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»Es giebt keine Kinder mehr«

Von P. Berthold

(1897)

Unserer Zeit wird viel Schlimmes nachgesagt; mit zu dem Schlimmsten gehört wohl der oft wiederholte Ausspruch: »Es giebt keine Kinder mehr«. Dieses Verdikt wird jedoch meist mit solchem Gleichmut gesprochen, daß deutlich aus demselben hervorgeht, wie der Abbruch an Glück, Wonne und einfacher Daseinsfreude, den es im Menschenleben bedeutet, gar nicht mehr empfunden wird.

Wer soll sorglos, heiter ohne Fragen und Grübeln sich des Lebens freuen wenn nicht die Kinder, bevor sie in die Reihen der Kämpfenden treten müssen? Zum Glück giebt es eine Zeit, in der das Häßliche, das Abschreckende, das niederschmetternd Schlechte, das nicht aus der Welt geleugnet werden kann, den Erdenbürgern noch wie durch eine sonnenbeschienene Wolkenschicht entrückt ist. Es giebt eine Zeit, in der keine absichtlich errichtete Scheidewand die Weite des Blickes einnimmt, sondern in göttlich engem Gesichtskreis alles in rosiges Licht getaucht ist. Die Kindheit ist diese Zeit, in der alle Menschen unbekümmert gleich glücklich sein können, weil Wunsch und Befriedigung und Genüsse für alle (? d. Red.) gleich erreichbar sind. Diese schönste Zeit menschlichen Daseins mit ihrem charakteristischen Inhalte von Glückseligkeit sollte für so Viele aufhören müssen? Freilich, wenn man heute von so vielen kleinen, jungen Menschen Äußerungen und Antworten hört, so umfassend altklug und so traurig gescheit, da muß man auf die Idee kommen, daß sich das Kinderparadies immer mehr verschließt und mit berechtigter Angst darf man deshalb die Frage stellen, wo ist die Erklärung – nein, wo ist die Schuld für diese Erscheinung zu suchen? Das Menschengeschlecht in seiner Entwickelung ist Veränderungen unterworfen, die heute hauptsächlich in einem überhastenden Vorwärtsdrängen Ursache und Ausdruck finden. Durch die nach jeder Richtung hin größer gewordenen und noch immer größer werdenden Ansprüche, die das Kulturleben der Menschen an die Kräfte und Fähigkeiten des Einzelnen stellt, muß die Entwickelung zum modernen Menschen schon in frühester Jugend beginnen.

Vererbung erworbener Fähigkeiten und die notwendige Anpassung an den Sturmschritt der Zeit bedingen es zweifellos, daß der Mensch heute die Kinderschuhe früher auszieht, um sie, wenn er irgend kann, mit Siebenmeilenstiefeln zu vertauschen.

Wenn man also in den hartbedrängten Arbeiterklassen, in den Familien der Handwerker und Kleingewerbetreibenden, wo oft Not und Mangel dem Dasein den Stempel aufdrückt, wenn man dort zuerst und häufig die Beobachtung machen konnte, daß es keine Kinder mehr giebt, wenn dort das im zartesten Alter stehende Geschlecht schon durchschnittlich alt und altklug mit überlegter Resignation in's Leben schaute, dann könnte man zur Begründung dieser Erscheinung von einem allgemeinen, unabänderlichen Zuge der Zeit sprechen, gegen den sich aufzulehnen wenig ersprießlich wäre.

Es ist sicher, daß man in jenen bedrücktesten Gesellschaftsschichten oft Kindern begegnet, die physisch und moralisch in Schmutz und Elend geboren sind, deren ganze Erscheinung infolgedessen wenig Kindliches mehr aufweist und deren Ausdruck und Wesen schon auf den ersten Blick verrät, daß sie in der kurzen Zeit ihres Daseins schon zu viel von den Nachtseiten des Lebens gesehen haben, als daß sie harmlos, froh und fröhlich hätten bleiben können.

Aber neben diesem geringen und dennoch traurig großen Prozentsatz von verkümmerten Kinderexistenzen begegnet man gerade in der kinderreichen Arbeiterklasse meist Kindern, die, wenn sie gesund und satt sind auch wirklich fröhliche, glückliche, unbefangene, meist ungezogene aber dafür auch unverzogene Kinder sind. Das Hauptmerkmal ihrer Kindlichkeit und ihres Glückes ist, daß sie spielen. Sie verstehen mit allem zu spielen: mit Schnee und Regen und Wind, mit Papierfetzen, Garnrollen, Orangenschalen, mit den undenklichsten Dingen spielen sie und singen und pfeifen fidel ihre Gassenhauer dazu. Diese Kinder springen und tanzen auf zerrissenen Sohlen, sie klettern und schlüpfen in ungebändigtem Neugiersdrang dahin, wo sie das größte Unheil anstellen können; sie balgen sich und schimpfen so naturalistisch wie nur möglich – aber, wenn man so einem Kerlchen einen Apfel schenkt, dann lacht er über sein ganzes verschmiertes Gesichtchen und beißt auch flugs hinein. Ja, der kleine Gassenbub freut sich an einem Apfel, weil er immer eßbereit ist, weil er selten einen Apfel bekommt und weil er ein Kind ist, das sich unbefangen einem Genuß, einer Freude hingiebt. –

Für die armen Kinder der reichen Leute giebt es so einfache Freuden nicht mehr. Es gehört zu den Privilegien der privilegierten Klassen, daß sie mit Recht sagen dürfen: es giebt keine Kinder mehr. Daß es aber dort keine Kinder mehr giebt, liegt nicht daran, daß der Zug der raschlebigen Zeit die Kleinen daran hinderte sich in Glück und Harmlosigkeit auszuleben, sondern daran, daß man die Kinder der sogenannten besseren Gesellschaftsklassen systematisch ihrer Kindlichkeit, ihrer Unbefangenheit beraubt.

In Sammtkleidchen, Glacéhandschuhen und gelben Stiefelchen wandeln die kleinen, bleichwangigen Greise ehrsam durch die Anlagen und Promenaden der Städte und wissen nicht, daß sie betrüblich unangenehm sein müssen weil sie nicht natürlich artig oder auch unartig sein dürfen. Seitdem Pestalozzi und Fröbel behauptet haben, das Kind sei wie eine Pflanze, die beständig gehütet, gepflegt, beobachtet werden müsse, wird an der jungen Menschenpflanze von ihrem ersten Atemzuge an gegärtnert.

Nun giebt es zwar auch Wald-Wiesenblumen, die gerade wenn man sie ihrem Erdreich und der Natur überläßt, am lieblichsten gedeihen, aber diese fallen außerhalb des Bereiches der gärtnerischen Betrachtungen. Es giebt auch Topf- und Ziergewächse, die einer besonderen Pflege bedürfen; aber in beiden Fällen hat man es mit lediglich vegetierenden Organismen zu thun. Da, wo der Fröbelsche Vergleich zu hinken anfängt, da wo das Kind nicht Pflanze ist, sondern seinem Gärtner gleich ein denkender, beobachtender Mensch, da beginnt auch die Fröbelsche Methode große Nachteile zu haben. Die Pflanze nimmt ganz unbewußt des Gärtners Sorge und Mühe hin und wenn Sonnenschein und Regen zur rechten Zeit kommen, dann entwickeln sich die Blätter und Blüten, gleichviel ob der Gärtner den Forschritt, den die Pflanze macht, in irgend einer Weise ignoriert oder konstatiert.

Die modernen Mütter mit ihren Beraterinnen, den Kindergärtnerinnen, begnügen sich nicht damit, still und stillfreudig die Fortschritte eines Kindes zu beobachten. Sie konstatieren alle Beobachtungen laut, sprechen in Gegenwart des Kindes von ihm und über das Kind. In einem Atem rügen und belachen sie seine Unarten und erzählen sie weiter, – kurz, statt das Kind ruhig seiner Eigenart entgegen leben zu lassen, beeinflußt man beständig sein sich entwickelndes Bewußtsein, indem man es auf sich selbst aufmerksam macht. Keine Fähigkeit, keine Regung kann in dem Kinde erwachen und sich erschließen, ohne daß lärmend darauf hingewiesen würde und damit wird das Köstlichste in der Kinderseele, die Unbefangenheit, im Keime getötet. Auch wenn Kinder nicht so gescheidt sind, wie die Mütter fast ausnahmslos glauben, merken sie bald, daß und in welcher Weise man sich mit ihnen beschäftigt und lernen auch sehr rasch eine günstige Situation nach ihrem Behagen ausnützen.

Ein Kind soll natürlich physisch und moralisch behütet und bewacht werden, es soll aber nie merken, daß es beobachtet wird; es soll seine eigene Person nie als Mittelpunkt eines Kreises, als Wichtigkeit fühlen. Aber wie früh erfahren die modernen Babies, daß sie wichtig sind! Schlaf und Erwachen, Nahrung und Verdauung, Schreien und »Liebsein« der kleinen Weltbürger bilden weit über die Kinderstube hinaus den Gesprächsstoff des Hauses. Für die Straße wird das Kind so elegant und üppig als möglich herausgeputzt, und wenn dann die eleganten Wagendecken und Spitzenhäubchen, die grellfarbigen Mäntel, die Federhüte und überlebensgroßen Matrosenkragen die Aufmerksamkeit und das Erstaunen naiver Passanten erwecken, dann denkt jede Mutter und leider nur auch zu bald jedes Kind, es sei ein Wunderwerk der Schöpfung. Das natürliche Sträuben gegen Handschuhe und ähnliche, die freie Bewegung hemmende Modequälereien gewöhnen sich die Prinzen und Prinzessinnen gar rasch ab, denn die beständig aufgestachelte Eitelkeit lehrt sie diese Dinge schätzen und mit mitleiderregender Grandezza, die nur im Affentheater erheiternd wirkt, wandeln die Bübchen und Mädchen im Banne der modernen Erziehung einher. Ja, man kann Mitleid mit den Kindern haben, die so sinnlos ihrer Freiheit beraubt werden, aber noch bedauerlicher ist es, daß diese Spitzen und Stickereien, diese Pelzchen, Kettchen und Bröschchen sich im Leben der künftigen Staatsbürger zu Wällen häufen, die schon frühzeitig die Annäherung zwischen den besitzenden und den Minderbemittelten erschweren. Die feinen Püppchen lernen »die armen Kinder« gar bald von weitem kennen, daran, daß diese im Winter blaugefrorene Hände haben und Kopftücher und Mützen über die Ohren, und im Sommer verwaschene Kattunkittelchen und keine Sonnenschirme tragen. Sie setzen sich, wie sie belehrt worden, nicht mit armen Kindern auf eine Bank, denn »Gott weiß, was man von ihnen kriegen kann«. Sie schenken ihnen herablassend mit ausgestrecktem Arm Chokolade und Bonbons, die zu alt oder nicht fein genug sind, als daß das »Fräulein« ihren Zöglingen erlaubte, sie zu essen, und weiden sich an den erstaunten, oft neidischen Blicken der kleinen Proletarier.

Jung gewohnt, alt gethan. –

Es gab Zeiten, in denen ein Spaziergang für Kinder eine Freude war. Das war damals, als das Spazierengehen noch nicht zu den täglichen, drückend langweiligen Pflichten der Kinderstube gehörte. Wie müde schleppen sich die Kinder heute durch die Anlagen und Promenaden; Springbrunnen, Fischteiche, Blumen, blühende Bäume, Hunde, Reiter, Soldaten, nichts macht mehr einen Eindruck auf sie. Teilnahmlos gleiten die braunen und blauen Kinderaugen über all das hin, woran sie täglich 1 - 2 mal vorübergezerrt werden, und die blassen Lippen der blasierten Geschöpfchen fragen nicht selten: »dürfen wir heute zuhause bleiben«? Und wenn die Kinder zuhause bleiben »dürfen«, dann giebt's im Zimmer auch keine rechte Luft, denn diese Kinder können nicht spielen. Sie können nicht spielen, weil sie zu raffiniertes Spielzeug haben, das ihrer Phantasie keinen Spielraum mehr läßt, und weil man die Unglücklichen auch niemals allein ohne Erwachsene spielen läßt.

Kein »Fräulein«, und sei es noch so kinderlieb, kann die Sprünge der kindlichen Phantasie ganz mitmachen, darum stört sie immer und meisten, wenn sie glaubt, das Kind beständig korrigieren und belehren zu müssen. Kinderspiele darf man belauschen, wenn man sich selbsteine reine Freude machen will, aber man darf nicht mit täppischer Hand in die zarten Kreise greifen. Was dem Erwachsenen komisch erscheint, ist im Kinderspiel heiliger Ernst, der durch ein unwillkürliches Lächeln schon vernichtet werden kann. Wenn Kinder merken, daß man ihr Spiel beobachtet, dann hören sie entweder auf, zu spielen oder sie spielen bewußt weiter – d.h. sie führen eine kleine Komödie auf.

Hand in Hand mit dem beständigen, aufdringlichen Belehren und Erziehen in der Kinderstube geht ein weiteres Attentat auf den harmlosen Frohsinn der Kinder, das ist die Hygiene.

Die Gesundheit ist ein Gut, das Jedermann nur dann und nur so lange recht genießt, als man sich ohne Gedanken und Befürchtung einer möglichen Störung dem Genusse hingiebt. Deshalb ist auch die gedankenlose, von keiner Krankheits-Erfahrung getrübte Zeit der Kindheit diejenige, in der man sich seiner Gesundheit am besten freuen kann. Wenn nun die liebenden Eltern und Erzieher sich damit begnügten, den Kindern gegenüber die Wissenden zu sein und stillschweigend oder nur durch ein mahnendes oder befehlendes Wort die Gesundheit der Kleinen zu hüten, dann wäre gegen die Hygienie im Kinderzimmer nichts einzuwenden. Aber auch hier Bewußtsein statt Harmlosigkeit und Unbefangenheit. Es ist tragikomisch, wie gebildet diese kleinen Leute sind. Schwindsucht, Diphteritis, Scharlach mit seinen möglichen Folgekrankheiten und nicht zuletzt Nervosität sind ihnen geläufige Begriffe, und die stets genährte Angst für das eigene teure Ich zieht einen geradezu verletzenden Egoismus groß. Daß bei Tisch die 10 und 12jährigen Herren und Damen ihre Weisheit leuchten lassen, daß sie genau wissen, was nahrhaft ist, was fett macht, daß sie über die Wirkung von Milch, Kakao, Obst u.s.w. ganz genau unterrichtet sind, wäre noch kaum zu tadeln, wenn es nicht das Bild des kleinen Hypochonders vervollständigte. Doch all das ergiebt sich als Wirkung von dem Begriff übergroßer Wichtigkeit seiner Person, die dem Kinde anerzogen wird; dadurch muß es vorzeitig alt, unkindlich und unfroh werden. Sehr bezeichnend für die Art und Weise, wie man heute Alles daran setzt, um den kleinen Lieblingen ihr schönes Reich und Erbe zu verderben und zu schmälern, ist die Art des geselligen Verkehrs unter den modernen Kindern. Visitenkarten, Einladungen und Absagungen, Bälle und Kaffeegesellschaften bilden ein Miniaturbild der großen Geselligkeit mit all ihren Auswüchsen von Eitelkeit und Verlogenheit, nur daß die Kinder, die so früh anfangen, es noch viel weiter bringen können in der modernen »Kultur«.

Wenn man nun Kinder wirklich lieb hat und sieht, wie das Beste, Teuerste auf der Welt zur Karrikatur verzerrt wird, da kann einen manchmal ein gar mächtiger Zorn anwandeln über die Urheber der zerknitterten Kindlichkeit, die verwundert, kopfschüttelnd sagen: »es giebt keine Kinder mehr«.


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