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Eine Frauenstimme über Frauenstimmrecht

Von P. Berthold

(1887)

In jeder Bewegung liegt etwas ungemein Reizvolles. Das Überwinden eines Widerstandes und die dazu nötige Kraftentwickelung bringt ein Lustgefühl, erhöhtes Selbstbewußtsein hervor, das viele Menschen davor bewahrt, in dumpfe Trägheit zu verfallen. Zielbewußte, nützliche Bewegung, also Arbeit, ist darum, wenn sie die Kräfte des Arbeiters nicht übersteigt, etwas sehr Beglückendes. Wenn eine Bewegung in Sport ausartet, d.h. bloß der Eitelkeit und verwandten Motiven dient, wird sie wertlos.

Was von körperlicher Bewegung und Kraftleistung gilt, gilt auch von geistiger Bewegung. Etwas durchdenken, Etwas begreifen, Hindernisse, auf die man trifft, bewältigen, gehört zu den höchsten Genüssen des menschlichen Lebens, und solche geistige Arbeit kann inmitten eines sonst traurigen, freudlosen Daseins zu einer unerschöpflichen Quelle von Glück werden.

Aber auch eine Bewegung auf geistigem Gebiete kann ein fortreißendes Tempo annehmen, das die vernünftigen, wohlbegründeten Anfänge in sportartige Übertreibung ausarten läßt, und damit der guten Sache schadet.

Auf einem solchen Punkt ist im Moment die Frauenbewegung in Deutschland angekommen, erkenntlich an den einzelnen Rufen nach Frauenstimmrecht, die sich vernehmen lassen.

Die Veranlassung zur Frauenbewegung überhaupt gab die Not. Frauen darbten; der Selbsterhaltungstrieb führte sie zur Arbeit, und da man uns das Recht auf jede Arbeit, die wir leisten können, nicht frei zugesteht, so müssen wir es uns erkämpfen. So entstand die Bewegung, an der nach und nach alle Frauen teilnehmen werden: hemmend oder fordernd je nach Verständnis, Interesse oder Bedürfnis.

Die Frauen, deren geistiges Leben bisher als ziemlich seichtes Rieselwässerchen dahin geflossen ist, empfinden das Beglückende einer geistigen Bewegung und des Kampfes für ihr gutes Recht mit ungeahntem Entzücken. Das Erwachen zum Bewußtsein unser selbst, die Proben unserer Kraft und unseres Könnens machen uns so kampfesfroh, daß viele Frauen in ihrer Begeisterung für die gerechte Sache schon über das Ziel hinaus schießen, indem sie das Frauenstimmrecht verlangen.

Den nächsten Anstoß hierzu gab das neue, deutsche Bürgerliche Gesetzbuch.

Weibliche und männliche Juristen stimmen darin überein, daß die bezüglichen Paragraphen des neuen Gesetzes dem Recht der Frau in Ehe und Familie zu wenig Rechnung tragen. Das ist von Jenen, die das Recht im Staate zu vertreten und durch Gesetze zu ordnen haben, ungerecht. Die vieltausendstimmige Petition der deutschen Frauen hätte im Reichstage Gehör finden müssen, denn wir verlangten nur die Möglichkeit, daß jeder einzelnen Frau im einzelnen Fall, wenn sie sich auf den vorgeschriebenen Rechtsweg begiebt, ihr Recht werde. Die Petition hatte keinen Erfolg; aber aus dieser an uns Frauen verübten Ungerechtigkeit das Frauenstimmrecht ableiten zu wollen, ist bei dem heutigen Durchschnittsmaß von Frauenbildung doch ein verfrühter Gedanke, den einzelne Vertreterinnen der Frauenbewegung nur zu lebhaft akklamieren.

Um in einer beratenden und gesetzgebenden Körperschaft erfolgreich stimmberechtigt teilnehmen zu können, dazu gehört ein weiterer Blick, von Erfahrung unterstützte tiefe Bildung, und Routine im öffentlichen Leben und Verkehr – und darüber werden im heutigen Deutschland wohl nur sehr wenige Frauen ausreichend verfügen. Denn außer den wenigen Paragraphen über Ehe- und Familienrecht, in denen die Frau naturgemäß und als zunächst beteiligt urteilsfähiger ist als der Mann, sind doch das Jahr hindurch noch viele andere Dinge Gegenstand der Beratung und Abstimmung im Reichstag, in denen wir Frauen mit unserem heutigen Wissen nicht mitsprechen können.

Aber nicht nur für die höchsten Ansprüche eines weiblichen Abgeordneten im Parlament sind wir nicht gerüstet, auch für Wähler sind wir noch nicht reif genug.

Wer die Tragweite gewisser politischer Vorgänge nicht kennt, wer nicht weiß was finanzielle, verkehrstechnische, industrielle, wissenschaftliche Fragen und Unternehmungen für Bedeutung gewinnen können – wer die Telegramme einer Zeitung ohne Leitartikel nicht versteht – soll nicht den Anspruch machen, stimmberechtigt und wahlfähig zu sein. Ich möchte den Einwurf der curagierten Frauenstimmrechtlerinnen, daß auch eine große Anzahl von Männern ohne Verstand und Verständnis von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen, nicht gelten lassen. Nicht nur weil der Mann das Stimmrecht hat, soll die Frau es zu erlangen suchen und eigensinnig die Gleichheit zwischen Mann und Frau durchsetzen wollen. Das politische ist ein Gebiet, auf dem die deutsche Frau vorläufig noch nicht im stande wäre, ihr Recht nützlich zu gebrauchen. Daraus ist uns kein Vorwurf zu machen, denn die Politik ist ein großes, kompliziertes Interessengebiet, dem wir bisher absichtlich fern gehalten wurden und in das auch höchst gebildete und begabte Männer sich einarbeiten müssen, um etwas zu leisten.

Wir Frauen sollten deshalb heute noch gar keine Befriedigung darin finden, nur stimmen und wählen zu können wie jene Unfähigen und Ungebildeten unter den Männern, die ohne Überzeugung und ohne eigene Initiative an die Wahlurne treten. Wir wollen uns auch im Wahlkampfe nur mit den Besten des Volkes messen – aber das können wir heute noch nicht.

Darum soll in der Begeisterung für unsere Rechte keine Übertreibung eintreten, keine Überschätzung unserer Leistungen platzgreifen. Wir müssen unseren Weg langsam gehen. Erst wenn wir geistig den gleichen Entwickelungsgang durchgemacht haben werden wie der Mann, sollen wir anfangen auf unsere politischen Rechte Anspruch zu erheben. Wenn heute schon das Frauenstimmrecht in Deutschland eingeführt würde, so würde das wahrscheinlich gar keine Veränderung im Wahlbilde hervorrufen, denn die Frauen würden in ihrer politischen Urteilslosigkeit und Unselbständigkeit nur im Sinne der Männer des Kreises, dem die Einzelne angehört, wählen. Es würden also nur mehr Stimmen abgegeben werden, ohne daß man mehr oder andere Meinungen zu hören bekäme. Ein solches übereiltes Vorgehen wäre aber für die gesamte Frauenwelt von großem Schaden.

Im verfrühten Besitz des höchsten bürgerlichen Gutes, dessen sie sich in Zukunft würdig zu zeigen hat, würde sie es gar leicht versäumen, jenen einzigen Bildungsgang einzuschlagen, der die Frau zu der berechtigten Gleichheit mit dem Manne fuhrt.

Entgegnung

Von Marie Stritt in Dresden

Die Scheingründe, die gegen das Frauenstimmrecht nicht bloß von ehrlichen Gegnern, sondern auch von vorsichtigen Freunden der Frauenbefreiung (von ersteren konsequenter-, von letzteren inkonsequenterweise) geltend gemacht werden, sind stets die gleichen, längst bekannten, bis zum Überdruß wiederholten, es können also vorläufig auch die gegen diese Scheingründe, zu Gunstendes Frauenstimmrechts vorgebrachten Argumente nur auf längst Bekanntes, bis zum Überdruß Wiederholtes hinauslaufen. Aber »der Irrtum wiederholt sich so oft in der That, daß man das Wahre immer wieder in Worten wiederholen muß« zumal, wenn sich eine so günstige Gelegenheit dazu bietet, wie in den obigen Ausführungen.

P. Berthold nennt die Forderung des Frauenstimmrechtes, die auch bei uns in Deutschland – und zwar nicht erst in letzter Zeit und nicht bloß infolge der ungünstigen Resultate der Agitation gegen das neue Familienrecht – von einzelnen zielbewußten Frauen und Männern erhoben wird, eine »sportartige Übertreibung«. Dieser Ausdruck ist, selbst von ihrem Standpunkt, nicht glücklich gewählt. Die Notwendigkeit des Stimmrechtes muß sich als selbstverständliche, einzig richtige und logische Konsequenz unserer Bestrebungen allen denen von selbst aufdrängen, die sich ernsthaft und gründlich mit der Frauenfrage, mit Wesen und Bedeutung, Ausgangspunkt und Ziel der Bewegung beschäftigen. Daß P. Berthold wohl den Ausgangspunkt – die materielle Notlage des weiblichen Geschlechtes – aber schwerlich das Ziel– die Befreiung der Frauenpersönlichkeit von allen ihre Entwickelung hemmenden wirtschaftlichen, sozialen und geistig-sittlichen Fesseln und Gedanken kennt, daß sie offenbar nur ein ganz eng und niedrig gestecktes Ziel gelten läßt, das beweist die bei dieser Gelegenheit auch von ihr angewandte bekannte und beliebte Redensart »von über das Ziel hinausschießen«.

P. Bertholt kennt aber auch die Geschichteder Frauenbewegung nicht, sonst müßte sie wissen, daß in England, Nordamerika, Skandinavien u.s.w. ..., überall, wo die Frauen zielbewußt, energisch – und erfolgreich für die Befreiung ihres Geschlechtes, und also auch für uns deutsche Frauen vorbildlichgewirkt haben, auf die Forderung des aktiven und passiven Wahlrechtes von Anfang andas Hauptgewicht gelegt wurde, diese Forderung sozusagen die Basis aller übrigen Forderungen bildete, in der richtigen Erkenntnis, daß die Gewährung des Stimmrechtes zugleich die Gewährung aller anderen berechtigten Forderungen der Frauen in sich schließt, während ohne ihre vollen Bürgerrechte die Frauen sich im besten Falle mit »milden Gaben«, mit kärglichen Abschlagszahlungen auf ihr gutes Menschenrecht begnügen müssen.

Und die Bestrebungen dieser ernsten, zielbewußten Frauen, der edlen, vorurteilslosen Männer, die ihnen in den ungewohnten Kämpfen die Wege wiesen und zur Seite standen, nennt P. Berthold »sportartige Übertreibungen«, will sie auf »Eitelkeit und verwandte Motive« zurückführen. Eine so gehässig-feindselige Auffassung würde bei einem ausgesprochenen Gegner begreiflich sein – obgleich auch der curagierteste Gegner der Frauenbefreiung mit Recht Anstand nehmen würde, die unsterblichen Verdienste eines John Stuart Mill für – Eitelkeitssport zu erklären. Von einer Frau, die Sympathiefür die Bestrebungen ihres Geschlechteszur Schau trägt, ist dieser Ausdruck einfach unverzeihlich.

Die Forderungdes Stimmrechtes bedeutet übrigens noch lange nicht dessen Gewährung– diese Erwägung dürfte selbst die ängstlichsten Gemüter beruhigen. Der Umstand aber, daß der Kampf um dieses Recht überall der langwierigste und hartnäckigste ist, daß er nur erst in wenigen Fällen zum Siege geführt hat, spricht sicher nicht gegen, sondern für diese Forderung, denn er ist der beste Beweis, daß die Gegner derselben ihre eminente Tragweite ebenso gut kennen, wie die Frauen selbst – er spricht ferner dafür, daß es im Hinblick darauf auch für die deutsche Frauenbewegung die höchste Zeit ist, diese Forderung in ihr Programm aufzunehmen und den unausbleiblichen Kampf, der sich auch im Lande der Dichter und Denker nicht rascher vollziehen wird, wie anderswo, wenigstens zu eröffnen .

Nicht sowohl mangelnde Einsicht, als vielmehr eine übertriebene, stellenweise recht unvorsichtige – Vorsicht hat so manche Vertreterinnen der deutschen Frauenbewegung bisher zurückgehalten, sich offen zu den letzten, natürlich auch von ihnen längst gezogenen Konsequenzen derselben zu bekennen – wie mir scheinen will, nicht eben zum Vorteilder Bewegung, die dadurch lange Zeit nicht recht ernst genommen wurde und – unverdienterweise – in den Ruf eines »seichten Rieselwässerchens« gekommen ist. Mit Recht aber konnten kluge, einsichtige und ehrliche Freunde unserer Sache den Vorwurf der Halbheit und Inkonsequenzgegen uns erheben – die Einsicht und Ehrlichkeit derer, die unsere diesbezügliche »weise Mäßigung« priesen, ist höchst zweifelhaft –, während bei der großen, urteilslosen Menge nur zu häufig ganz verworrene und verwässerte Begriffe über die Frauenbestrebungen entstehen mußten.

Selbstverständlich zieht auch P. Berthold die soziale und politische Unreife , die sie auf das geringe Durchschnittsmaß der Frauenbildung zurückführt, als Hauptargument gegen das passive und aktive Wahlrecht an. Dies ist ebenfalls weder neu noch originell. – Neu und originell – und unerhört ist dagegen die Forderung, die sie gegen den leicht vorauszusehenden Einwand: daß ja das männliche Geschlecht diese »Reife« ebenfalls noch nicht durchgängig besitze – aufstellt: » Wir wollen uns auch im Wahlkampf nur mit den Besten des Volkes messen! « Nein, geehrte Frau, das wollen wir nicht! Dies wäre ebenso ungerecht gegen unser eigenes Geschlecht, wie thöricht anmaßend gegen das männliche. Das wäre die verhängnisvollste »Übertreibung«, und eine geradezu unglaubliche »Überschätzung unserer Leistungen« und Fähigkeiten. Mit den Besten werden sich immer nur – die Besten messen können. Übrigens handelt es sich in dieser Frage um ganz andere Dinge als um ein von falschem Ehrgeiz diktiertes »Sichmessenwollen«. – Wie, wir lachen über die Faseleien engherzig-beschränkter Weisheitserbpächter, die uns das Recht akademischer Bildungsfreiheit nicht zugestehen wollen, weil »Frauen bisher nur in seltenen Ausnahmsfällen (einige sagen sogar: nie) das Höchste in der Wissenschaft (die man ihnen geflissentlich vorenthielt!) erreichen konnten,« – und wir selber sollten einen solchen ganz unmöglichen Maßstab an unser Geschlecht anlegen? Wann glaubt wohl Fr. Berthold, daß der Durchschnitt der armen Evastöchter diesen erhabenen Standpunkt erreichen, also nach ihrer Ansicht zur »Reife« gelangen können, und auf welche Weise?

Mir fällt hier ein originelles Geschichtchen ein, welches mir kürzlich in einer größeren mitteldeutschen Industriestadt erzählt wurde: Der Vorstand eines gemeinnützigen Frauenvereins hatte im Interesse der materiell, intellektuell und sittlich sehr tief stellenden, zumeist aus Fabrikproletariat bestehenden Bevölkerung die Errichtung von Kinderhorten beschlossen, und suchte zur Beschaffung der nötigen Mittel in den sogenannten besseren Kreisen für diese Idee Propaganda zu machen. Doch blieben die Bemühungen ziemlich erfolglos, da man den wackeren Frauen von verschiedenen Seiten entgegenhielt: man sei in B. für derlei neue Einrichtungen noch nicht reif. Sehr treffend bemerkte hierzu eine der so schnöde Abgewiesenen: »Wie, sind etwa die armen Proletarierkinder noch nicht vernachlässigt, noch nicht verwahrlost genug? Müssen sie noch immer mehr verwahrlosen, ehe sie für Kinderhorte reif werden?«

So möchte man auch unwillkürlich fragen: »Wie, geht es den Frauen, besonders der ungeheueren Masse des Arbeiterinnenproletariats noch nicht schlecht genug? Müssen sie noch weiter in materieller und geistiger Hörigkeit, in unwürdiger Geschlechtssklaverei verkümmern, noch weiter um ihre natürlichsten Menschenrecht verkürzt werden, ehe man sie für das Recht der Selbstbestimmung reif erklärt?«

Wie die Frauen in ihrer gegenwärtigen sozialen und gesetzlichen Abhängigkeit zu dem »gleichen geistigen Entwickelungs- und Bildungsgang wie der Mann« gelangen sollen, den sie für die unerläßliche Grundbedingung der politischen Reife unseres Geschlechtes, des Verständnisses »der Telegramme ohneLeitartikel«, »aller finanziellen, verkehrstechnischen, industriellen, wissenschaftlichen Fragen und Unternehmungen« erklärt, zu diesem Bildungsgang, der uns ja eben kraft der ausschließlichen Machtvollkommenheit des Mannes in Staat und Gemeinde verwehrtwird – das sagt Frau Berthold nicht. Sie spricht sich auch darüber nicht aus, welchen »Mann« und welchen »geistigen Entwicklungsgang« sie hierbei eigentlich im Auge hat. Doch dürfen wir wohl annehmen, daß sie den sog. höheren, den akademischen Bildungsgang meint, denn bekanntlich besteht zwischen dem Bildungsgang des einfachen Arbeiters und dem der Arbeiterin – in beiden Fällen die Bezirksschule – kaum ein nennenswerter Unterschied, während der Unterschied zwischen Bezirksschule und Universität, ebenso wie zwischen höherer Töchterschul- und Universitätsbildung ein ganz enormer ist.

So wünschenswert es nun aber auch sein mag, daß dieser Unterschied sich mehr und mehr ausgleichen, die tiefe Kluft sich wenigstens in Bezug auf die begabten Männer und Frauen überbrücken möge, daß vor allen Dingen dem weiblichen Geschlechte die Pforten der Hochschulen geöffnet, und die Ausübung aller wissenschaftlichen Berufe bedingungslos freigegeben werde, so ist wohl kaum daran zu denken, daß sich dies jemals in vollem Umfang verwirklichen wird, ehe nicht die Frauen selber ein Wörtchen in der Sache mitzureden haben. Außerdem aber und dies scheint mir der Kernpunkt der ganzen Frage – ist es überhaupt ein schwerer und verhängnisvoller Irrtum, anzunehmen, daß durch die akademische Bildung etwa schon die soziale und politische Reife erworben werden könne. Man wäre angesichts so mancher Parlamentsverhandlungen, die ja glücklicherweise auch wir Frauen verstehen können – sogar ohne Leitartikel-Kommentar! – beinahe versucht, das Gegenteil anzunehmen, nämlich, daß die erstere die letztere unter Umständen beeinträchtigt . Die sozial, politisch und parlamentarisch bestgeschulte, also die reifstePartei ist heute ohne Frage – mag man nun ihren Standpunkt ganz bedingt oder gar nicht teilen – die Arbeiterpartei. Sehr richtig sagte daher der Herausgeber dieses Blattes in seinem Artikel »Universitätsausdehnung in Berlin«: »Zur Bildung des politischen und sozialen Urteils gehören doch nicht Physik und Chemie und Geologie, sondern in erster Linie der Einblick in die kulturellen Voraussetzungen und Tendenzen der Gegenwart«, und an anderer Stelle: »Unseres Erachtens hätten heute die Arbeiter ein viel tieferes Recht, eine soziale Hochschule für Professoren zu gründen, um diesen hochachtbaren, aber durch soziale und politische Klassenvorurteile dichtverschleierten Gelehrten einen Einblick in die wirklichen Seelenzustände und Lebensverhältnisse des modernen Arbeiters zu geben, damit das Stimmrecht und die politische Bethätigung der Universitätsprofessoren ›nicht zu ganz schwankenden und unberechenbaren Zuständen fuhren soll‹.«

Wie aber haben sich die Arbeiter ihre soziale und politische Reife für das aktive und passive Wahlrecht erworben? Einzig und allein durch das Wahlrecht . Es giebt auch für uns Frauen keinen anderen Weg. Je eherwir ihn betreten, desto eher werden wir auch die Schwierigkeiten und Unzuträglichkeiten überwinden, die sich im Gefolge jeder neuen Einrichtung, jeden Fortschritts anfangs einzustellen pflegen, die natürlich auch bei einer so fundamentalen Umgestaltung des sozialen Lebens, wie sie das wirklich allgemeineWahlrecht mit sich bringen muß, unausbleiblich sind.

Die Bedenken unserer vorsichtigen Freunde in dieser Hinsicht scheinen mir jedoch übertrieben. So glaube ich, entgegen der Ansicht P. Bertholds, daß es heute schon im deutschen Reich eine beträchtliche Anzahl Frauen giebt, die auch über andere Dinge, als »die wenigen Paragraphen des Ehe- und Familienrechtes« nicht nur »mitsprechen«, sondern – wie beispielsweise in wirtschaftlichen und in sittlichen , vor allem aber in allen die Angelegenheiten und Bedürfnisse ihres eigenen Geschlechtes betreffenden Fragen – sogar ein sachgemäßeres und kompetenteres Urteil besitzen, als der Durchschnitt unserer Abgeordneten. Zugegeben, daß in reinpolitischerBeziehung durch das Stimmrecht der Frauen vorläufigkeine große »Veränderung im Wahlbilde« eintreten, daß die Mehrheit der deutschen Staatsbürgerinnen »im Sinne der Männer ihres Kreises« stimmen würde. Das wäre aber eben auch nur ein unvermeidliches Durchgangsstadium: »Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken« – die Frauen würden sich im Bewußtsein ihrer Verantwortlichkeit aus ihrer anerzogenen Unselbständigkeit und Urteilslosigkeit sehr bald zu selbständigem Denken und Urteil erheben. Andere Veränderungen, sozialer und ethischer Natur, würden sich aber wohl sofortbemerkbar machen, eine Veränderung vor allem von ganz außerordentlicher, symptomatischer Bedeutung: Zugleich mit der ersten Frau, die als ernste Mitarbeiterin ernster Männer in die Hallen des Parlamentes einzöge, würden die frivolen Scherze, die würdelose »obligate Heiterkeit«, die sich bis jetzt immer einzustellen pflegten, wenn über Wohl und Wehe der Mütter der Nation entschieden wurde, aus diesen Hallen verschwinden, und dem Ernst, der Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit Platz machen, welche die wichtigsten Lebensfragen der größeren Hälfte des Volkes erfordern. Und so würden denn durchdas Wahlrecht der Frauen nicht allein diese selbst, sondern auch die Männer immer reifer fürdas Wahlrecht werden.


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