Bertha Pappenheim
Sisyphus: Gegen den Mädchenhandel
Bertha Pappenheim

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Gibt es einen Mädchenhandel?

1929

Mädchenhandel. Gibt es einen Mädchenhandel? Was bedeutet das Wort: sozial, juristisch, polizeitechnisch? Was vom Standpunkte des Frauenschutzes, was als Kennwort oft betonter sozial-ethischer Aufgaben, was den Verkündern des Menschenrechts und der gleichen Moral der Geschlechter?

Es gibt seit etwa 25 Jahren große internationale und nationale Organisationen und konfessionelle Verbände, die sich für eine Bekämpfung des Mädchenhandels zusammengeschlossen haben, Männer und Frauen, von denen nicht anzunehmen ist, daß sie sich nur aus Sentimentalität oder Wichtigtuerei eine Aufgabe konstruierten (materielle Vorteile stellt sie nicht in Aussicht).

Aber ebensolange werden Stimmen anderer laut, die die Bestrebungen der Organisationen belächeln, als einen Kampf gegen Windmühlen bezeichnen und erklären, daß es einen Mädchenhandel nicht gibt. Dieser auffällige Gegensatz findet seine Erklärung leicht darin, daß die Vertreter der beiden Meinungen aneinander vorbeireden, weil sie beide unter Mädchenhandel etwas anderes verstanden wissen wollen und dem Wort von ihrem Standpunkt aus eine Auslegung geben, die seinen Begriff nicht ganz deckt.

Wer Gründe hat und gelten läßt, die dem Alkoholgenuß Vorschub leisten, die den Opiumgenuß (mit anderen Rauschgiften) nicht ungern dulden, und die den hemmungslosen, unverantwortlichen Geschlechtsgenuß auch zu einer leicht und billig käuflichen Lebensfreude erklärt wissen wollen, – die sehen in der Prostitution von Männern und Frauen nur eine fröhliche »Lebensbejahung«. Für sie sind die Frauen nur Gegenstand der Befriedigung der Wünsche der Männer, und müssen folgerichtig Zuhälter, Kuppler(innen) und Bordellhälter(innen) Leute sein, die in der menschlichen Gesellschaft einen Beruf, eine Mission zu erfüllen haben, die man in dessen Ausübung nicht stören sollte, denen man durch ihre Bekämpfung das Leben nicht aussichtslos schwer machen dürfte!

Die Vertreter der anderen Richtung wissen wohl, daß »die Prostitution als soziales Übel nicht abzuschaffen ist« so wenig wie Diebstahl, Hehlerei, Betrug, Raub und Mord. Aber obwohl diese, das Einzel- wie das Gemeinschaftsleben bedrohenden Erscheinungen bestanden haben, soweit die Menschenkunde zurückreicht, hat man stets getrachtet, die Träger dieser Erscheinungen als Schädlinge zu kennzeichnen, zu bekämpfen, sie teilweise oder doch streckenweise unschädlich zu machen.

Wer also glaubt und weiß, daß Prostitutionsbetriebe, in welchem Rahmen und Ausmaß immer, schädlich sind, wer den Anreiz zum wilden Geschlechtsverkehr, alle Auswüchse und Perversitäten innerhalb derselben mit allen Mitteln einschränken möchte, der wird seine Wege und Machenschaften nicht »als eine internationale Befriedigung eines internationalen Bedürfnisses« mit großer Seelenruhe gelten lassen und das Wort Mädchenhandel als moralsauer dafür ablehnen. Er wird das Beitreiben, Anwerben, Verschieben, Zuschieben von Frauenkörpern gegen Entgelt, Abgaben und Vermittlungsgebühren als das bezeichnen, was es ist – einen wüsten Handel.

Diejenigen, deren Weltanschauung es gestattet, aus religiösen, sozialen, ethischen, pädagogischen und hygienischen Gründen diesen Handel all dem entgegenzusetzt zu finden, was man sonst als ideale Ziele aufzustellen pflegt, werden dessen stillschweigende Duldung als Heuchelei empfinden – sowie die Vertreter des Freihandels die gegenteilige Meinung ebenso bezeichnen! Eine nicht unwichtige umstrittene Frage in diesen Gedankengängen ist die psychologische »Freiwilligkeit« des Zuzugs der Ware, die vielleicht eine einzigartige Erscheinung in der Freiwilligkeit der jungen Fremdenlegionäre findet, die auch nicht wissen, welchem Ziel, welchem Schicksal sie sich »freiwillig« anwerben und zuführen lassen. – Diese Bemerkungen, mit denen ich die vorliegenden Briefe einleite, haben nicht den Zweck, die Materie dessen, was man Mädchenhandel nennen kann, auch nur ungefähr zu umreißen. Sie sollen nur die Wichtigkeit, sich mit ihr zu beschäftigen, feststellen und diese zugeben, auch wie nötig es ist, daß die Organisationen und Bünde sich in der Richtung ihrer Aufgabe stark bemühen und ebenso unterstützt werden. Das Gemeinsame festgelegt, was durch eine Kommission beim Völkerbund einwandfrei unterstrichen ist, ergeben sich für die Nationen und Konfessionen spezielle Gesichtspunkte; für die Juden bekommen sie dadurch eine besondere Note, daß die jüdischen Frauen und Mädchen teils durch Komplikationen (Staatenlosigkeit, schwierige Ehegesetze), teils durch feindselige Einstellung ihrer Aufenthaltsländer (Antisemitismus) in der Unterwelt des Prostitutionsverkehrs eine Art Freiwild bilden, eine Stellung, die durch die Repatriierungsgesetze für die heimatlosen und entwurzelten Geschöpfe noch schlimmer wird. Es gibt für den Juden keine Kirche, keinen Staat, die bis zum letzten die Verpflichtung haben, die jüdischen Mädchen zu schützen; sie sind immer von Auffassungen, Auslegungen, Wohl- und Übelwollen einer zufälligen Umwelt abhängig. Aber auch die Juden, die in einer Atmosphäre leben, so fern von jeder Berührung mit asozialen, verbrecherischen Elementen, daß sie an deren Existenz nicht glauben wollen, auch diese sind von der, die Welt durchschleichenden Behauptung berührt, daß der Mädchenhandel »ein jüdisches Gewerbe« sei. Auch diese Juden haben das höchste Interesse daran, zu dieser Behauptung eine sichere Stellungnahme zu finden, entweder in dem Sinne, sie als feindselig übertrieben nachzuweisen und abzuweisen, oder in dem Sinne, daß sie als Gemeinschaft ihr Desinteressement an der ganzen Angelegenheit erklären, oder daß sie die Wahrheit suchen und freimütig zugeben und abhelfen wollen, was den Einzelnen zwar schmerzlich erregen muß, woraus aber keine generelle Beleidigung gesponnen werden darf. –

Kleine, tastende Versuche, in den Ostländern ein lebendiges Interesse für die Fragen intensiven Mädchen- und Kinderschutzes zu erwecken, haben sich schon vor dem Kriege als Sysiphus-Arbeit erwiesen. Ich vertrete nun die Meinung, daß man, der neuen Zeit angepaßt, andere Wege suchen muß, den Verflechtungen »Mädchenhandel« nachzugehen.

Für uns Juden habe ich in Wort und Schrift den mir einzig gangbar scheinenden Weg vorgeschlagen und ihn begründet. Doch glaube ich, daß auch die gesamte Welt-Öffentlichkeit das stärkste Interesse daran hat, daß das Material beim Völkerbund nicht in Geheimakten verstaut bleibe, sondern daß praktische Erkenntnisse daraus geschöpft werden.

Im Oktober 1930 wird in Warschau wieder ein Internationaler Kongreß zur Bekämpfung des Mädchenhandels stattfinden, und ich hoffe, daß diese Versammlung so vorbereitet sein wird, daß sie einstimmig die Bearbeitung des Völkerbundmaterials als eine Kulturverpflichtung der Nationen und Konfessionen verlangt. –

Aus dem inneren Zusammenhang der Aufgaben der Bekämpfung des Mädchenhandels mit der Notwendigkeit eines internationalen jüdischen Kinderschutzes als Weltsammelvormundschaft, soll die Mitteilung über diesen Plan als ein Annex der Briefe, den Weg zur Erfüllung und Durchführung suchen. Als ausführende Organe und Organisationen kämen m. E. zunächst der Joint und die Jewish Agency in Frage.

Isenburg, den 28.8.1929.

Aus einem Brief Bertha Pappenheims aus Genf
vom 12. Okt. 1928

Als ich ankam, fand ich einen Brief vor, der mich für 10 Uhr in das Büro (Völkerbund) bat. Ich will versuchen, den Gang der Unterredung festzuhalten: Ich sagte, daß es noch immer Juden gibt, die das Vorhandensein eines Mädchenhandels nicht glauben wollen, andere, die es glauben, aber noch niemand hätte die Kraft und den Mut aufgebracht, etwas Wirkliches dagegen zu tun. Dann sprach ich von dem Bericht, und man schien erst zu glauben, daß ich gekommen sei, um wegen des Berichtes zu klagen. Ich erklärte aber, daß der Bericht zwar belastend für uns Juden sei, aber nicht anders und nicht stärker, als wir längst belastet sind, und daß ich der beanstandeten anekdotenhaften Rabbinerfrau nicht die geringste Bedeutung beimesse, weil jedermann die Unwahrheit dieser Geschichte daraus erkennen könne, als Frauen und gar Rabbinersfrauen nie religiöse Funktionen zu erfüllen haben. Ferner erklärte ich, daß der Bericht nur dann etwas bedeuten würde, wenn man ihn zum Ausgangspunkt praktischer Arbeit machen würde, wozu der Einblick in das Material nötig sei.

Man sagte mir dann, daß von jüdischer Seite (Mr. Cohen und Montefiore) schon Einblick verlangt worden sei, daß aber ..., der Vorsitzende des Völkerbundes, es zweimal strikt abgelehnt habe, da Amerika und Rumänien (Frankreich?) dasselbe verlangt haben. Man erklärte mir, ganz meiner Ansicht zu sein und ... wiederholt in unserem Sinne gesprochen zu haben, aber endgültig abgewiesen worden zu sein. Für die genannten Länder sei die Erlaubnis gegeben worden, daß auf bestimmte Fragen, die aus dem Bericht herausgegriffen würden – Fragen nach Häusern, Straßen etc. an offizielle Stellen (Behörden, Polizei usw.) –, Auskunft gegeben würde, aber ein allgemeiner Einblick würde nicht gestattet. Die Experten-Kommission selbst habe dagegen Verwahrung eingelegt, weil es für sie eine Gefahr bedeuten würde, wenn die Händler, Zuhälter etc. exponiert würden. (Daraus kann man sehen, welche Macht diese Unterweltsleute haben.)

Ich erklärte, daß es sich m.E. für uns Juden vorerst gar nicht um solche Einzelheiten handelt, besonders schon deshalb nicht, weil die Studienkommission weder geographisch noch in bezug auf die Erhebungen und ihre Zusammenhänge den jüdischen Verhältnissen Rechnung getragen habe, und auch weil die Juden nirgends anerkannte Ansprüche auf die spezielle Behandlung ihrer Angelegenheiten machen können. Unser Interesse an dem Material ist ein ganz anderes, viel allgemeineres als das der Länder und Nationen, und deshalb können unsere Wünsche und Anträge zur Einblicknahme nicht denen der Länder, Nationen oder Konfessionen, die eine Vertretung in ihren Kirchen haben, gleichgestellt werden. Ich erklärte aber auch, daß für die ganze Welt der Bericht nur dann Sinn und Wert habe, wenn er allgemein zur Diskussion gestellt und zum Ausgangspunkt praktischer Maßnahmen genommen würde. Wenn das nicht baldigst geschieht, dann wird der Bericht ein historisches Dokument oder ein literarisches Produkt, aber nimmer eine soziale Tat. Man verstand sehr gut, was ich meinte, stimmte mir bei und verstand auch, daß, wenn man uns Juden nicht Weg und Möglichkeit gibt, nach der Lage, in der wir leben – keine Nation, kein Staat, keine Kirche, keine juristische Organisation zwischen den anderen –, den Mädchenhandel zu bekämpfen, man uns keinen Vorwurf daraus machen darf, wenn wir es nicht tun. Natürlich müssen wir selbst erst die Wege suchen. Auch das gab man zu, daß, je intensiver die Länder und ihre Regierungen, die Behörden etc., die ihnen zugehörigen Frauen, Mädchen und Kinder, schützt, um so mehr stürzt sich das Verbrechertum auf die jüdische Ware, die einerseits ungeschützt ist, andererseits an Marktwert steigt!

Das Resultat einer etwa zweistündigen Unterredung war, daß ich versuchen soll, einige wenige führende Personen (Individuels) zu veranlassen, an das Sekretariat des Völkerbundes einen Brief zu schreiben, in dem man bittet,

  1. entweder Einsicht in das Material zu gestatten (was voraussichtlich abgelehnt wird), oder
  2. zu bitten, von der Kommission des Völkerbundes einen Auszug aus dem Material machen zu lassen, der dann einen zu ernennenden kleinen jüdischen Vertrauenskommission in Genf vorgelegt werden und zur Weiterbehandlung übergeben werden könnte.

Ich machte Notizen über Form und Inhalt eines solchen Briefes, über evtl. Unterschriften usw. und erhielt das Versprechen, daß das, was man zur Unterstützung und Förderung der Sache tun könne, geschehen würde.

Berlin, den 9. November 1928

Sehr geehrter Herr ...

Der Jüdische Frauenbund hat beschlossen, die von Fräulein Bertha Pappenheim seit Jahrzehnten verfolgten Bemühungen zur Bekämpfung des Mädchenhandels unter den Juden aufzunehmen.

Der Ihnen sicherlich bekannte Bericht der Sachverständigen-Kommission des Völkerbundes und der Wunsch, die Materie nach allen Richtungen endlich klarer übersehen zu können, veranlaßten Fräulein Pappenheim, inoffiziell in Genf Fühlung zu nehmen.

In Verfolg dieser Fühlungnahme sind wir zu dem Beschluß gekommen, daß an den Völkerbund ein Brief gerichtet werden müsse, dessen vorgesehenen Text Sie in der Anlage finden.

Dieser Brief an den Völkerbund soll nach dafür maßgeblichen Beratungen weder von uns noch von einer kleinen Anzahl international anerkannter jüdischer Persönlichkeiten verschiedener Länder unterschrieben werden.

Wir glauben, daß dieser Schritt sachlich von größter Wichtigkeit werden kann, indem er Möglichkeiten auf eine erfolgreiche Arbeit in der Richtung der Bekämpfung des Mädchenhandels eröffnet. In jedem Fall aber wird der Brief in der Geschichte der jüdisch-sozialen Arbeit ein für die Juden bedeutsames Dokument bleiben.

Sobald wir Ihre Zusage, die wir umgehend erbitten, in Händen haben, werden wir das Original-Dokument zuerst an Herrn Dr. Claude Montefiore zur Unterzeichnung senden und dann in alphabetischer Reihenfolge bei allen Unterzeichnern kursieren lassen.

In ausgezeichneter Hochachtung

Bettina Brenner, Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes von Deutschland.

Diesen Brief erhielten:

Mr. Claude Montefiore, London
Rabbiner Dr. Leo Baeck, Berlin
Professor Dr. Albert Einstein, Berlin
Dr. Hertz, London, Chiefrabbi von England
Dr. Levy, Paris, Grand-Rabin von Frankreich
Herr Dr. C. Melchior, Hamburg
Dr. Leo Motzkin, Paris
Professor Simonsen, Kopenhagen
Professor M. Sobernheim, Berlin, Legationsrat am Ausw. Amt
Frl. Bertha Pappenheim
Herr Max Warburg, Hamburg

Entwurf des Briefes

An den Herrn Generalsekretär des Völkerbundes, Sir Eric Drummond, Genf.

Die unterzeichneten Personen, die an dem gegenwärtigen Stande der Frage der Bekämpfung des Mädchenhandels lebhaft interessiert sind, bitten

um die Erlaubnis, durch einen oder mehrere Delegierte in das Material der Sachverständigen des Völkerbundes betr. den Mädchen- und Kinderhandel Einsicht nehmen zu dürfen, um daraus die Beteiligung von Juden am Mädchenhandel zu ermitteln.

Sollte die Erlaubnis zur Einsichtnahme nicht erreichbar sein, so erbitten die Unterzeichneten, daß ein Bericht, soweit er den Anteil der Juden am Mädchenhandel betrifft, aus diesem Material vorbereitet und einem kleinen Komitee vertrauenswürdiger Juden in Genf zugänglich gemacht wird.

Nur wenn einem der beiden Wünsche Folge geleistet wird, wäre es uns Juden möglich, festzustellen, in welchem Umfange eine Beteiligung von Juden am Mädchenhandel vorliegt, und nur dann könnte Verantwortlichkeit und Gewissenspflicht der Gemeinden, Rabbiner, Lehrer und der großen jüdischen Organisationen in allen Ländern in vollem Ausmaß wachgerufen werden.

Wir erbitten dies nicht, um an dem Bericht des Völkerbundes nach irgendeiner Richtung Kritik zu üben, sondern lediglich um der jüdischen Gemeinschaft zu ermöglichen, den Kampf gegen den Mädchenhandel nachdrücklichst aufzunehmen.

Erst wenn uns dadurch ein Weg eröffnet wird, sind wir in der Lage, nicht nur unsere Schuldigkeit zu tun, sondern auch voll an der Lösung eines Weltproblems mitzuarbeiten.

Wir glauben, dies verlangen zu müssen, weil die Situation der Juden sich von der der Nationen, Länder und Kirchen so wesentlich unterscheidet, daß die speziellen jüdischen Aufgaben nur von Juden selbst mit Aussicht auf Erfolg bearbeitet werden können.


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