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Weh' dem, dessen Gewissen schläft!

(1916)

Die lebenserhaltende Wirkung der heiligen, sozialen jüdischen Religionsgesetze ist so in Hirn und Blut der gesamten Judenschaft übergegangen, daß der soziale Sinn der Juden als der erweiterte »Familiensinn der Juden«, sowie dieser als eine Stammeseigentümlichkeit bezeichnet werden kann.

Die Enge des altjüdischen Gemeinschaftslebens in Deutschland (vor der Emanzipation und Freizügigkeit) gestattete jedem einzelnen Manne mit viel größerer Leichtigkeit als heute die Erfüllung aller Gebote, nicht nur, soweit sie sich auf die Ritualvorschriften beziehen, sondern auch, soweit es auf das Zusammenleben bezügliche Gebote sind. Das wirkte natürlich bestimmend auf die Form des Gemeindelebens und das, was man heute in entwickelten Verhältnissen dessen soziale Aufgabe nennt. Für die jüdische Frau war die Teilnahme an diesen Aufgaben religiös, also auch praktisch karg bemessen, ein Verhältnis, das sich innerhalb des Gemeindelebens durch die den Frauen anerzogene Teilnahmslosigkeit für jüdische Interessen heute noch in ihrer Interessenlosigkeit an der jüdischen Gesamtheit bitter rächt.

Um aber in jenen Ghettozeiten den Erfordernissen der Gemeinde zu genügen, bedurfte es nicht wie heute spezieller Erfahrungen und Kenntnisse. Die Grundlage für die Beherrschung der Erfordernisse des Khillelebens und Wegweiser für alle Vorkommnisse bildete die Kenntnis der religiösen Vorschriften. – Als Tradition war sie Gemeingut aller und durch das weitverbreitete und sehr geachtete Studium des jüdischen Schrifttums blieb sie in allen Teilen frisch und lebendig.

Ihrem Geiste nach bildet die jüdische Gesetzgebung eine wertvolle breite Basis für jedes Gemeinschaftsleben. Die Anforderungen, die an die moderne soziale Gesetzgebung gestellt werden und dort oft als geistiges Neuland gelten, sind in den wichtigsten Teilen mit altjüdischen Gesetzen identisch; dort, wo sie religiös betrachtet als christlich angesprochen werden, sind sie nachweislich jüdisch (Sonntagsruhe, Mutterschutz, Familienpflege, Fleischbeschau usw.). In dem alten jüdischen Gemeindeleben mit der unumstößlichen, religiösen Auffassung, nach der Gebot und Guttat eins sind, konnte sich eine soziale Betätigung nur nach den Normen der religiösen Vorschriften entwickeln.

Die Wechselwirkung zwischen religiösen und sozialen Motiven des Handels, in dem Objekt und Subjekt des Wohltuns ihre Stellung auch vertauschen können, läßt es unter Umständen vom jüdischen Standpunkt weniger wichtig sein, welchen praktischen sozialen Erfolg eine gebotene Wohltat – Mizwah – hat, wenn sie nur die Erfüllung des Gebotes ist. Damit wird ein großes Stück Verantwortlichkeit für die oft in den Zeitläuften sich verändernden Folgen einer Handlung – natürlich zum Nachteil der Gesamtheit – abgeschnitten oder ausgeschaltet. In der Enge des Khillelebens gab es aber in sozialer Beziehung jahrhundertelang keine sich verändernden Zeit- oder Tagesforderungen. In dem Khillerahmen genügten der religiös angespornte gute Wille, gutes Herz und gutes Geld für die Erfüllung der sozialen Pflichten.

Mit diesen drei Energien konnte unendlich viel geschehen und ist auch unendlich viel getan worden.

Kälte und Hunger, Geburt und Tod, Krankheit und Verarmung stellten in der Ghettozeit der Hilfsbereitschaft durch die einfachen, durchsichtigen Verhältnisse, in denen sich das Leben abspielte, einfache Aufgaben. Die Lage der Bedürftigen, der schmerzlich Betroffenen selbst gab gleich die Richtung, nach der die Hilfe gebracht werden konnte. Alles lag menschlich zugänglicher; es gab keine »Fälle«.

Im historischen Fortgang bedeutete aber auch neben den persönlichen und Einzelleistungen das Entstehen von Stiftungen und die Gründung von Vereinen keine Erneuerung der Fürsorgetechnik oder gar eine Einordnung derselben in notwendig werdende neue allgemeine Normen.

Die erste und einzige sachgemäße Abspaltung, die sich in der jüdischen Arbeit entwickelte, war, daß die Geldangelegenheiten der Vereine und Stiftungen meist Männern übertragen wurden, denen sie durch ihren Beruf oder durch persönliche Uebung technisch geläufig waren und die auch das nötige Vertrauen für dieses Amt genossen. Anderes Verständnis wurde selten verlangt.

Das erklärt den dominierenden Einfluß von Bankleuten und Advokaten in Stiftungen und Vereinen neben den sonst nur in erster Linie religiös bestrebten wohlmeinenden Stiftern, Gönnern und Pflegern auf dem Gebiete der Wohltätigkeit.

Daß eine religiöse Wohltat eine soziale Missetat werden kann, wenn man gewisse Versteinerungen und Willkürlichkeiten, die sich gebildet haben und die das Licht des Geistes, der die Guttat verlangt, verdunkeln, wenn man sie nicht aus dem Wege räumt, ist vielen Wohlmeinenden bis heute noch nicht ausreichend zum Bewußtsein gekommen.

Das erklärt innerhalb des jüdischen Gemeinschaftslebens an manchen Stellen das Vorhandensein großer Opfer, das heißt Geldgeberbereitschaft, und zugleich die gutherzige, kurzsichtige Regellosigkeit und Undiszipliniertheit, an denen der größte Teil der modernen jüdisch-sozialen Arbeit leidet.

Hier ist das deutsche jüdische Gemeindeleben an einem deutlich erkennbaren Punkte stehen geblieben: dort, wo für die Majorität der deutschen Juden der religiöse Gedanke nicht mehr stark genug ist, Bekenntniswille und Lebenswille zugleich zu sein.

Die Uebertragung der Guttat (als Zwillingsgedanke des religiösen Gebotes der Mizwah) auf das Gleis der disziplinierten sozialen Handlung, dieser Weg, der in eine große, schöne, belebte jüdische Welt hinausführen könnte, ist von den deutschen Juden nicht rechtzeitig erkannt und verfolgt worden.

Der große, fortreißende Zug sozialpolitischer Entwicklung, der sich in den deutschen politischen Kommunen aufbauend bemerkbar macht, hat das jüdische Gemeinde- und Vereinsleben nicht erfaßt. Zwar sind Juden und besonders Jüdinnen an allen Aeußerungen dieser Zeitbestrebungen lebhaft beteiligt; aber diese Beteiligung bedeutet für das jüdische Gemeinschaftsleben mehr einen Abfluß und Verlust an Kräften. An verhältnismäßig nur wenigen Stellen jüdischen Gemeinde- und Vereinslebens zeigen sich der Wunsch und das Verständnis, die Erkenntnisse und Methoden der sogenannten unkonfessionellen oder interkonfessionellen sozialen Arbeit auch zur Erhaltung und zur Stärkung des jüdischen Gemeinschaftsgedankens anzuwenden.

Hier liegt der Keim der Schwäche, des Rückganges, vielleicht auch einer bevorstehenden Auflösung des Judentums, wobei natürlich nicht mit Jahrzehnten, aber doch, wenn keine Besinnung eintritt, mit wenigen Menschenaltern zu rechnen sein wird.

Das Versickern der jüdischen Volkskraft wird aber noch durch einen anderen Umstand im höchsten Grade gefördert und beschleunigt. Die furchtbare Zerrissenheit in der Judenschaft selbst, der Ellbogenkampf, der vom Agudah-Mitglied bis zum Reformjuden in Sonntagstempeln, in Gemeinden, Vereinen und Verbänden um Wert, Bedeutung, Herrschaft und Vorherrschaft geführt wird, macht die Judenschaft innerlich verbluten. Das Fehlen von Solidarität und edlem Selbstbewußtsein in Momenten, wo nur die höchste Anspannung von Gemeinschaftsgefühl, Lebenswillen und Abwehrkraft den Feinden gegenüber gibt, schwächt die Judenheit nach außen und läßt einen weisen Nathan herbeisehnen, der uns über unseren Wert und unsere Würde als Träger unserer ethischen Mission unter den Völkern neu belehrte, und vor allem auch einen Ring wünschen, der vor Gott und Menschen angenehm machte.

Wenn wir nicht auf »einen interessanten Rest einer einst ethisch, intellektuell und wirtschaftlich bedeutsamen Religionsgemeinschaft« zusammenschmelzen wollen, dann müssen wir uns aufraffen, uns prinzipiell und organisatorisch einen neuen festen Zusammenschluß zu sichern. Dieser wäre auf die tragkräftige sozialeSeite der jüdischen Gesetzgebung aufzubauen. Individuelles, Trennendes ist bewußt zu übergehen, das Gemeinsame um so besser herauszuarbeiten, ein Programm aufzustellen, in dem jeder Jude und jede Jüdin, auch wenn sie von ihrer Zugehörigkeit zum Judentum wenig mehr als ihre Abstammung kennen, ein interessantes, wichtiges, sympathisches Arbeitsfeld finden kann.

Als eines der wichtigsten, geistigen Kettenglieder für den Zusammenschluß der Judenschaft ist die Mitarbeit der Frau an allen verantwortlichen Stellendes jüdischen Gemeinschaftslebens zu nennen. Von ihrem Verständnis, von ihrem Willen und ihrer Treue hängt der Geist ab, der im Hause und in der Gemeinde herrscht; sie kann dem sozialen Leben Harmonie und gute Gesinnung geben, ebenso wie sie auch Mißton und Charakterlosigkeit verbreiten kann, wenn sie planlos, ihren nächsten Interessen entzogen, dahingeht.

Der praktischen Arbeit bietet ein solcher Zusammenschlußals ein Verband für jüdisch-soziale Arbeit ein unendlich umfassendes Programm, von dem hier nur die hervorragendsten Punkte anzudeuten sind. Da gilt es vor allem, sich in der jüdischen Wohlfahrtspflege auf die wirksamste Handhabung der Armenpflege nach bestimmten allgemeinen Normen zu vereinen in einer Zentralisation des Armenwesensunter praktischer und finanzieller Mitwirkung der Gemeinden.

Um deren Wirksamkeit zu erhöhen, ist die Einbeziehung der Vereine, Anstalten und Stiftungenals ein Fürsorgerat des Armenwesens besonders für die großen und mittleren Gemeinden nötig.

Um die Anstalten, Krankenhäuser usw. untereinander zu verbinden, ebenso aus Gründen der Ersparnis und der Sicherstellung für den Verbrauch (für Webwaren, Lebensmittel, Milch, Fett, Fisch, Kartoffeln, Kohlen, Seife usw.) empfiehlt sich die Gründung einer großen Konsum- und Einkaufsgenossenschaft der jüdischen gemeinnützigen Anstalten: wo es irgend angeht, wäre landwirtschaftlicher Betrieb (Lehr- und Arbeitsgelegenheit) einzuführen.

Bekämpfung der fahrlässigen Wohltätigkeitund Gewährung von Unterstützungen nach volkserzieherischen Grundsätzen .

Bekämpfung des Wanderbettels und des Hausierhandelsunter den Juden, besonders bei Frauen und Jugendlichen.

Förderung von Berufsberatung und Arbeitsnachweisenfür männliche und weibliche Lehrlinge, höhere Berufe, männliche und weibliche Arbeitssuchende.

Wohnungsfürsorge und Wohnungsnachweis.

Einrichtung von jüdischer Sammelvormundschaftfür alle jüdischen Gemeinden Deutschlands.

Bereitstellung von Mitteln für Erziehungsbeiträgefür jedes schutzlose und von der Familie getrennt erziehungsbedürftige jüdische Kind, ehelich oder unehelich.

Förderung aller Unternehmungen der jüdischen Jugendpflege .

Bekämpfung der Tuberkuloseunter den Juden.

Einberufung von Konferenzenüber Fragen aus den Gebieten der Armenpflege, der Erziehung, der Sittlichkeitsfrage, Berufs- und Bildungsfragen, Bevölkerungsproblemusw., Preisausschreibenfür besondere Arbeiten oder für praktische Studien auf diesen Gebieten.

Förderung der Früheheund aller darauf hinzielenden Unternehmungen usw., usw.

Dies ist natürlich nur in großen Umrissen der wesentliche Inhalt des Verbandsgedankens. Organisatorisch hätte er unter Führung einer Kommission des Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes und engster Mitarbeit der großen bestehenden Organisationen alle Gemeinden dem Programme nach zusammenzufassen und vor allem dafür zu sorgen, daß an Stellen, wo zurzeit gutherziger Dilettantismus waltet, Sachkunde und Disziplin eintritt.

Tüchtige Berufsbeamte müssen dorthin berufen werden, wo es die Stetigkeit der Arbeit verlangt. Dabei kann und darf niemals und nirgends auf den Einfluß und das Mitschaffen der freiwilligen Hilfskräfte verzichtet werden, um nicht der papierenen Seele des Bureaukratismus zum Selbstzwecke zu verhelfen. Aber die freiwilligen Arbeiter müssen solche Frauen und Männer sein, die noch in engster Fühlung mit dem Leben stehen, die sich Zeit nehmen müssen und wollen, in klugem, treuem Walten eine wichtige Stelle auszufüllen, nicht Veteranen des Lebens, die noch Zeit haben.

Und für Nachwuchs in den Aemtern muß freimütig gesorgt werden, denn von der Qualität dieser Arbeit hängt die Kraft und das Gedeihen und damit die Zukunft des deutschen Judentums ab.

Weh' dem, dessen Gewissen schläft!


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