Bertha Pappenheim
Sisyphus: Gegen den Mädchenhandel
Bertha Pappenheim

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International-jüdische Frauen- Mädchen- und Kinderschutzarbeit

1927

Wir dürfen uns mit dem Vorhandensein von Berichten aller Art nicht genügen lassen. Es müssen Wege gefunden werden, das Material von Expertenkommissionen, nationalen und internationalen, zur Durchsicht und zur Überprüfung an Ort und Stelle zu gewissenhafter Bearbeitung und als Hinweise auf Arbeitsmethoden zu verlangen.

In der praktischen Arbeit werden wir das Material, das wir zusammenzuholen haben, so verwenden müssen, daß wir rücksichtslos und unnachsichtig jüdischem Verbrechertum in allen Winkeln nachgehen (Spielklubs etc.). Die feige und unwürdige Scheu und Angst vor Polizei und Gerichten ist aufzuheben und unsere etwas ängstliche Stellung zu Behörden und offiziellen Stellen ist grundsätzlich zu revidieren.

Zur Durchführung einer verantwortlichen, planmäßigen, international-jüdischen Frauen-, Mädchen- und Kinderschutzarbeit (Bekämpfung des Mädchenhandels) bedarf es für den Anfang mindestens vier untereinander verbundener Komitees in Polen, auf dem Balkan (Konstantinopel, Kairo) und in Südamerika, die territorial und lokal ihre Wege zur Aufdeckung der Vorgänge in der Unterwelt suchen müssen.

Die Zusammensetzung dieser Komitees mit Männern und Frauen aus allen Kreisen kann nur das Land selbst aus seiner Personalkenntnis entscheiden.

Als Wichtigstes und Unabweisliches fordere ich aber die Einsetzung eines ständigen international-jüdischen Aktionskomitees für die Vertretung der Interessen und zum Schutz von Frauen, Kindern und Jugendlichen beiderlei Geschlechts.

Das Fehlen einer solchen Stelle scheint mir der stärkste Grund dafür, daß wir noch nie zu dem Gefühl der international-jüdischen Verantwortlichkeit einem angeblich international-jüdischen Übel gegenüber gekommen sind.

Ich würde wünschen, daß die Bildung und Einberufung dieses international-jüdischen Aktionskomitees von der Jewish Association for the Protection of Girls and Women, London, ausginge und im Austausch von Anregungen und Wünschen im lebendigsten Zusammenhang mit Herrn Cohen beim Völkerbund stehen müßte.

Diesem Komitee würde es auch obliegen, die Prüfung des Materials für alle Berichte, Presseäußerungen und sonstige Veröffentlichungen zu verlangen.

So haben die Rabbiner der Welt ihren Anteil an der Bekämpfung des Mädchenhandels und den einschlägigen Materien (Anzeigepflicht, stille Chuppah, Befreiung der Agunausdie eheverlassene Frau, Überwindung der Polizeischeu)

Die Lehrer haben in der Schule und in den Familien ein großes aufklärendes und erziehendes Wirkungsfeld.

Die Ärzte müssen auf die Abolition und die Bedeutung der sozialhygienischen Aufgaben hinweisen (Frühehe, Gesundheitszeugnisse vor der Ehe usw.)

Die Emigrationsorganisationen und Arbeiterfürsorgestellen haben ihr Augenmerk auf die Schleichwege der illegalen Wanderung der Grenzüberschreitungen zuzuwenden und gewisse Listen zu führen.

Die Frauenorganisationen haben dafür zu sorgen, daß in Berufs-, Erziehungs- und Schutzfragen die Länder unentwickelter Kultur gefördert werden.

Die Juristen müssen die Lage der Staatenlosen individuell von Fall zu Fall (generell wird es mit der Zeit vom Völkerbund erwartet) vertreten. Ausweisungen, Repatriierung sind im Einzelfall menschlich gut zu lösen.

Ein Zentralbureau für internationalen Kinderschutz ist einzurichten (Weltsammelvormundschaft), damit für jüdische Kinder die Deklaration von Genf kein Hohn bleibe.

Die Presse aller religiösen und politischen Richtungen ist als ein unentbehrlicher Faktor in den Plan einzubeziehen.

All das ist nur möglich und wirksam, wenn eine internationale jüdische Stelle als Aktionszentrum besteht!

Dieses Komitee müßte sich zum Träger seiner Aufgabe machen, einer Mission, die so vielgestaltig ist wie der Komplex von Vergehen und Verbrechen, Korruption und Degeneration, Ungerechtigkeit und Übelwollen, Armut und sozialem Zusammenbruch es ist, den wir mit dem Wort Mädchenhandel oft irreführend zu bezeichnen gewohnt sind.

In Deutschland können wir Frauen uns mit einer gut ausgebauten Gefährdetenfürsorge begnügen.

Für das deutsche Judentum steht die sozial-ethische Verantwortung für Vorgänge im Leben der Gesamtjudenschaft im Vordergrunde.


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