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Der geistige Grundriß

Aus einem Vortrag »Über Fürsorge der gefährdeten weiblichen Jugend« in der Zentrale für private Fürsorge Frankfurt a.M. 1906

... Ich denke mir unweit einer mittelgroßen Stadt und leicht erreichbar zwei kleine Häuser mit einem Belegraum von 10-15 Betten.

In das eine Haus finden Aufnahme nicht mehr ganz jugendliche Personen, junge Prostituierte, Mädchen, die ihrer Entbindung entgegensehen, oder die vielleicht im Gefängnis entbunden haben – natürlich mit ihren Kindern. Im anderen Hause befinden sich jugendliche Gefährdete, kindliche, moralisch minderwertige Personen, in deren Leben noch alles unentschieden ist, die aber einen ausgesprochenen Hang für das zeigen, was man »moral insanity« nennt. Die Leitung des ersten Hauses in der Hand einer Ärztin oder geschulten Pflegerin und einer wirtschaftlich tüchtigen Hausbeamtin, das Haus der Jugendlichen an erster Stelle von einer weiblichen pädagogischen Kraft geleitet und durch Unterricht, hauswirtschaftliche Tätigkeit und Freiluftübungen unterstützt.

Beide Häuser einfach, aber ausgesprochen wohnlich und freundlich eingerichtet, so daß den Bewohnern das Gefühl eines strafweisen Aufenthaltes nicht kommen kann, ebenso wie die Kleidung einfach, aber nicht absichtlich garstig und entstellend sein soll.

Der ganze Haushalt sei auf halb ländlichem, halb städtischem kleinbürgerlichem Zuschnitt eingerichtet ...

... Kein Zögling wäre mit Gewalt in der Anstalt zurückzuhalten. Körperliche Züchtigungen wären auszuschließen.

Das Lesen von Büchern und Tageszeitungen soll in den Freistunden unterstützt werden. Die Leiterinnen der Anstalt hätten Arbeit und Muße mit ihren Hausgenossinnen zu teilen und sich eines freundlichen Tones zu bedienen, der jede herrische Selbstüberhebung und Verachtung der Moralkranken ausschließt.

Der Gesundheitszustand der Hausgenossen wäre sehr genau zu beobachten und in allen Einzelheiten zu kontrollieren und zu behandeln – selbstredend nur durch weibliches Pflegepersonal.

Der Einfluß des Vorhandenseins kleiner Kinder im Hause ist in seiner erziehlichen Wirkung auf junge weibliche Personen sehr hoch anzuschlagen. Was ich Ihnen heute sagen kann, sind nur Andeutungen, die Ihnen nicht genügen werden zu einem Bilde der Schulung und Genesung durch ein Leben, das in allen Stücken einen wohltuenden Kontrast zu dem bieten soll, was die Gefährdeten in Gefahr und zu Fall gebracht hat.

Ruhe, Arbeit, Belehrung und Unterhaltung in gemessenem Wechsel werden den Hang zu sittlicher Verwilderung leichter eindämmen, als Härte, unnachsichtliche Strenge, Langeweile, Heuchelei und jeglicher Mangel an ästhetischem Behagen ...

... Nicht, wie es vielfach der Fall ist, Männer sollen die Fürsorgetätigkeit für Gefährdete übernehmen, sondern Frauen müssen sich bemühen, an leitender Stelle mit klarem Verstande und ungetrübten Sinnen in ein Gebiet einzudringen, das, wenn irgend eines, des differenzierten, weiblichen Empfindens bedarf, um mit Erfolg bearbeitet zu werden. Unter den Frauen sollen es nicht jene sein, die klösterlich und weltfremd, in religiös asketischer Weltauffassung, selten ohne ein Körnchen Hochmut, zu den »Gefallenen« blicken.

Die Fürsorgetätigkeit für Moralkranke soll von Frauen geleitet werden, die im vollen lebendigen Leben stehen oder es doch kennen, und die ihre Erfahrungen aus der Wirklichkeit geschöpft haben. Es sollen Frauensein, wenn auch nicht ausschließlich, so doch vorwiegend verheiratete Frauen, die in Dingen des Geschlechtslebens wissend sind und darum weder in Strenge noch in Nachsicht ohne Maß sind, wie es ja bei der Einäugigkeit der Unverheirateten beim besten Willen leicht geschehen kann. Ich glaube, daß ich heute nicht mehr sagen kann noch darf.

Nur die Bitte möchte ich noch an Sie richten: gedenken Sie und durchdenken Sie die Notwendigkeit der Verbesserung der Fürsorge der weiblichen Jugend. Es kann sich die erfreuliche Möglichkeit daraus ergeben, daß ein nächster Kursus für Jugendfürsorge schon die Besichtigung einer von modernem Geiste und werktätiger Menschenliebe durchdrungenen Heilstätte für Moralkranke bringt.


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