegung wiederum brachte dem schüchternen, unsicheren Voranschreiten des jüdischen Frauenwollens Weg- und Zielsicherheit.

Aus dem deutschen, wie aus dem jüdischen Frauenleben, ist dieses Zusammenfließen der beiden Kulturen garnicht fortzudenken und niemals auszulöschen. Alle Frauen, welcher Stellung oder Richtung sie heute angehören mögen, stehen – ihnen selbst unbewußt – auf den Schultern dieser Kämpferinnen für die Gleichberechtigung der Frau auf allen Gebieten, die nicht in der Naturgegebenheit des Weibes ihre Grenze fand.

Für die an der sozialen Entwicklung zunächst Beteiligten, bewußt und bekennend jüdischen Frauen war das Erlebnis dieses Zusammentreffens ein Höhepunkt ihres Daseins und wurde der psychologische Moment zur Gründung des Jüdischen Frauenbundes. Die Tendenz dieses Bundes ist durch 30 Jahre unverändert jüdisch-religiös und deutsch-kulturell geblieben. Heute ist es bedeutsam, festzuhalten, daß die Frauen, die sich in der Leitung des Jüdischen Frauenbundes zusammenfanden, ihre Familienherkunft teils Jahrzehnte, teils Jahrhunderte als Deutsche, auf deutschem Boden lebend, herleiteten.

Aber nicht alles, was die deutsche Frauenbewegung und jüdischen Frauen – wenn auch oft nur auf Umwegen – brachte, war uns gut und bekömmlich. Hier zeigte sich die negative Seite der Beweglichkeit und der Anpassungsfähigkeit des jüdischen Geistes zum Schaden seiner selbst. Schlagworte, wie »neue Ethik«, »Jahrhundert des Kindes«, Debatten über den § 218, Geburtenregelung, Auswüchse der Jugendbewegung, die von der Jüdin oft als eine Moderichtung ohne gebührende Kritik und Einschränkung aufgenommen wurden, ließen in vielen Frauen die Bedeutung der Errungenschaften auf allen anderen geistigen und sozialen Gebieten überwuchern.

Die Zeit hat uns seither wieder vieles umwerten gelehrt. Wir haben jedoch den Aufstieg erlebt, wir haben gelernt uns geistig in einer Atmosphäre zu bewegen, die uns sonst nicht zugänglich gewesen wäre. Und hätten wir nichts gewonnen und übernommen als die Bewegung zum Stimmrecht der Frau in der jüdischen Gemeinde, es wäre genug gewesen.

Die Bestätigung dieses Mitbestimmungsrechtes der Frau, daß ihm »religionsgesetzlich nichts entgegensteht« verdanken wir dem Frankfurter Rabbiner Nobel. Sein Andenken sei gesegnet mit dem des Rabbi Gerschon, der im Jahre 1000 die Einehe eingeführt hat.

Eine andere Kerbe im jüdischen Leben der kurz vergangenen Zeit ist der Zionismus, dessen stärkere Einwirkung auf die Frau allerdings jünger ist als die Bewegung selbst.

Da ich die Aufgabe übernommen habe, der Gestaltung des modernen jüdischen Frauentyp nachzugehen, sehe ich mich plötzlich vor die Notwendigkeit gestellt, mir selbst, die ich doch allen Erscheinungen und Bewegungen des jüdischen Lebens bewußt das gespannteste und ein tunlichst aktives Interesse entgegenbringe, Rechenschaft darüber zu geben; wie ist es für mich erklärlich, einem solchen historischen Geschehen, wie der Zionismus für das Judentum ist, fremd, ohne persönliche Mitarbeit, z.T. sogar ablehnend zu bleiben?

Ich glaube in gründlicher Gewissensforschung sagen zu müssen, daß der tiefste Grund darin liegt, daß die Zionisten – nicht der Zionismus – von den ersten Äußerungen der Bewegung an alle die Frauenaufgaben, die ich als unbedingt lebenswichtig erkenne, aufstelle und verteidige, als quantité négligable behandelten.

Dazu kommt noch, daß ich von Theodor Herzl, dem späteren jüdischen Nationalheiligen wußte, daß seine Jüdischkeit relativ sehr jungen Datums war.

Herzl war Journalist, der den Wienern meist ihren gerngelesenen Sonntagsbraten in der »Neuen freien Presse« lieferte.

Für die Kreise, denen ich entstamme, war er das, was man damals noch nicht mit dem Wort »Assimilant« bezeichnete aber ablehnte; dazu kam für mich – vielleicht auch für andere – das Herzl's »Neuland« als direktes Nachfolgebuch nach dem »Rückblick aus dem Jahr 2000« von Bellamy erschienen war.

Daß dieses Buch – wichtig es zu unterstreichen: dieses deutsche Buch, das von den polnischen und russischen Juden nur auf Grund ihres jiddisch-deutsch gelesen werden konnte, – diesen Juden eine Erleuchtung war, einen Erlösungsgedanken brachte, lag in der grauenhaften geistigen und physischen Verkrampfung, dem barbarischen Druck, in dem sie lebten.

Sicher hat der deutsche Journalist Herzl das Buch gemacht, aber das Buch hat auch durch eine ihm selbst überraschende Rückwirkung den Autor »gemacht«. Der assimilierte Wiener Jude konnte aus seiner ganzen damaligen inneren und äußeren Haltung nicht ahnen, daß er eine Trompete blies, die eine Fanfare wurde, – und ein Schofar hätte werden können; denn um ein altes jüdisches Wort zu gebrauchen: Es kommt alles auf den Mekabel (den Empfänger) an.

Ich bewegte mich zurzeit der Anfänge des Zionismus viel in den Ländern, die man heute als Osteuropa bezeichnet, aus der mir selbst gestellten Aufgabe, das jüdisch-soziale Leben dort aus einer gewissen Versandung, Verwahrlosung und Vergewaltigung heben zu helfen. Ich sah in der subjektiven und objektiven Auffassung des Frauenlebens dort einenGrund zu dieser Versandung und Verwahrlosung und hatte einen Augenblick gedacht, sogar gehofft, der angewandte Zionismus würde zu einer Regeneration helfen. Weit gefehlt! In uferlosen, gereizten Debatten mit vielen unbekannten Zionisten wurde mir immer wieder gesagt: Zionismus ist eine rein politische Bewegung, die mit sozialen und religiösen Dingen nicht zu verquicken sei; Mädchenhandel gibt es nicht; Prostitution ist eine internationale Notwendigkeit; Geschlechtskrankheit ist persönliches Pech und was ähnliche Argumente mehr waren. Alles kulturlos: Formen, Ton, Rücksichtslosigkeit, Pietätslosigkeit in allen Lebensäußerungen. Ich beobachtete einen Kongreß in Wien, eine Versammlung in Karlsbad und fand keine Möglichkeit für mich, mitzugehen, mich heranzufühlen, – auch später nicht, als die Zionisten immer lauter fordernd und störend auch in das deutsche Gemeindeleben eingriffen und Religion als Privatsache innerhalb der jüdischen Nation erklärten.

Ich widerstehe der angekurbelten Versuchung, die Betrachtung »Wie ich den Zionismus erlebe« weiterzuspinnen. Wenn der Zionismus auch nie aufhörte, ein Stimulus des Denkens und Beobachtens für mich zu sein, so ist doch die Einflußnahme der zionistischen Bewegung auf die deutsche Jüdin ganz außerhalb meines persönlichen Nachdrucks oder meiner Zurückhaltung vor sich gegangen. Ich konnte beobachten, daß die Frauen von den zionistischen Männern nur sehr zögernd und in Sonderbezirken zugelassen wurden (hauptsächlich zu Geldsammlungen), daß die zionistischen Frauenorganisationen geistig und geldlich sich in absoluter Abhängigkeit nur langsam und unselbständig entwickelten und, wie ich glaube, ihr Rückgrat und ihre beste Kraft aus Amerika bezogen.

Allerdings scheint es, daß es den nationaljüdischen Kreisen auch in Bälde zu dämmern begann, daß eine Nation, und vor allem eine Kolonisation des bewußten, gereiften Frauenwillens und -Wirkens zur Sicherstellung der Existenz bedarf. Hoffentlich wird man im jüdischen Palästina auch bald zu der Erkenntnis kommen, daß kollektivistische Zeugung und Kinderaufzug keine aussichtsreiche Basis für den Bestand einer »Nation« sind. Ich hoffe dabei von dem starken Eindruck der großen deutschen Alijah an kulturellem Einfluss. Kindergarten und Krippe sind nicht nur unübersetzbare deutsche Worte, sondern auch pädagogische Begriffe, die nicht mißbraucht und mißdeutet werden dürfen. Kindergarten und Krippe sind Surrogate, die eine gesunde Familie nicht gebrauchen soll; sie dürfen auch nicht als Erwerbsinstitute propagiert werden. Das Kind gehört – nach einem guten deutschen Wort – an das Schürzenbändel der Mutter. Alles andere ist ein Unglück oder eine sozialpolitische Fehldisposition.

Im ganzen ist jedoch zu sagen, daß der Zionismus auch für die deutsche Jüdin ein anregendes Element war, soweit es aus den propagandistischen Wellengängen des jüdischen Nationalismus gefördertwurde, und daß er auch im Jüdischen Frauenbund – wenn auch nicht kampflos, so doch ganz berechtigterweise – Eingang gefunden hat. Eine starke Bereicherung des geistigen Lebens vermochte ich durch das Auftauchen der zionistischen Frauen aus der Ebene nicht zu erkennen, und es war lediglich Temperamentsache der Einzelnen – Zionistin oder Nichtzionistin – ob sie sich trennend, reinigend oder befriedend betätigen wollte.

Heute ist an zwei Stellen ein Versagen der deutschen Jüdin deutlich zu sehen.

Zunächst in der jüdisch-sozialen Arbeit, wo sie sich zerorganisierte. Die Frauen mußten sich vielfach aus ihrer freiwilligen Tätigkeit hinausdrängen lassen zugunsten routinierter Kräfte, die, einfach passiv schon, verhinderten, daß die soziale Arbeit als solche auf weite Frauenkreise ihren erzieherischen Einfluss ausübte, – auf die Frauen nicht nur, sondern auch, wo sie nicht übertrieben wurde – auch auf deren Umgebung. Freiwillige soziale Arbeit ist als Lehr- und Erziehungsmittel eine der stärksten sittlichen Potenzen jeder Gemeinschaft, besonders aber der jüdischen, in der auf uralte, gebotsmäßig geübte Fähigkeiten zurückgegangen werden kann.

Das Uebel, gewisse technische Leistungen weniger prompt und geschickt auszuüben, ist das kleinere, der Versandung des jüdischen Pflicht- und Verantwortungsbewußtseins der freiwilligen Helferinnen gegenüber. Es ist unklug von den Gemeinden, auf ein sittliches Training ihrer Mitglieder zu verzichten, und zu mechanisieren, was ein Zusammenklang potenzierter Imponderabilien ist. Es gibt in allen Betrieben Stellen, die beamtet besetzt werden müssen, aber die mit Gottähnlichkeit ausgestatteten Funktionäre (männlich und weiblich) können jede Saat im Felde des Gemeinschaftslebens zertreten und dadurch auch die Steuerzahler desinteressieren. Das ist nicht gut!

Man verlange die Esches Ckajil in der Gemeinde! Allerdings war in der jüngst vergangenen Zeit auch bei den Frauen wenig Streben und Eignung, solche Aufgaben mit Ernst zu erfüllen. Auch dort, wo schon kleine Pfade dazu getreten waren, verstanden die Gemeindefrauen und die Organisationen Zugelassenen nicht, ihre fraulichen Spezialaufgaben klar und eindeutig heraustreten zu lassen und durchzusetzen. Wichtig genommen wurde, wo in jener Epoche in jüdischen Kreisen noch ein Mittelstand – zwar nicht in Tradition sondern in Erinnerung – lebte, der Bubikopf, die schlanke Linie und eine Art von Bildungsfimmel, die ich als Wochenend-Ssechel (Verstand) bezeichnen möchte. Aber so wie bei dem heißesten Bemühen und großen Opfern an Schokolade und Kartoffeln die Frauen doch an den falschen Stellen dünn wurden und dick blieben, so wurden sie auch durch Vorlesungen und Arbeitsgemeinschaften an den falschen Stellen gescheit und blieben an den andern – ungescheit.

In dem Gesamtbild sind die Ausnahmen selbstverständlich zugestanden, besonders dort, wo materielle Sorgen ihre Schatten warfen und manche Frauen zu stillem Heldentum reiften. Diesen Unsichtbaren und Unhörbaren sei ob ihrer Haltung und Würde gedankt.

Einschneidender als die bisher geschilderten Vorgänge und Bildungen – alles vom Standpunkt des Frauenlebens dargestellt – ist, was die Jüdin unserer Zeit als Erzieherin bedeutete, d.h. was sie nicht bedeutete, wo und wie sie versagte. Der Vorwurf des Versagens, das muß in aller Deutlichkeit ausgesprochen werden, trifft nicht die Frau allein, die ja ein Erziehungsprodukt des Mannes ist (ich will nur flüchtig auf die Folgen hindeuten, wenn eine Frau außer dem Haushaltungsgeld kein Geld zur Verfügung hat). Der Vorwurf trifft die Juden im allgemeinen, für die vorliegenden Ausführungen die deutschen Juden im besonderen.

Seitdem der Einfluss des einzigen jüdischen Erziehers und Realpädagogen, Moses, in seinen lapidaren Geboten im Leben der Juden an Gesetzeskraft verlor, zerfloß die sittliche Atmosphäre der Juden in nebelhafte Gebilde. Es gibt keine Erziehung, es gibt keine Erzieher mehr. Jede Unart, jede Ungezogenheit, jede Unsitte, jeder Unsinn, jede Hemmungslosigkeit, jede Geschmacklosigkeit, jede Taktlosigkeit, jede Tatenlosigkeit, jede Gesinnungslosigkeit werden historisch und psychologisch erklärt. Die Erklärung wird zur Entschuldigung ausgebaut. Tradition wird nicht als Verpflichtung gezeigt, sondern feige und bequem als Hintergrund von Kulissen aufgestellt. Es gibt keine Forderungen, nicht vom Mann, nicht von der Frau, nicht an Mann und Frau, nicht an die Kinder, an die Jugend, die man verzieht, statt sie zu erziehen.

Erziehen, nicht als Worterklärung, heißt Fordern: erst von sich, dann von den andern. Fordern mit dem Ziel vor Augen, kein Unrecht zu tun, kein Unrecht zu dulden, d. h. die Diffamierung in Unrecht setzen. Wahrhaftigkeit und Lüge unterscheiden lehren, Schönheit zu sehen und zu pflegen in Natur und Kunst und Liebe zu üben, Liebe, die so stark liebt, bis zum Hass dessen, was unrecht und nicht liebenswert ist, – alles in der verständnisvoll nachsichtig – unnachsichtigen Strenge eines gottgewiesenen Weges.

»Der Weg ist alles, das Ziel ist nichts«.

Man beklagt, daß man keinen »Gemeinschaftsgedanken«, kein Ideal habe, als erzieherisches Postulat für die Jugend! Ist es denn für einen Juden und eine Jüdin keine Aufgabe, aufrechte, bekennende jüdische Juden zu sein, welttragende Gebote in der Welt zu vertreten? Ist das kein Postulat, kein Ideal, dem nachzuleben das Leben wert ist? Und gerade in der Diaspora, für uns in Deutschland, dessen deutscher Kultur »Tarbut Germania« wir so unendlich viel verdanken, so viel, daß es Dummheit und Undank wäre, sich davon losreißen zu wollen?

Wir können es garnicht.

An dieser Stelle wäre noch ein Wort über das zu sagen, was heute unter dem Kennwort »Haltung« verstanden wird. Zwar ist die Distanz zu der unbekannten Frau der letzten zwei Jahrzehnte noch nicht groß genug, um echte Kontur von zufälligen Auswüchsen zu unterscheiden, d. h. ein ganz richtiges und gerechtes Bild zu geben, aber die Schnellebigkeit der modernen Zeit gestattet doch, ohne zu oberflächlich zu werden, im Rahmen dieser Ausführungen der »Haltung« der jüdischen Frau zu gedenken. Sie ist nicht tadellos, sie ist nicht schuldlos an der Beurteilung und Verurteilung, die der jüdischen Gemeinschaft zuteil geworden ist. Die politische und geistige Befreiung hat die Jüdin nicht dazu geführt, sich in allen Lagen, ihrer Würde und Aufgabe im engeren wie im weiteren Kreis bewußt zu bleiben, – besonders die sorglose Frau sündigt. In Fragen des Zweifels, der Unsicherheit muß jederzeit die Entscheidung nach der Seite der Bescheidenheit, der Zurückhaltung, der Geräuschlosigkeit und der Einfachheit in Erscheinung und Lebensführung fallen.

Wir sind füreinander verantwortlich, einerlei wo der Einzelne steht. – Wir sind an ein Gemeinschicksal gebunden, und damit kam für uns deutsche Juden die dritte Kerbe, der furchtbare Nackenschlag am 1. April 1933. Wie hat er uns getroffen! Wie werden wir ihm, wie werden wir der Diffamierung, der Verelendung standhalten?

Durch Selbstmord des Einzelnen? Durch Selbstmord der Gemeinschaft? Durch Auslöschen der Erinnerung an die Vergangenheit? Durch Klagen und Verzichten, durch Wandern und Umschichten, durch Abwarten, durch Philosophie oder Leichtsinn?

Mag jeder tun, Mann und Frau, was sie aus ihrer Schwäche oder ihrer Kraft, aus der Tiefe und dem großen Gesetz ihres Schicksals – unseres Schicksals – tun müssen. Nur wollen wir Juden bedenken, daß wir von überall in der Welt, aus der Diaspora – und auch Palästina ist Golus und Diaspora – den Gipfel des Berges Sinai sehen können.

25.8.34, Isenburg
Bertha Pappenheim


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