Bertha Pappenheim
Sisyphus: Gegen den Mädchenhandel
Bertha Pappenheim

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Jüdische Teilnehmer am Weltkongreß gegen Unsittlichkeit

1924

Anwesend:

Mr. Claude Montefiore, London.
Mr. S. Cohen, London.
Fräulein Bertha Pappenheim, Frankfurt a. M.
Frau Henriette May, Berlin.
Frau Ludwika Sygelbory, Warschau.
Frau Silberminz, Warschau.
Frau Therese Wajchmann, Lodz.
Frau Hopfenblum, Warschau.
Fräulein Eisemann, Frankfurt a.M.

Mr. Cohen begrüßt die Anwesenden im Namen von Mr. Montefiore und gibt seiner Freude Ausdruck, daß hier Menschen versammelt sind, mit denen er schon lange und regelmäßig in gemeinsamer Arbeit verbunden ist. Er bittet dann Fräulein Pappenheim, auf deren Veranlassung man zusammengekommen war, das Wort zur Begründung der Zusammenkunft zu nehmen.

Fräulein Pappenheim sagt, sie habe sehr bedauert, daß wir Juden auf dem Kongreß nicht als Juden vertreten seien. Wir arbeiten zwar in den Nationalkomitees unserer Länder, ohne aber auf dem Kongreß als verantwortliche Vertreter jüdischer Stellen zu gelten, trotzdem der ganze Kongreß weiß, welch' starken Prozentsatz bei Händler, Ware und Konsumenten die Judenschaft stellt. Unser Wille zur Mitarbeit ist noch nie bewiesen worden. Die jüdischen Geistlichen beherrschen das Material weder nach der sozialen, hygienischen, noch nach der pädagogischen Seite. Keiner hat die stille Arbeit getan, hat die jahrzehntelange Erfahrung hinter sich, wie viele evangelische und katholische Geistliche es durch soziale Fürsorge, Beobachtung und Seelsorge haben. Da wir keine geistliche Vertretung in der Arbeit haben und auch nicht so rasch haben können, müssen wir ein Organ schaffen, dessen Pflicht es ist, tüchtig zu werden und wachsam zu sein, um in der ganzen Welt sachkundig daran zu arbeiten, daß dieser Schandfleck am Judentum verschwinde. Diese kleine Versammlung soll ein Anfang dazu sein. Wir können gern zugeben, daß in einzelnen Orten lokale Mädchenschutzarbeit gut gemacht wird. Wir wissen, daß man sich in Lodz, Warschau, Berlin, Frankfurt, London, Triest und anderen Städten bemüht. Wir dürfen aber nicht damit zufrieden sein, denn Mädchenschutz ist noch keine Bekämpfung des Mädchenhandels. Die Zusammenarbeit, die gegenseitige Stärkung fehlt. Wo ist die Stelle, wo wir die allgemeinen Erfahrungen und Beobachtungen sammeln, sichten, prüfen und zusammenfassen? Die Auffindung von Händlern kann in vielen Fällen nur von den Juden selbst gemacht werden, und es muß die Gepflogenheit schwinden, daß man verdächtige Personen nicht zur Anzeige bringt. Bisher begnügte man sich damit, Händler von einem Ort auszuweisen, von Land zu Land ziehen zu lassen, wo sie ihr Unwesen natürlich weiter betreiben können. Wir haben über unsere Schande keine Literatur, keine vorgebildeten Lehrer, keine mit der Materie vertrauten Geistlichen oder Sozialarbeiterinnen. Auch hier muß heilige Kleinarbeit einsetzen und uns das Recht verschaffen, in diesen Dingen öffentlich mitzureden. Wir müssen gemeinsame Richtlinien für die Arbeit aufstellen, und wir müssen uns für die Arbeit stark machen. Die Rednerin erinnerte noch an die Bordelle von Pera, deren Insassen zu 40 Prozent Jüdinnen sein sollen.

Frau Silberminz aus Warschau berichtet über das große Entgegenkommen der Ministerien in ihrem Land, über die Prozesse gegen Frauenhändler, klagt aber noch darüber, wie viel »Ware« gerade von Polen und Galizien nach Argentinien geht. Sie gibt zu, daß man bei der Bahnhofsmission das jüdische Komitee nicht zugelassen habe, und sie beklagt sich ferner darüber, daß sie von Paris oder Wien auf Briefe und Anfragen niemals Antworten bekomme, während London und Berlin sehr gut arbeiten, und sie stellt die Frage, was zu tun sei.

Mr. Montefiore sieht im Augenblick große Schwierigkeiten voraus und bittet noch um weitere Aussprache.

Frau Wajchmann, Lodz erwähnt kurz die Lodzer Arbeit und weist auf die Mädchen hin, die nach Argentinien kommen. In Buenos Aires werden weibliche Reisende jedes Schiffes empfangen und betreut. Wir dürfen also hier nichts generell gegen die Regierungen sagen.

Mstr. Montefiore möchte nunmehr 3 Punkte festlegen:

  1. Bezüglich der nicht richtigen Stellung auf dem Kongreß möchte er erwidern: Jeder weiß von ihm, daß er Jude ist und als Vertreter der jüdischen Interessen gekannt und geachtet wird.
  2. Zur Frage der Seelsorge kann man im Augenblick bei den amtierenden Geistlichen wenig ändern und wenig erwarten.
  3. Frl. Pappenheim möchte mit positiven Vorschlägen nunmehr an uns herantreten. Man habe bisher in Argentinien gute Arbeit geleistet, jetzt sei Brasilien in Bearbeitung.

Frau Wajchmann gibt noch einmal Kenntnis von den Verhältnissen, wie sie ihr aus der Arbeit nahe gekommen sind, zumal Polen, Rußland, Galizien die Hauptware für Freudenhäuser schicke. Auf moralische Propaganda ist wenig Hoffnung zu setzen, zumal bei ihnen die kommunistische Propaganda überhand nimmt, die die Familienbande noch mehr lockert. Wir müßten den Mädchen ein menschenwürdiges Dasein schaffen können, um sie zu halten. Ihr Waisenheim leidet z.B. darunter, daß für die Entlassenen bei der großen Wohnungsnot keine Unterkunftsmöglichkeit existiert, und sie bittet ebenfalls Frl. Pappenheim um positive Vorschläge.

Fräulein Pappenheim meint vorerst, daß, wenn wir Juden nicht auf dem heutigen Kongreß gewesen wären, sicher der Ton ein anderer gewesen wäre. Auch das ist ein Beweis für die Notwendigkeit unserer Arbeit. Frl. P. schlägt dann vor ein internationales jüdisches Komitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels mit dem Sitz London zu gründen.

Ein Komitee, das in Aktion zu treten hat, das nicht nur auf dem Papier steht. Bei der Welthilfskonferenz in Karlsbad ist nichts vom Mädchenhandel, nichts vom Kinderschutz gesagt. Trotzdem muß man an die Welthilfskonferenz wieder herantreten, obgleich Anträge, die der Jüdische Frauenbund an sie gerichtet hat, nicht beantwortet worden sind. Man muß aber alle Organe benutzen, die vorhanden sind. Ferner ist die Gewinnung von sachverständigen Aerzten, Frauen, Rabbinern für diese Arbeit in der ganzen Welt notwendig. Es ist eine Aufgabe der Juden in der Diaspora, die Missionare der alten jüdischen Ethik zu sein. Nach Gründung des internationalen jüdischen Komitees müsse dieses sich an den Völkerbund wenden.

Mr. Cohen erinnert an seine Zugehörigkeit zum Völkerbund.

Mr. Montefiore hält eine Zusammenkunft in London für wünschenswert, fürchtet aber zu geringe Beteiligung.

Fräulein Pappenheim meint, der Kongreß könne auch in Warschau sein oder an anderer Stelle; es müßten aber nur die Leute kommen, die die Arbeit kennen, oder solche, die sie tun wollen. Die Arbeit selbst kann im Zusammenhang mit den interkonfessionellen Nationalkomitees der einzelnen Länder vor sich gehen. Die eigentliche Arbeit muß ins Ursprungsland und ins Zielland gelegt werden. Sie fordert dann:

  1. Ausarbeitung einer Schrift, die in dem Aufruf enden muß, daß in der Bekämpfung des Mädchenhandels eine soziale und ethische Pflicht zu erfüllen ist. Diese Schrift muß weiteste internationale Verbreitung auch bei kleinen Organisationen und Einzelpersonen finden und Fragen enthalten, wie sich die einzelnen Organisationen zu einer Mitarbeit stellen und was sie in ihren Ländern evtl. schon auf diesem Gebiete leisten.
  2. Besprechung der Vertreter der Länder, dabei Ausschaltung jeden Streits über Richtungen im Judentum, wie Agudah (Weltorganisation aller thoratreuenorthodoxen Juden zur Pflege und Vertretung ihrer religiösen Interessen), Zionismus, Misraelis (Vereinigung von Zionisten zur Verwirklichung trad. jüd. Gesetze) usw.

Mr. Montefiore sagt bereitwilligst zu, diese Schrift zu verfassen. Er erbittet nur allseitig sachliches Material.

Frau Ziegelberg aus Warschau will den sehr verständnisvollen dortigen Oberrabbiner zu der Arbeit mit heranziehen.

Fräulein Pappenheim erinnert noch daran, daß der in Wien geplante Weltbund jüdischer Frauen nicht zustande gekommen ist, und Mr. Montefiore gibt mit als Grund an, daß die jüdischen Frauen Englands und Amerikas nicht internationalen jüdischen Verbindungen zustimmen wollten.

Mit allseitigem Einverständnis und der Hoffnung, daß die Schrift der Anfang zur Begründung eines internationalen jüdischen Komitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels sein möge, schließt die Sitzung.


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