Bertha Pappenheim
Sisyphus: Gegen den Mädchenhandel
Bertha Pappenheim

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Die weibliche Großstadtjugend

1912

Die Erscheinung, daß manche Städte, teils durch ihre geographische Lage, teils aus anderen äußeren und inneren Gründen, zu so mächtigen Wohnzentren anwachsen, daß sie als »Großstadt« einen besonderen Typus von Gemeinwesen darstellen, hat die Bewohner solcher Kulturzentralen vor ganz bestimmte und in gewissem Sinne neue Aufgaben gestellt.

Hauptsächlich ist es die Industrialisierung der Produktion, die mit ihrer Umgestaltung des Wirtschaftslebens Wunder vollbracht und Werte geschaffen hat, von denen man vor einem Jahrhundert noch nichts hätte träumen können. Nur wirkt ihre aufbauende und schöpferische Kraft heute noch vorwiegend nach der technisch-materiellen Richtung. Sie zeigt aber auch ein mächtig destruktives Element, das sich oft gerade dem Besten und Feinsten im menschlichen Gefühls- und Geistesleben feindlich entgegenstellt.

Es ist nicht lange her, seit man sich bei der stolzen Beobachtung der Umwertung aller Werte auf das bedauerliche Unterschätzen und das Verschwinden von Werten besinnt, für die ein Ersatz niemals gefunden werden kann.

Einer der interessantesten und wichtigsten Gradmesser, an dem man das Sinken und Steigen von Lebenswerten ablesen kann, ist die Entwicklung, die man die Jugend nehmen sieht.

Es kann am heutigen Abend, so wie er der Jugendpflege gewidmet ist, nur in gedrängter Kürze und dadurch vielleicht etwas einseitig und sprunghaft auf die wichtigsten Momente hingedeutet werden, die in der Vielgestaltigkeit des Großstadtlebens das Schicksal der Jugend des kostbarsten Besitzes eines Volkes – zu beeinflussen imstande sind.

Um nicht zu falscher Auffassung zu kommen, müssen wir die Jugend von heute dahin zurückverfolgen, wo die Wurzeln aller Volkskraft liegen, in die Familie. Die einschneidenden Veränderungen, die die moderne Zeit gebracht hat, verursachen einen gewissen Zerfall des Familienlebens, und zwar nicht nur in der proletarischen Schicht der Großstadtbevölkerung, sondern auch in den Kreisen des Kleinbürgertums und ebenso, wenn auch in anderen Formen als dort, in den Kreisen des gesicherten Besitzstandes.

Die auffälligste Ursache dafür ist, daß die Hauptträger der Familiengemeinschaft – Vater und Mutter – eine gegen früher veränderte Stellung und Verteilung der Lasten im Haushalt erfahren haben. Wichtig ist dabei, daß die Arbeitsstätte des Familienoberhauptes sich nicht mehr wie in früherer Zeit ganz in der Nähe der Familienwohnung befindet. Die Fabrik, die Werkstätte, der Laden, das Büro liegen heute weit entfernt, und oft führt der Erwerb den Familienvater sogar außerhalb des Stadtbezirks und bedingt dessen wochen- oder monatelange Abwesenheit vom Hause. Wo der Vater fehlt, fehlt die Grundlage für wichtigste Verflechtungen im Zusammenleben des Alltags. Des Vaters Einfluß auf das Leben der Kinder wird dann auf ein Minimum herabgesetzt, und seine Autorität scheidet schon aus einfachem Zeitmangel aus.

Und die Mutter? Die Frau in den Kreisen, an die wir heute vorwiegend zu denken haben, muß beim Broterwerb für die Familie helfen; sie muß Raubbau an ihrer Kraft treiben und behält als Mutter viel zu wenig Zeit für den Haushalt und die Pflege und Erziehung der Kinder.

Wir sehen darum mit einer gewissen Befriedigung das Unnatürliche selbstverständlich werden, sehen, wie sich das »soziale Gewissen« der im Nebenamt Geborenen annehmen muß. Mit täglich wachsendem Verständnis und bereitwilliger Geschäftigkeit versucht man die sozialen Waisenkinder durch die erste Zeit ihres Lebens zu geleiten: aus der Entbindungsanstalt in die Krippe, durch die Säuglingsfürsorge in den Kindergarten, von dort in die Schule mit dem Kinderhort, dem Mußspiel, der Schulküche, der Flickschule usw. Hier bricht die Fürsorge und das Interesse für die Kinder meist ab! Wir sehen unzählige Kinder, denen das Elternhaus fehlt, als Haltekinder, d.h. als lebende Erwerbsmittel in fremde Familien hineingesetzt. Rühmliche Ausnahmen gern zugegeben, im allgemeinen aber kann man sagen, daß das Leben dieser Kinder mit dem häufigen Wechsel der Pflegestellen, in dem jede ersparte Windel, jedes nicht gegessene Stück Brot, jeder nicht getrunkene Tropfen Milch einen Vorteil für die Pflegemutter bedeutet, eine traurige Vorbereitung für die Zeit ist, in der die Jugendlichen das Interesse der Volkserzieher erregen.

Trotz aller fürsorglichen Bemühungen gibt es Tausende von Menschenkindern, denen das wahre Heim im Leben fehlt: Haus und Küche, Familientisch und Kinderstube als kräftige Erziehungsmittel; gemütliches Zuhausegefühl, selbstverständliches Geben und Nehmen in frohen und ernsten Stunden fehlt ihnen und damit etwas, wofür es seiner ganzen Wesenheit nach keinen Ersatz gibt; das ursprünglich Ethische der menschlichen Beziehungen in der Familie und das kraftvoll Persönliche in dem Kreise, dessen Mittelpunkt sie bildet.

Strömungen, die so mächtig sind, daß sie die Grundlagen von Gemeinwesen zu verändern vermögen, können selbstverständlich nicht ausgeschaltet werden. Wenn wir also unter ihrem alljährlich eine Armee von Kindern die Schwelle überschreiten sehen, jenseits deren sie uns bald mit einem seltsamen Gemisch aus Selbständigkeit und Unreife, Ansprüchen, Lebenshunger und Genügsamkeit als »Großstadtjugend« entgegen treten, dann erkennt man neue Probleme und Aufgaben, welche die vernunftmäßig praktischen, sowie die moralisch ethischen Seiten des Volkslebens gleich lebhaft angehen.

Diese Disharmonie zwischen äußerer Selbständigkeit und innerer Unreife tritt meiner Beobachtung nach bei Mädchen – denen meine Ausführungen vorwiegend zu gelten haben – früher auf als bei Knaben.

Je nach den verschiedenen Gesellschaftsschichten äußert sich diese Disharmonie verschieden. Die Verantwortung, die Eltern aus den besitzenden Kreisen ihren Töchtern schuldig sind, ist natürlich eine größere, als die der Eltern, deren Kraft im Ringen um des Lebens Notdurft schon vollauf in Anspruch genommen ist.

Die innere Disharmonie des Großstadtbackfisches, der jungen Sportfreundin, der Amateur-Studentin oder Künstlerin, oder die Eheaspirantin sans phrase ist anders aufzufassen, als die Disharmonie der kaum dem Kindesalter entwachsenen Mädchen aus dem Volke, denen ein früher Konkurrenzkampf Zeit und Recht nimmt, ein Stück Eigenleben zu führen, sich »auszuleben« im besten Sinne, nicht so wie das gefährliche Schlagwort von denen verstanden wird, denen Pietät, Respekt und Selbstzucht fehlen.

In den Kreisen nun, in denen die Eltern oder deren Vertreter nicht die volle Verantwortung für die Erziehung und Entwicklung von Kindern trifft, ist bedauerlicherweise die Notwendigkeit, den Mädchen eine ausreichende Lehrzeit zuzubilligen, noch nicht allgemein genug anerkannt; das wichtige hauswirtschaftliche Können wird unterschätzt. Die Mädchen müssen möglichst schnell am liebsten gleich nach der Schule, Geld verdienen. Das kann bei ungelernter Arbeit nicht viel sein, und auch die gelernte Arbeit wird bei weiblichen Arbeitern schlechter bezahlt als bei männlichen Kollegen, die nicht mehr leisten.

Die ersten wenigen Mark also, die ein junges Ding verdient, die aber bei der Kostspieligkeit der Lebenshaltung in engen Verhältnissen sehr viel bedeuten, führen, je nach der Lage der Dinge, die junge Fabrikarbeiterin, das Lehr- und Laufmädchen, die angehende Verkäuferin, oder das kleine Dienstmädchen entweder schon aus dem Elternhaus hinaus, oder sie verschaffen ihr als »Verdienern« ein Übergewicht im Haushalt, das ihrem Alter nicht zukommt und ihrer ganzen Entwicklung sehr unbekömmlich ist. Dazu sind gerade in dieser ersten Zeit der vollen Freiheit die Mädchen körperlich und geistig sehr vielen Schwankungen unterworfen, die einer sorgsamen, individuellen Behandlung und Beaufsichtigung bedürfen – die aber vollständig fehlen.

Sich durchsetzen, vorwärts kommen, Milieukrankheiten – körperliche und geistige – überstehen, das ist die Losung der jungen Großstadtmädchen, die auf eigene Kraft angewiesen und bei aller Unreife auf ihre Selbständigkeit gestellt sind.

Auf der Basis der mißverstandenen Selbständigkeit sehen wir nun die jungen Mädchen mit Ansprüchen, Lebenshunger und zugleich einer Art von Genügsamkeit in jähem Widerstreit beherrscht.

Die Ansprüche an Äußerlichkeiten wachsen im selben Verhältnis, als die jungen Menschen zu Besitz und Genuß täglich und stündlich angereizt werden.

Die Herstellung von Luxus in allen Formen, die Berührung mit Gegenständen verfeinerter Kultur, das Auswählen, Anprobieren, Anpreisen, Erfinden derselben kann nicht spurlos an empfänglichen jungen Sinnen vorübergehen, kann sie nicht wunschlos lassen und drängt sie, sich wenigstens mit wohlfeilen Mitteln, die aber für sie immerhin eine große Ausgabe bedeuten, so auszustaffieren, wie es ihnen nötig erscheint, um wenigstens scheinbar einen erhöhten Besitzstand darzustellen. Dagegen wie genügsam, wie traurig und unvernünftig genügsam finden wir die Mädchen dann in ihrer Wohnung, in ihrer Nahrung, in ihren geistigen, ihren geselligen Bedürfnissen!

Und ernst sehen sie aus, die Großstadtblüten, wenn man sie morgens und abends gleich müde, mit blassen Gesichtern unter den phantastischen Hüten auf der Straße oder in der Straßenbahn sieht, traurig ernst, wenn sie nicht gerade überlaut mit der Freundin oder dem Freunde kichern und lachen. Was müssen sie aber, auch nicht alles hören und sehen und erleben, wenn sie, kaum den Kinderschuhen entwachsen, sich in eine Umgebung hineingeworfen finden, die keinerlei Rücksicht kennt. Angespannt an der Nähmaschine, an der Schreibmaschine, als Verkaufsmaschine oder sonst wie immer und immer nur Kraft abgeben! – Wäre da der Leichtsinn nicht, wie könnte die Jugend so viel Ernstes, Schweres aushalten. Und man ist leichtsinnig – zum Glück und zum schweren Schaden.

Hier wäre, wenn ich mehr als die Disposition zu einem Vortrag geben dürfte, das wichtige Kapitel einzufügen, daß das Großstadtmädchen in ihrem natürlichen geschlechtlichen Lebensdrang teils als Verführte, teils als Verführerin schildert; auch hier mangelndes Gleichgewicht zwischen Wollen und Können, Mangel an Einsicht, die gesundere Lebensfreudigkeit zu finden, Mangel an Kraft, sich auf das Rechte zu besinnen, Mängel, die, wenn sie eines Tages feiner gestimmten Naturen zum Bewußtsein kommen, zu furchtbarer Tragik führen können. Und über all dem Mangel an Harmonie zwischen dem seelischen Wachstum und den äußeren Verhältnissen der weiblichen Großstadtjugend liegt etwas, das zu denen, die sich viel mit den jungen Mädchen beschäftigen, die diese unfertigen Menschen lieb haben, laut und deutlich spricht. Es ist das eine unbewußte, rührende, sichere Erwartung, daß einmal etwas kommen könne, etwas kommen müsse, das sie aus der gleichmachenden Flut des Alltags herausheben, ihnen ein Eigenes, ein Persönliches bringen werde. Sie erwarten es sehnlich und sicher aus keinem anderen Grunde, als weil sie jung sind!

Viele Fehler, mancher Fehltritt, solche, die gut zu machen sind und solche, die nie mehr ungeschehen gemacht werden können, erklären sich aus diesem unklaren und doch so berechtigten Wunsche nach einem Eigenleben in irgend einer Form.

An dieser zarten Stelle des Innenleben ist es, wo die Jugendpflege einzusetzen hat, zart, doch bewußt. Von hier kann geholfen, geleitet, gepflanzt und gepflegt werden, was Gutes in den Mädchen steckt, und es steckt unendlich viel Gutes in ihnen; von hier kann am Individuum gut gemacht und aufgerichtet werden, was die schwere Walze des Großstadtlebens an Persönlichkeitswerten auf den Boden drückt und zerstören will.

Um dieser Kulturaufgabe gerecht zu werden, bedarf es der Mittel und der Gelegenheit, die aus praktischen Gründen von Staat und Kommune bereit gestellt werden müssen, es bedarf aber noch mehr: der liebevollen persönlichen Vertiefung in das Einzelleben junger Menschenkinder, einer Kleinarbeit von höchster Bedeutung, und sie alle zu dieser heiligen Kleinarbeit aufzufordern, das ist der Zweck der heutigen Veranstaltung.


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