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Der Einzelne und die Gemeinschaft

(1933)

Das Schicksal, das uns Juden betroffen hat, zwingt uns, unsere Lebensformen dahin zu überprüfen, ob dieselben nach jeder Richtung und in jedem Ausmaß sich der Haltung anpassen, wie sie den Forderungen einer Zeit, die wir mit der eines Trauerjahres vergleichen und bezeichnen können, angemessen ist. Jeder Jude und jede Jüdin muß es von sich, seiner näheren und weiteren Umgebung verlangen, in stärkster Selbstbesinnung äußerste Zurückhaltung zu üben. Das heißt nicht, daß wir gedrückt oder deprimiert sein sollten, was gleichbedeutend damit wäre, daß wir den Lebensmut oder die freie Haltung verlieren. Das wollen wir nicht, und das dürfen wir nicht, nicht als Einzelne und nicht als Gemeinschaft. Es bedeutet aber, daß wir uns nur in weiser Ueberlegung und besonnener Bescheidenheit bewegen. Wir wollen alles vermeiden, was Aufsehen erregt und aufreizend wirkt, und was den besten Kulturforderungen widerspricht: in Sprache und Ton, in Kleidung und Auftreten, in allen äußeren Ansprüchen, die materiellen Genüsse betonen und in den Vordergrund rücken.

Wir wollen es als Pflicht erkennen, die oft zu laute, sprudelnd lebendige, oft zu selbstbewußte Jugend zu Hemmungen zu erziehen, sie beispielhaft so zu belehren, daß die Zeit ihnen eine Schule des Charakters sowohl wie rechtschaffener Bescheidung wird.

Abgewogene Rede in gemäßigtem Tone werde uns zur Gewohnheit; abwartendes maßvolles Verhalten in der Beurteilung geistiger Werte. Respekt vor unserer eigenen alten Kultur wollen wir von uns verlangen, und die nächste Zeit, die uns bewußt von Theater und Kino, Festlichkeiten, Vergnügungen, öffentlichen Lokalen, Stätten lauter Freude und Luxusorten fernhalten soll, soll uns auch die Zeit sein, die unsere Familienbindungen und religiöses Leben wieder stärkt, im Alltag, an Sabbat und Festtagen, und all das freundschaftliche Beisammensein belebt, in dem gute Bücher, Hausmusik, Kunst, Naturfreude wieder zu ihrem Recht kommen.

Vielen wird – wenn sich ihr Leben in solchem Rahmen bewegt – Zeit und Kraft bleiben, die unbedingt dazu verwendet werden muß, sich in den Dienst des Nächsten zu stellen, und auch dafür werden sich der Zeit entsprechende Formen finden, die eine ungeahnte Entwicklung der Persönlichkeit bringen können.

Vor allem aber sei die Zeit der Zurückhaltung auch eine Zeit der Sparsamkeit – für andere, deren Not ein ganz ungewöhnliches Maß erreicht. Liebe und Verstand, Kraft und Geld, sollen die Zeit, die uns von außen Entwürdigung und Schmach bringen soll, zu einer Zeit der Selbstachtung, der religiösen Verinnerlichung und der würdigen Selbstbesinnung werden lassen.

Der Ernst dieser Zeit kann Weg und Vorbereitung für eine gesunde, frohe Zukunft sein, in der natürliche Lebensbejahung wieder ihren Raum findet.

Bertha Pappenheim


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