Bertha Pappenheim
Sisyphus: Gegen den Mädchenhandel
Bertha Pappenheim

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Entwurf eines Internationalen Flugblattes

1913

  1. Männer und Frauen aller Nationen und Konfessionen müssen wissen, daß es einen Mädchenhandel gibt. Das ist eine erwerbsmäßige Ausnützung weiblicher Personen durch Anwerbung, Vermittlung und Überlassung zur Prostitution, entweder in polizeilich anerkannten Bordellen oder in anderen Häusern und Lokalen, die der bezahlten Unzucht dienen, wenn sie auch im »polizeitechnischen Sinne« nicht als öffentliche Häuser bezeichnet werden (Varietés, Cafés, Chantants, Bars, Hotels, Maisons de passe, Bäder etc.)
  2. Männer und Frauen aller Nationen und Konfessionen müssen wissen, daß, um den ungeheueren Bedarf der Männer in den Bordellen und anderen Prostitutionsbetrieben an lebender Ware zu decken, tausende und abertausende mittelloser unwissender, leichtsinniger und leichtgläubiger Mädchen ständig durch List und Vorspiegelungen aller Art in Abhängigkeit von Kupplern, Mädchenhändlern (beiderlei Geschlechts) und Zuhältern geraten und mit allen Mitteln der Gewalt, durch Rohheit und Verbrechen der moralischen und physischen Vernichtung preisgegeben werden.
  3. Männer und Frauen aller Nationen und Konfessionen müssen wissen, daß Verelendung, Unwissenheit, mangelnder Erwerb, schlechte Lohn- und Wohnverhältnisse, gewisse Formen angeborenen Schwachsinns, durch keine religiöse und allgemeine Erziehung gehemmter sexueller Leichtsinn die Hauptursachen sind, die den Mädchenhändlern die Opfer in die Hände treiben.
  4. Männer und Frauen aller Nationen und Konfessionen müssen wissen, daß der Alkoholgenuß sowohl für die männlichen Konsumenten wie für die weibliche Ware das verheerendste Reizmittel ist.
  5. Männer und Frauen aller Nationen und Konfessionen müssen wissen, daß es notwendig und möglich ist, jeder einzelnen Ursache des Mädchenhandels im sozialen Leben Gegenwirkungen zu bereiten: durch politische und sozialpolitische, durch administrative und gesetzgeberische Maßnahmen, durch das Wachrütteln des sozialen Gewissens, die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, durch Verbreitung von allgemeiner Volksbildung, durch Aufklärung über die Verbreitung und Bedeutung der venerischen Krankheiten und deren verderbliche Folgen für den Einzelmenschen, die Familie und den Staat.
  6. Männer und Frauen aller Nationen und Konfessionen müssen wissen, daß es großzügiger, weitausgreifender Maßnahmen bedarf, um Verbrecherbanden unschädlich zu machen, die unter Ausnützung menschlicher Schwächen und sozialer Unzulänglichkeiten, die das Gewerbe der Unzucht fördern, in der ganzen Welt ihr Unwesen treiben.

    Hierher gehören: nachdrücklichstes Verlangen nach gesetzlichem Frauen-, Mädchen- und Kinderschutz, internationale, legislative und administrative Vereinbarungen in der Auffassung, Behandlung und Bestrafung der Mädchenhändler, sowie aller Vergehen, die mit demselben in Zusammenhang stehen. Anstellung von Agenten zum Aufsuchen und Nachgehen der Mädchenhändler und Händlerinnen, Bahnhofshilfen, Einrichtung von Schutzhäusern, Arbeitsvermittlung, Auskunftsstellen, Verbreitung von aufklärenden und warnenden Schriften etc. etc.
  7. Männer und Frauen aller Nationen und Konfessionen müssen wissen, daß es schon viele Organisationen gibt, die sich mit der Bekämpfung des Mädchenhandels befassen, daß ihnen aber noch die Macht und die Mittel fehlen, ihrer großen Aufgabe gerecht zu werden.
  8. Männer und Frauen aller Nationen und Konfessionen müssen wissen, daß die Bekämpfung des Mädchenhandels eine religiöse, patriotische und im höchsten Sinne menschliche Pflicht ist, die ohne jede Sentimentalität betrachtet, die größte praktische Bedeutung hat.
  9. Männer und Frauen aller Nationen und Konfessionen müssen wissen, daß der Mädchenhandel durch seine Förderung des Prostitutions-Unwesens und als Propaganda der doppelten Moral zur Verrohung der Sitten und zur Vergeudung der besten Volkskräfte führt.
  10. Männer und Frauen aller Nationen und Konfessionen sollen hierdurch aufgefordert werden, jeder an seiner Stelle nach Maßgabe seiner Kräfte, Fähigkeiten und Mittel, in ehrlichem Wollen und kräftigem zielbewußten Vorgehen die Schande der Geschlechtssklaverei und des Mädchenhandels bekämpfen zu helfen zur Ehre und zur Wohlfahrt der Menschheit!

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