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VII.

In der Stadt, die sechs Werst von Sucha Dolina entfernt lag, ertönten den ganzen Morgen des Feiertages laut über dem Stimmengewirr, das auf dem Jahrmarkt herrschte, die Glocken der Stadtkirche. Auf dem Marktplatz wimmelte es von Menschen und Tieren wie in einem Ameisenhaufen: man kaufte hier und verkaufte. Pferde, Kühe, Ochsen, Kälber, Getreide, Stoffe, Eier und viele andere Erzeugnisse des Kleinbesitzes wurden hier gehandelt. Ein Schlitten stand neben dem andern, dicht aneinandergedrängt. Manchmal lagen sogar die Kufen des einen Fahrzeuges auf den Kufen des anderen. Tiere und Menschen bildeten lebendige Knäuel. Es herrschte ein buntes Lautgewirr von Schreien, Gesprächen, Flüchen, Rufen der Händler, Pferdegewieher, Viehgebrüll, ein großes Durcheinander bunter Kleider, von Männer- und Frauengesichtern, Bauern, Juden und Kleinadligen.

Auch die vier Dziurdzias kamen zum Jahrmarkt, jeder mit dem, was er zu verkaufen hatte. Peter und Klemens brachten ein Pferd und eine Kuh zum Verkauf, Stefan einen jungen, zweijährigen Ochsen, und Simon kam mit etwas Brotgetreide und wenigen Pfund Erbsen. Dem letzteren war ja alles gleich: Haus und Hof sollten »eingeschrieben« und verkauft werden, also war es für ihn besser, selbst irgend etwas zu nehmen und zum eigenen Nutzen zu verkaufen.

Sehr viele Männer schickten, nachdem sie selbst einige Gebete verrichtet hatten, ihre Frauen in die Kirche und blieben bei den Schlitten und ihrer Ware. Peter überließ die Aufsicht über sein Eigentum dem Sohn und ging selbst in die kleine, weiße Kirche, von deren Spitzen die Musik der Glocken und aus deren Innerem der die heilige Handlung begleitende Chorgesang ertönte. In der kleinen Vorhalle der Kirche herrschte ein solches Gedränge, daß der langsame, feierlich angezogene Bauer sich kaum einige Schritte bis an die Schwelle hindurcharbeiten und nur wenig ins Innere zwängen konnte. Hier standen die breiten, in Pelze gehüllten Rücken wie eine unbezwingbare Mauer, doch zwischen den wirren Mähnen der Männer und über den zur Feier des Tages bunt bedeckten Frauenköpfen konnte er noch das Glitzern der unter einem Baldachin getragenen Monstranz erblicken, die hochroten Umhänge der Kirchendiener, den Glanz der brennenden Kerzen und der hoch darüber wehenden Fahnen. Die Orgel spielte, und einige hundert Stimmen sangen im Chor. Peter wollte hinknien, doch das Gedränge war so stark, daß das nicht möglich war; so senkte er nur den Kopf und schlug sich mit geballter Faust mächtig vor die Brust:

»Himmlischer Vater, König auf Erden, vergib uns unsere schweren Sünden! …«

Dieses kleine Gebet hatte er selbst ersonnen in jener Zeit, als er von tiefempfundener Reue für das der Mutter zugefügte Unrecht ergriffen wurde, und er wiederholte es jedes Mal, wenn er in andächtiger Stimmung war. Die hohe Messe begann. Peter stand mit gebücktem Rücken, hob den Blick und richtete ihn auf das Schnitzwerk des Altars, das er über den Köpfen der Menge sehen konnte. Es waren irgendwelche Kränze und Arabesken aus Gips und darüber einige hölzerne Statuen mit Kreuzen, mit riesigen Büchern, mit drohend, segnend oder auch zum Gebet ausgestreckten Händen. Die Augen des Bauern wurden wie mit einem Schleier von einer tiefen Nachdenklichkeit bedeckt, die Lippen bewegten sich nicht mehr. Vielleicht erinnerte er sich an alles das, was er beim Anblicken dieses Altars schon durchlitten und erbetet hatte – Zerknirschung und Seelenpein, die Krankheiten der Söhne, Kummer, Sorgen, Trost und Beruhigung. Vielleicht suchte er auch mit seinen Blicken über dem Altar und den Statuen der Heiligen, die ihn zierten, unter dem Gewölbe des Gotteshauses jenen Glanz und jene Heiligkeit, worin seiner Vorstellung nach das Himmelreich erstrahlte. Lange Zeit schwebte sein Blick in der Höhe. Der Bauer seufzte.

»Himmlischer Vater, König auf Erden, Beschützer der Menschheit! …«

In seinem blassen Gesicht, den emporblickenden Augen und dem lauten, seufzenden Geflüster lagen Sehnsucht, Dankbarkeit und Demut.

Da hörte die Orgelmusik auf, und in der jetzt ganz ruhigen Kirche ertönte laut und vernehmbar:

»Im Namen des Vaters, des Sohnes …«

Die Predigt hatte begonnen. Peter sah den auf der Kanzel stehenden Priester von seinem Platz aus ganz genau, sah dessen schneeweißes Chorhemd und das rote Band an der Brust. Die Sprache, in der die Predigt gehalten wurde, gebrauchte er im täglichen Leben nicht, doch er verstand sie ausgezeichnet und konnte sie, wenn es nötig war, ganz gut sprechen. Er neigte also den Kopf, wurde sehr aufmerksam und hörte mit ganzer Kraft der klaren, lauten Predigerstimme zu, die unter dem Gewölbe der Kirche tönende Echos weckte. Die Menschen, die sich um ihn drängten, hörten ebenfalls zu, doch die meisten zerstreut oder in müder Schläfrigkeit. Ihre Haltung drückte Hochachtung, Verehrung aus. Oft seufzten sie sogar; manche schweiften mit den Blicken hin und her oder schlossen die Augen und schlummerten. Peter hörte eifrig den Worten zu, die in der ganzen Kirche laut ertönten, doch nicht alles, was er hörte, beeindruckte ihn im gleichen Maße. Er hörte Worte, die nicht vermochten, in ihm irgendwelche Gefühle oder Vorstellungen zu wecken, aber auch solche, die ihn bis ins tiefste erschütterten. In der langen Einführung erzählte der Priester den Menschen von der Güte Gottes und der Bosheit des Teufels. Als an die erste erinnert wurde, sah das Gesicht des Bauern aus, als wäre es von den Strahlen des Ideals beschienen. Es wurde weich und freundlich. Ein Ausdruck des Wohlgefallens und innigster Ergriffenheit war darin zu lesen. Doch wenn in dem Raum der Name des Satans fiel, liefen seine buschigen Augenbrauen auf der Stirn zusammen, der Mund zitterte vielleicht ängstlich, vielleicht auch im Zorn, und er machte Miene, vor sich auszuspucken. Er mäßigte sich jedoch in Anbetracht der Heiligkeit dieser Stätte.

Wieder ein Poltern, verursacht von den Menschen, die auf die Fliesen des Fußbodens in die Knie sanken. Und wieder erklang die Orgel. Vom Altar ertönte der Gesang einer melodischen, flehenden Stimme. Geflüster und Seufzer, ein Raunen und Murmeln verbreitete sich im Raume. Mit heftigen Bewegungen verschaffte sich Peter Platz, fiel auf die Knie, drückte den Mund an den Fußboden der Kirche und flüsterte vernehmlich:

»Möge die Macht Gottes die Teufelsmacht überwinden …!«

Da stieß ihn jemand heftig an den Ellbogen. Er blickte hinter sich und bemerkte den über ihn gebückten Klemens. Der Bursche flüsterte ihm direkt ins Ohr:

»Vater! Der Bezirksvorsteher will unser Pferd kaufen … Allein weiß ich aber nicht, was ich machen soll …«

Mit dem Arm schubste Peter den Sohn weg und bückte sich wieder auf den Boden, doch Klemens zog ihn am Pelz:

»Komm doch, Vater, sonst geht das Geschäft verloren …«

»Sag dem Vorsteher, er soll selbst in die Kirche gehen und nicht andere Leute beim Gebet stören …«

Er sagte dies in einer Form, daß Klemens ihn nicht mehr zu überreden versuchte, sondern kurz hinkniete, das Kreuzeszeichen schlug, den Fußboden zweimal küßte und die Kirche verließ. Doch Peter gewann die andächtige Stimmung von vorher nicht mehr wieder. Etwas begann ihn zu wurmen und zu beunruhigen. Er zuckte die Schultern, blickte um sich, erhob sich dann schließlich, schlug sich noch einige Male heftig vor die Brust und ging aus der Kirche. In der Vorhalle traf er mit Stefan zusammen, der gerade die Finger ins Weihwasser tauchte.

»Was ist denn mit meinem Pferde los?« fragte er ihn, sichtlich beunruhigt.

»Der Vorsteher hat mit Klemens darüber verhandelt. Beeile dich, sonst geht dir das Geschäft durch die Finger.«

Stefan blieb ebenfalls nicht allzu lange in der Kirche, denn sein Ochse war noch nicht verkauft. Simon betete nur ganz kurz vor der Kirchentür und zog auf schnellstem Wege mit dem für das Brotgetreide und die Erbsen erhaltenen Gelde ins Wirtshaus. Keinem von ihnen war es gelungen, bis zur Mitte der Kirche vorzustoßen, geschweige denn zum großen Altar, wo eine Menge von Leuten an den Beichtstühlen und dann in Erwartung des Heiligen Abendmahles vor der Balustrade oder der Sperre des Altarraumes kniete.

Eine Stunde vor Eintritt der Dämmerung begann der Marktplatz langsam leer zu werden. Eine immer größere Anzahl von Schlitten und Pferden versammelte sich dagegen vor dem Tor des geräumigen, gemauerten Wirtshauses. Für die Menschen, die den ganzen Tag in der Kirche gebetet und gefroren hatten, die auch beim Kaufen und Verkaufen auf dem Marktplatz durchgefroren waren, war es notwendig, vor dem Heimweg für eine Weile im Wirtshaus einzukehren, zwischen seinen warmen Wänden sich etwas aufzuwärmen und den Hunger zu stillen. Vor dem Wirtshaus also, dessen oval ausgeschnittenes Tor das Gebäude in seiner ganzen Breite durchschnitt und den Eindruck eines dunklen Abgrundes machte, stand auf dem gefrorenen, schneebedeckten Vorplatz, zwischen verstreutem, losem Stroh und zugefrorenen Pfützen, eine Unmenge von Schlitten und Pferden, deren Köpfe und Hälse ganz in den vorgebundenen Futtersäcken verschwanden.

Die Gaststube des Wirtshauses war bedeutend größer als die in Sucha Dolina. In der Stadt mußte man eben mit einer weit größeren Anzahl von Besuchern rechnen als auf dem Dorfe. Besonders an solchen Tagen wie dem heutigen gab es ungewöhnlich viele Gäste. In dem breiten Kamin brannte ein großes Feuer. Die eintretenden Menschen blieben vor dem Feuer stehen, wärmten sich die gefrorenen Hände, trampelten, um den Körper warm zu bekommen, auf dem Fußboden umher und gingen dann an die Tische, die an den Wänden aufgestellt waren. Noch im Gehen zogen sie von den Schultern die an dünnen Bindfäden herunterhängenden Säcke. Fast alle hatten solche Säcke umgehängt, in welchen sie die für den ganzen Tag von zu Hause mitgebrachten Lebensmittel hatten, deren Menge und Qualität von dem jeweiligen Wohlstand des Rastenden abhingen. Einige zogen aus ihrem Säckchen nur ein paar Scheiben Schwarzbrot, etwas Salz und kleine Stücke harten Käse; andere hatten außer Brot und Salz noch Speck, Wurst und hartgekochte Eier mit. Es gab welche, die sich zum Essen auf den Bänken breit machten, andere wiederum, die im Gehen oder im Stehen aßen: Die Menge wuchs von Minute zu Minute, das Gewirr der Stimmen schwoll zu einem Donner an. Von allen Seiten hörte man Rufe nach Schnaps, Met und Bier. Unermüdlich schlängelten sich zwischen den zahlreichen Gästen einige Juden verschiedenen Alters hindurch, die zur Familie des Wirtshausbesitzers gehörten. Sie trugen blecherne Zwei-Quart-Maße, Quart-Maße, Becher, Tassen aus grünlichem Glas und tönerne Schüsseln, gefüllt mit sauren Gurken und Heringen, welche die Bauern als Imbiß zum Schnaps bevorzugten. Einwohner vieler Dörfer waren hier versammelt, doch fast alle gehörten zum selben Bezirk. Fast alle kannten sich auch untereinander mehr oder minder gut, unterhielten sich über die Ergebnisse des heutigen Handels, über erlittene Verluste oder erzielte Gewinne, über viele verschiedene Dinge, die ihre Höfe oder ihre Familie betrafen. Im Hintergrunde der Stube traktierte der Bezirksvorsteher, der höchste Amtsträger des Bezirks, ein Mann in mittleren Jahren mit langem Bart und einer fast über die Augen gezogenen Schafpelzmütze, eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft mit Honig-Met. Neben einigen anderen ließen sich dort auch etliche Einwohner von Sucha Dolina bewirten. Unter ihnen aber spielte Peter Dziurdzia eine gewichtige Rolle, denn der Grund zum Trunk war heute ein Geschäft, das sie beide abgeschlossen hatten, – das an den Vorsteher verkaufte Pferd; Das Gespräch drehte sich um die mannigfaltigen Vorzüge dieses Pferdes, führte schließlich zu einer lebhaften Auseinandersetzung über Pferde im allgemeinen und steigerte sich manchmal zum Streit, der durch den Vorsteher immer wieder unterbrochen wurde. Um zu schlichten, goß er aus einem großen Blechgefäß Met in die Gläser und sprach zuvorkommend, aber ernst zu den Zechenden:

»Trinkt, meine Herren der Versammlung, trinkt! Auf eure Gesundheit! Auf euer Glück!«

Die Bezeichnung »Herren der Versammlung« wiederholte er ungewöhnlich oft. Er fühlte sich als Haupt und Vorstand des Bezirks, das heißt der Versammlung, und hatte Angst, auch nur die geringste Gelegenheit zu verpassen, alle anderen daran zu erinnern. Die Bauern nickten ihm mit den Köpfen zum Dank zu und hoben die grünen Gläser an den Mund. Nur Klemens trank nicht mit und nahm an der Unterhaltung nicht teil. Er war noch zu jung, war unverheiratet und hatte noch keinen eigenen Hof. Er war mit dem Vater hierhergekommen, und nur durch ihn bedeutete er etwas. Die Anwesenheit des Bezirksvorstehers, die Versammlung alter, ernster Bauern schüchterten ihn ein und hielten ihn davon ab, selbst von dem angebotenen Trunk Gebrauch zu machen. So versteckte er sich hinter dem Rücken des Vaters, hob sein rotwangiges Gesicht, in dem zwei blaue Augen glänzten, über dessen Schulter hinweg und blickte halb gierig, halb schüchtern auf das große Blechgefäß und die Gläser. Die verschmitzten, lebendigen und jetzt durch den Met lustigen Augen des Bezirksvorstehers trafen seinen beschämten Blick:

»Ah«, wunderte er sich lachend und wies mit dem Zeigefinger auf den jungen Burschen …, »ah – meine Herren der Versammlung! Ist das dort ein Bursche oder ein Mädchen?«

Er tat so, als ob er ihn sich genauer ansehen wollte, und wiegte den Kopf hin und her.

»Ich schau' und schau' und kann es nicht erkennen, denn er hat sich hinter den Rücken des Vaters versteckt und schämt sich wie ein Mädchen. – Nun, zeig dich doch mal … Komm doch an den Tisch, denn sonst werde ich wirklich glauben, daß du dich vom Mann in ein Mädchen verwandelt hast …«

Diesem Scherz antwortete allgemeines lautes und langes Gelächter. Auch Peter lachte auf und stieß den Sohn auf den Tisch zu.

»Nun, geh doch, wenn dich der Herr Bezirksvorsteher ruft …«

So schamhaft, wie es der Bezirksvorsteher meinte, war Klemens wiederum nicht. Zwar verdeckte er den Mund mit der Handfläche, doch er blickte mit lustigen Augen dem Würdenträger des Bezirks gerade ins Gesicht. Dieser goß ein Glas voll Met und reichte es dem jungen Burschen.

»Trink«, rief er, »damit der Schnauzbart dir unter der Nase um so schneller wächst!«

Dann goß er den anderen wieder die Gläser voll und wiederholte:

»Trinkt, meine Herren der Versammlung, trinkt!«

Sie tranken und lachten über Klemens, der beim Erwähnen des Schnauzbartes mit den Fingern über den goldenen Flaum seiner Oberlippe strich.

Dann nickte er mit dem Kopfe, und munter rief er laut:

»Auf Euer Wohl, Herr Bezirksvorsteher!«

»Auf dein Wohl!« antwortete der Vorsteher. Und zu Peter sagte er: »Soldat ist er nicht geworden, was?«

Mit strahlendem Gesicht antwortete Peter:

»Nein, Soldat ist er nicht geworden: Als das Los gezogen werden mußte, war Hans noch minderjährig, und ich ging, dem allerhöchsten Gott sei gedankt, auf das siebenundfünfzigste Jahr. Der Bruder klein …, der Vater alt …, so hat man ihn befreit von der Dienstpflicht. Er blieb zu Hause! Möge der liebe Gott dafür gelobt sein.«

»So ist er durchgeschlüpft«, bemerkte jemand von der Seite.

»Nun, er hat eben Glück gehabt«, warf ein anderer ein.

»Ja, er hat Glück gehabt«, wiederholte Peter. »Möge ihm nur der liebe Gott in allem solches Glück geben …«

Der Bezirksvorsteher reichte dem glücklichen Burschen noch ein zweites Glas mit Met:

»Trink«, rief er aus, »trink und denke daran, wer es ist, der dich heute eingeladen hat.«

Der Bursche zögerte, blickte den Vater an, doch Peter, dem die seinem Sohne erwiesenen Ehren besonders gut gefielen und der mit dem bisher immer zurückhaltenden Benehmen des Jungen zufrieden war, stieß ihn an den Ellbogen und redete ihm zu:

»Trink doch, wenn der Herr Vorsteher es dir befiehlt …«

Klemens, der seine Schüchternheit jetzt ganz verloren hatte und sehr lustig geworden war, setzte das Glas diesmal nicht direkt an die Lippen, sondern hob es mit einer so heftigen Bewegung hoch, daß sich ein Teil des Mets auf die Tischplatte ergoß, und sprang hoch auf:

»Auf daß Euer Pferd so herumspringe!«

Dieser Gedanke gefiel den anderen so gut, daß sie ihre Gläser ebenfalls hoch über ihre Köpfe erhoben und der Reihe nach wiederholten:

»Auf daß Euer Pferd so herumspringe, Herr Bezirksvorsteher, auf daß es herumspringe!«

Das bezog sich auf jenes Pferd, das heute der Bezirksvorsteher von Peter gekauft hatte. Anton Budrak, der von Natur aus lustig war oder heute auch etwas Besonderes beabsichtigte, wollte den Gastwirt noch ein Vier-Quart-Maß Met an den Tisch bringen lassen. Jetzt wird er hier dem Bezirksvorsteher und der ganzen versammelten Gesellschaft eine Runde geben! Einige Stimmen wurden aber laut:

»Wir möchten keinen Met mehr! Wenn du eins ausgeben willst, dann bestelle Schnaps!«

Budrak ließ also Schnaps bringen, und während er dem Bezirksvorsteher, der Met bevorzugte, ein Glas mit diesem Getränk vollschenkte, begann er:

»Wir haben da ein Anliegen, Herr Bezirksvorsteher. Wir wollen einen Prozeß wegen dieser Äcker und Wiesen beginnen …, damit die Sache nicht verjährt … Was Ihr darüber wißt, das sagt uns … Vielleicht könnt Ihr uns einen Rat geben … Die Sache sieht nämlich so aus …«

Und obwohl er schon sehr viel Met und auch etwas Schnaps getrunken hatte, begann er vernünftig und nüchtern von der für das ganze Dorf so wichtigen Angelegenheit zu erzählen. Doch Peter unterbrach ihn und begann dem Bezirksvorsteher selbst darüber zu berichten. Die beiden Budraks und die drei Labudas unterbrachen ihn aber ebenfalls, und es entstand jetzt so ein Durcheinander, daß man kaum etwas verstehen konnte. Doch der Vorsteher schien an solche öffentliche Debatten gewöhnt zu sein.

»Der Reihe nach erzählen, meine Herren«, rief er, »schön einer nach dem anderen. Zuerst der eine und dann der andere, und ich werde zuhören. Ich bin ja der höchste unter euch allen, und ihr könnt zu mir reden wie zu eurem eigenen Vater …«

»Wie zum eigenen Vater«, bestätigten alle im Chor. In diesem Augenblick torkelte der betrunkene Simon an den Bezirksvorsteher heran, küßte ihm den Ellbogen und begann:

»Ich will zu Euch reden wie zu meinem eigenen Vater, Herr Bezirksvorsteher … Verkauft mir den Hof nicht … Eine bittere Not kommt da über mich und meine armen Kinder …«

Aber einige Arme streckten sich vor und stießen den Säufer zurück, der mit unsicheren Schritten zum Gastwirt ging und leise knurrte:

»Chakiel, gib mir Schnaps …, wenn du noch den lieben Gott fürchtest! Noch zwei Becher Schnaps … Etwas Geld habe ich ja noch … Ich werd' schon bezahlen … Eine bittere Not …«

Klemens, der merkte, daß zwischen dem Bezirksvorsteher und den Bauern eine längere Unterredung über geschäftliche Dinge stattfinden sollte, verließ leise den Kreis und ging zu einem anderen – zu etlichen Frauen, die vor dem Kamin saßen. Auch sie aßen das, was sie von zu Hause mitgebracht hatten, unterhielten sich über den heutigen Jahrmarkt, stritten miteinander oder sprachen von ihren eigenen Nöten und Sorgen. Nachdem Klemens sich diesem Häufchen genähert hatte, ertönte bald lautes Lachen und Quietschen! Durch die zwei Gläser Met aufgeheitert und etwas frech geworden, kniff der Bursche eine ihm bekannte junge Frau aus Sucha Dolina in den Arm, flüsterte einer anderen etwas ins Ohr, daß sie rot wie eine Pfingstrose wurde und beschämt das Gesicht vor seinem Blick verdeckte. Andere, ältere, stießen ihn, scheinbar böse, scheinbar belustigt, mit den Fäusten fort und schrien, daß er zu den Männern gehen solle. Bald wurden sie aber alle ruhig und guckten neugierig, auf den Fußspitzen stehend, auf einen Gegenstand, den der Bursche unter dem Kittel hervorholte. Es war ein ziemlich großes Bildchen, das irgendeine Heilige darstellte und dessen Rahmen mit Goldpapier beklebt war. Diese Heilige hatte ein rotes Kleid, eine goldene Krone über dem Kopf und hielt in der Hand einen blauen Palmenzweig. Die dick aufgetragenen, grell leuchtenden Farben des Bildchens und das im Schein des Feuers hell glänzende Papier auf dem Bilderrahmen versetzten die Frauen in einen Zustand der Verwunderung und Entzückung. Sie sperrten Augen und Mund weit auf, schauten, ergötzten sich beim Anblick des Bildes und wollten unbedingt wissen, ob Klemens dieses herrliche und heilige Ding für sich oder für jemand anders gekauft hätte. Er wußte ganz genau, für wen dieses Bildchen bestimmt war, doch sagte er es niemandem, lachte schallend über die Neugierde und Gier, die sich auf den Gesichtern der ihn umgebenden Frauen malte. Dann versteckte er das Bildchen wieder unter seinem Kittel.

Da wurde er von einem kleinen, beweglichen Männchen mit einer Stupsnase angerufen, das mit einigen anderen am Fenster saß, mit ihnen zechte und redete. Er war halb bäuerlich, halb schon wie ein Kleinadliger gekleidet. Es war der Waldheger von einem benachbarten Gut, der vom Vater des jungen Klemens heute eine Kuh gekauft hatte.

»Klemens«, rief er, »hei, Klemens, komm! Trink mit uns einen, damit die Kuh gesund bleibt!«

Der Bursche trank den angebotenen Becher leer, wurde plötzlich von einer unbändigen, tollen Lustigkeit gepackt, sprang an ein Wasserfäßchen, das in der Ecke der Stube auf dem Fußboden stand, stellte es hochkant und goß das Wasser auf den Fußboden.

»So viel Milch soll die Kuh geben!«

Ein donnerndes Gelächter ließ die Stube erzittern. Die Frauen schrien laut auf, hoben die Röcke hoch und liefen in die gegenüberliegenden Ecken. Ein breiter Wasserstrom ergoß sich von einer Wand zur anderen und trug über den abfallenden, holprigen Boden alle Abfälle mit, die man dorthin geworfen hatte: Eier- und Gurkenschalen, Heringsköpfe und Heringsschwänze. Klemens verschwand zwischen einigen Bauern, die sich mit den Bechern in der Hand um ihn gestellt hatten. Unter ihnen befand sich auch Simon, der den jungen Burschen am Ärmel zupfte; er hielt einen Trinkbecher in der Hand und murmelte immer wieder: »Borg mir doch etwas Geld, Klemens! Sei so gut, borg mir etwas – wenn es nur ein Zloty ist! … Mein ganzes Geld hab' ich schon versoffen … Ein bitteres Los für mich und meine Kinder …«

Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Die Bedienung des Wirtshauses stellte an drei verschiedenen Stellen der Stube drei dünne Wachskerzen in speckigen Messinghaltern auf die Tische.

Stefan Dziurdzia hielt in einer kleinen Gruppe lange Reden, anscheinend dadurch beglückt, daß er wenigstens irgendwo und zu irgendwem so lange sprechen konnte und gehört wurde. Als das Licht der Wachskerzen aufflammte, bemerkte er den Bezirksvorsteher, der zwischen einigen Einwohnern von Sucha Dolina stand und ziemlich ernst mit ihnen sprach. In das braune, zerknitterte Gesicht Stefans stieg die Röte hoch, die wohl von den lebhaften Diskussionen, in denen er das Wort geführt hatte, und vom Schnaps, den er bis jetzt getrunken hatte, herrührte. Schließlich wurde er neugierig, was die Nachbarn mit dem Bezirksvorsteher zu besprechen hatten, näherte sich der Gruppe und hörte einige Zeit zu.

»So muß man es schon machen, meine lieben Bezirksmitglieder!« sprach der Vorsteher. »Anders kann es nicht sein. Anders können wir's nicht machen. Ihr müßt unter euch Bevollmächtigte aussuchen, damit sie im Namen von euch allen in die Stadt gehen und sich an einen Rechtsanwalt wenden. Das ist das allererste: Bevollmächtigte wählen … Und zweitens müßt ihr euch einen Rechtsanwalt nehmen. Das ganze Dorf kann ja nicht zum Rechtsanwalt gehen und auch nicht zum Gericht … Eure Bevollmächtigten werden es für euch tun … Ihr könnt ja bei eurem Dorfschulzen zusammenkommen und euch darüber beraten, wer der Vernünftigste ist, die größte Achtung verdient!«

Die Dziurdzias, Budraks und Labudas sowie einige andere standen vor dem nun sitzenden Bezirksvorsteher und hörten seinen Worten aufmerksam zu. Als er zu Ende war, riefen einige Stimmen:

»Warum sollen wir es denn auf später vertagen? Wir können doch gleich jetzt wählen … Der Herr Bezirksvorsteher soll selbst Zeuge sein.«

»Gewiß können wir es gleich machen«, bestätigten andere. »Warum sollen wir es nicht gleich tun?«

»Es sind nicht alle da aus dem Dorf!« protestierte irgend jemand.

»Das schadet nichts. Was wir hier beschließen, damit werden alle anderen einverstanden sein«, behauptete der Schulze von Sucha Dolina, Anton Budrak.

»Und wieviel solcher Bevollmächtigten sind überhaupt nötig?« fragte Peter.

»Drei«, antwortete der Bezirksvorsteher, »mehr sind nicht nötig, doch drei müssen es unbedingt sein.«

In diesem Augenblick zog Stefan seinen älteren Vetter am Ärmel und flüsterte ihm zu:

»Peter! Sag doch, daß man mich zum Bevollmächtigten wählen soll …«

Sein Flüstern wurde durch einige Stimmen unterdrückt:

»Zuerst bitten wir unseren Dorfschulzen …«

Antons rundes, fettgepolstertes Gesicht mit dem flachsblonden Schnurrbart und der Stupsnase erglänzte wie ein aufgehender Vollmond.

»Gut«, sagte er, »ich will es machen! Warum auch nicht? Und wer noch?«

Diesmal stieß Stefan seinen Vetter schon mit der Faust in die Rippen:

»Du, sag doch endlich was! Sag, daß man mich zum Bevollmächtigten wählen soll …«

In seinen Augen glänzte das heiße Verlangen nach einer Auszeichnung und vielleicht auch das Feuer des in seiner Natur liegenden Betätigungsdranges. Doch die Bauern wählten zu ihrem zweiten Bevollmächtigten den alten Labuda. Der kratzte sich verlegen die Glatze und bat, daß man ihn von dieser Strapaze befreien und vielleicht einen seiner Söhne wählen solle. Philipp, sein Ältester, erklärte selbst, daß er nicht abschlagen werde, obwohl es ihm schwer fallen würde, seinen Hof zu verlassen und in die Stadt zu fahren, doch – abschlagen, nein, das wolle er nicht.

»Philipp soll es sein!« Die Bauern waren einverstanden.

»Und der dritte?« … fragte der Bezirksvorsteher.

»Der dritte soll Peter Dziurdzia sein …«

Peter richtete sich hoch auf, so wie damals, als man ihn zum Dorfschulzen wählte, und bedankte sich mit strahlendem Gesicht für die Ehre. Stefan stieß ihm wieder die Faust zwischen die Rippen.

»Sag doch, daß sie mich als vierten wählen sollen …«

Peter fuhr sich verlegen mit der Hand durch die Haare, aber er sagte:

»Vielleicht könnte man als vierten Stefan wählen?«

»Wir brauchen keinen vierten!« wurde er von allen Seiten niedergeschrien. »Der Herr Bezirksvorsteher sagte, daß nur drei nötig sind; mehr brauchen wir nicht …«

»Dann könntet ihr Stefan an meine Stelle wählen«, schlug Philipp Labuda vor. »Das geht doch«, fügte er noch hinzu. »Mir wird es nicht leicht fallen, und große Lust hab' ich nicht zu dem Amt …«

»Stefan wollen wir nicht haben«, schrien alle, »wozu brauchen wir ihn? Er wird sich nur mit den anderen Bevollmächtigten herumzanken …, wer der wichtigste unter ihnen ist und so …«

»Der wird noch den Rechtsanwalt verprügeln!« bemerkte jemand lachend.

Auf Stefans Gesicht zeigten sich rote Flecke. Er drängte sich bis in die Mitte der Gruppe und begann laut zu lärmen. Er wollte allen beweisen, daß die Wahl nicht rechtskräftig sei, weil nicht alle Bauern aus Sucha Dolina zugegen waren, und daß man ihn unbedingt zum Bevollmächtigten wählen müsse, und er drohte – falls das nicht geschehe – vor dem Gericht sein Recht zu suchen … Ein allgemeiner Streit war entstanden, und es wäre bestimmt zu einer Schlägerei gekommen. Doch da erhob sich der Bezirksvorsteher von der Bank und schrie Stefan laut an. Er fühlte sich persönlich beleidigt, deshalb donnerte und schimpfte er laut und grob:

»Was heißt hier nicht rechtskräftig«, schrie er, »wenn ich hier bin, dann ist alles rechtskräftig! Ich bin hier der höchste von euch und kann über alles bestimmen … Mich hat der Zar persönlich über euch alle gesetzt … Wenn ich will, dann kann ich begnadigen, und wenn ich anders will, dann schick' ich einen ins Gefängnis und zur Zwangsarbeit!«

Stefan wurde für einen Augenblick etwas verlegen, doch bald rief er mit herausfordernder Stimme nach dem Wirt und ließ sich ein Vier-Quart-Maß Schnaps bringen. Dann nahm er unweit vom Tische des Bezirksvorstehers Platz und begann mit einigen ihm freundlich gesinnten Bauern einen Becher nach dem anderen zu trinken.

Inzwischen hatte Peter, auf den der Schnaps nicht ohne Wirkung blieb und den die erwiesene Ehre in gute Stimmung versetzte, auch seinerseits für den Vorsteher und die Nachbarn Schnaps bringen lassen.

»Ich danke Euch, Herr Bezirksvorsteher! Ich danke euch, liebe Bezirksmitglieder!« wiederholte er ununterbrochen, stellte sich dann breit vor Anton Budrak hin und kniff die Augen zusammen. Beim Sprechen hielt er die Mütze in der Hand:

»Du bist ein Bevollmächtigter, und ich bin ein Bevollmächtigter. Du bist Dorfschulze, und ich bin Dorfschulze … Komm, gib mir einen Kuß …«

Und sie küßten sich so laut, daß es knallte, als hätte man einige Flaschen gewaltsam entkorkt.

Die allgemeine Trinkerei erreichte in diesem Augenblick fast den Höhepunkt, doch man konnte dabei auch etwas Besonderes feststellen: Menschen, die sich – wie zum Beispiel Simon Dziurdzia – auf eigene Hand, ohne Ursache, nur des Trinkens wegen betranken, gab es nur ganz wenige. Die überwiegende Mehrzahl trank, was das Zeug hielt, doch nur, weil man sich gegenseitig einlud und auch allen Grund dazu hatte. Veranlassung zum Trinken war aber alles: das verkaufte Pferd, die gekaufte Kuh, Begegnung mit Bekannten, Versöhnung solcher, die bis jetzt im Streit miteinander gelegen hatten, Gedenken an den Vater, der gerade vor einem Jahre gestorben war, geplante Verheiratung des Sohnes oder der Tochter. Lustige oder traurige Ereignisse, Verlust oder Gewinn, Freundschaft oder Streit, Hoffnung oder Trauer – alles wurde zum Anlaß genommen, um sich gegenseitig etliche Male einzuladen. In der Stube herrschte ein Gewirr von Stimmen, die in den mannigfaltigsten Tonarten erklangen, ein wogendes Hin und Her, je nach Temperament, Grad und Art der Trunkenheit eines jeden einzelnen verschieden. In einer Ecke der Wirtsstube gab es eine Prügelei, die damit endete, daß man die Unterlegenen zur Tür hinauswarf; in einer anderen wurde der jüdische Wirtshauspächter an die Wand gedrückt. Abwechselnd schrie er vor Angst ganz jämmerlich oder schimpfte laut auf die Bauern, die ihm mit Brüllen und Beschimpfungen antworteten. An einer anderen Stelle standen sich zwei betrunkene Burschen gegenüber, stemmten die Fäuste in die Seiten und wiegten sich in den Hüften – zwei aufgeregten Kampfhähnen ähnlich. Dazu zischten sie sich immer wieder dieselben monotonen Worte gegenseitig ins Gesicht. Einige Einwohner aus Sucha Dolina drängten sich mit gefüllten Bechern um den Bezirksvorsteher und küßten ihn auf die Backen. Der schon stark angetrunkene »hohe Beamte« saß breitbeinig auf einer Bank. Die riesige Mütze hatte er sich so weit ins Gesicht vorgeschoben, daß man darunter fast nur seinen roten Bart sehen konnte. Doch den Bauern gelang es, sich bis an seine Backen durchzuwühlen, so daß sie laut darauf schmatzten und immer dasselbe wiederholten:

»Du bist der allerhöchste von uns allen … Du bist wie der Vater über uns allen …«

Der betrunkene Simon trat dagegen mit einem trotzigen Gesicht an ihn heran:

»Wag es nicht, mir meinen Hof einzuziehen!« schrie er ihn an. »Wenn es dir einfällt, meinen Hof einzuschreiben, dann schlag' ich dich tot … Bei Gott, ich schlag' dich tot, obwohl du der Bezirksvorsteher bist …, und dann ist Feierabend mit dir!«

Peter Dziurdzia stand neben dem einen Budrak.

»Du hast eine Tochter«, sagte er, »und ich hab' einen Sohn … Gelobt sei der allerhöchste Gott und Vater!«

Gleichzeitig redete Budrak zu ihm:

»Du hast einen Sohn, und ich hab' eine Tochter … Warum soll Gottes Wille nicht dabei sein … Schicke nur die Brautwerber.«

»Schicke nur …« wiederholte zustimmend Peter, hob den Zeigefinger über den Kopf und begann mit salbungsvoller Stimme wieder dasselbe:

»Du hast eine Tochter – und ich hab' einen Sohn … Möge – wie es geschrieben steht – die Macht Gottes die Macht des Teufels überwinden …«

Da zupfte Klemens den Vater am Ärmel des Pelzes:

»Fahren wir lieber nach Hause, Vater«, sagte er bittend.

Auch er war betrunken, doch immer noch ziemlich bei Bewußtsein. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause fahren, um Nastka das gekaufte Bild zu schenken. Peter sah den Sohn fast verwundert an und schrie zornig:

»Und du bist krank gewesen, wärest bald gestorben! Die Macht des Teufels hat dir diese Krankheit gebracht …«

Klemens spuckte aus:

»Sie hätte gar nicht auf die Welt kommen sollen …, diejenige, die mir die Krankheit gebracht hat! Kommt, Vater, wir wollen heimfahren.«

Und er zog den Vater am Pelzärmel zur Tür hinaus. Der Alte ließ sich so führen, drehte sich aber unterwegs zu Maxim Budrak einige Male um und sprach:

»Denke daran, Maxim: Du hast eine Tochter, und ich hab' einen Sohn! Das himmlische Reich soll über das Reich des Teufels triumphieren!«

Gerade auf der Schwelle trafen Vater und Sohn mit Simon zusammen:

»Was strolchst du immer noch hier herum?« schrie Peter aufgebracht seinen Verwandten an. »Marsch, marsch, nach Hause mit dir! … Sonst versäufst du noch die letzte Kopeke!«

»Die hab' ich schon versoffen …«, begann Simon zu erzählen, »alles, was ich für die Erbsen und den Roggen bekommen habe, hab' ich schon versoffen …, bis auf den letzten Groschen … Jetzt ist Feierabend für mich und für meine Kinder …«

Beim Hinausgehen schoben Peter und Klemens den betrunkenen Simon zuerst in den Vorraum und dann auf den Vorplatz, wo noch viele Bauernschlitten und Pferde standen, obwohl ein ganzer Teil der Wirtshausbesucher schon vorher heimgefahren war. Hier bemerkten sie Stefan, der im Begriffe war, den Futtersack vom Halse seines Pferdes loszubinden und wegzufahren.

»Hei, Onkel«, rief Klemens, »warte doch, wir fahren alle zusammen!«

In betrunkenem Zustand war Stefan stets düster und bösartig. Statt einer Antwort stieß er jetzt einen Fluch durch die Zähne und schrie Peter an:

»Du Schuft! Ich werde trotzdem noch Bevollmächtigter! Hast du mich verstanden?«

»Schimpfe hier nicht herum … Hast gar keinen Grund dazu … Gelobt sei der allerhöchste Gott und Vater in aller Ewigkeit! …« antwortete ihm Peter.

Auch Simon kletterte murrend in seinen Schlitten:

»Wollte mir nichts geben …, diese verdammte Hexe … Nicht eine Kopeke hat sie mir gegeben! Das heilige Donnerwetter soll sie holen … Und für mich und meine Kinder ist jetzt Feierabend.«

Die drei Schlitten der Dziurdzias bewegten sich jetzt gleichzeitig vom Halteplatz weg. In dem ersten saß Peter mit Klemens. Im kurzen Trab der Bauernpferde zogen sie durch die Stadt, erreichten bald die Grenze und befanden sich zwischen schneebedeckten Feldern.

Sie froren. Zwar war es nicht sehr kalt, vielleicht zehn Grad, mehr aber nicht, doch es wehte ein starker Wind und trieb von der Erde ganze Schneewirbel hoch. Es schneite außerdem ganz kleine, staubähnliche Flocken, hart und dicht. Der Mond schien, doch man konnte ihn hinter den dicken Wolken, die die ganze Himmelskuppel bedeckten, nicht sehen. Obwohl die Nacht gar nicht so dunkel war, konnte man kaum etwas durch den dichten Schnee erkennen, der von oben fiel und von der Erde hochgewirbelt wurde. Der Sturm ballte ihn zu gewaltigen Knäueln und zerrte ihn wie ein riesiges kaltes Tuch durch die Lüfte. Der Mondschein drang schwach durch die Wolken und beleuchtete mit seinem weißen Licht den Schneevorhang.

Nur sechs Werst war es von Sucha Dolina bis zu der kleinen Stadt, und fast auf der ganzen Strecke standen Bäume beiderseits der Straße. In dem dichten Schnee sahen die Bäume wie graue, auf den Feldern umherirrende Gespenster aus, doch die Dziurdzias konnten gerade noch ihre Umrisse von Zeit zu Zeit erkennen. Sie trieben dann ihre Pferde zu schnellerem Lauf an und fuhren rasch weiter. Keiner von ihnen schlief. Peter seufzte manchmal tief auf oder flüsterte etwas im Tone eines Gebetes; Klemens versuchte etliche Male, ein Lied zu pfeifen; Stefan trieb sein Pferd mit düsterer Stimme zu schnellerem Lauf an; Simon lag hart in seinem Schlitten, war ungewöhnlich gesprächig und laut. In dem sausenden, pfeifenden Wind verloren sich seine Worte vollständig, doch ihn kümmerte wenig, ob ihn jemand hörte oder nicht. Er schrie und schimpfte vor sich hin, drohte einem unsichtbaren Menschen oder Wesen, klagte über irgend etwas und verfluchte jemanden. Plötzlich rief Klemens:

»Da sind die Prygorki!«

So hieß eine Anhöhe, die von Eichen- und Birkenwald bewachsen war und etwa anderthalb Werst von dem Hohen Kreuz entfernt stand. Von diesem Kreuz aus war es nicht mehr weit bis nach Sucha Dolina, und der Weg führte gerade ins Dorf. Jetzt waren sie nur noch wenige Werst vom Dorfe entfernt, doch von hier ab hörten auch die Bäume auf, die den Weg säumten. Jetzt öffnete sich vor ihnen eine glatte Ebene mit einigen kleinen Anhöhen in unmittelbarer Nähe des Kreuzes. In dem Schneegestöber waren sie jedoch nicht zu sehen.

Sie fuhren an den Prygorki vorbei. Jetzt sahen sie nichts mehr; überall war es weiß: am Himmel, in der Luft, auf der Erde. Überall nur Schnee und Schnee. Kein Baum, kein Meilenstein, keine einzige Anhöhe. Klemens zerrte mit der Leine seine Pferde nach links. Sogleich versank der Schlitten im tiefen Schnee.

»Wo bist du denn reingefahren?« flüsterte Peter.

»So ist es richtig, Vater, so müssen wir fahren«, gab der Bursche zur Antwort und pfiff lustig vor sich hin.

Im Grunde genommen hätte er auf die Frage, warum er plötzlich nach links eingebogen war, obwohl der Weg von den Prygorki nach Sucha Dolina schnurgerade weiterlief, nichts antworten können. Er war überhaupt sicher, daß er weder nach links noch nach rechts gefahren war, und im Notfall hätte er darauf einen Eid geleistet.

Die beiden anderen lenkten ihre Pferde gar nicht. Beide lagen rücklings auf ihren Schlitten: Stefan in düsteres Schweigen vertieft, als ob er den Geräuschen des Windes eifrig zuhörte; Simon dagegen redete laut und schrie. Sie fuhren immer weiter. Die Pferde versanken manchmal im tiefen Schnee und krochen nur mit Mühe aus den weißen Haufen heraus; manchmal liefen sie auf ebener Strecke in kurzem Trab; manchmal spürte man unter den Schneekufen die nackte Erde, die der Wind kahlgefegt hatte. Sie befanden sich auch nicht mehr auf dem Wege, sondern fuhren querfeldein. Keiner beachtete das, bis plötzlich die Anhöhen und der Wald von Prygorki wiederum sichtbar wurden.

»Was soll das heißen«, rief Klemens, »wieder die Prygorki!«

»Na, wie fährst du denn, Klemens?« wunderte sich Peter.

Er riß dem Sohn die Zügelleine aus den Händen, und da er etwas anders als jener fahren wollte, lenkte er das Pferd nach rechts.

»Nicht so!« rief Stefan von seinem Schlitten aus.

»Ist schon richtig! Keine Angst!« schrie Peter zurück und fuhr in der eingeschlagenen Richtung so lange, bis sein Pferd bis an die Knie in einem Graben versank.

»Ach, ach«, wunderte sich der Bauer. »Da sind wir also wieder falsch gefahren!«

Mit Mühe, mit Rufen und Zerren der Zügelleine riß er sein Pferd aus dem Graben und wendete das Fahrzeug. Die beiden anderen Schlitten machten ebenfalls kehrt, doch so, daß jetzt Simon als erster fuhr. Sie fuhren weiter, immer weiter, bis Stefan von seinem Schlitten aus den Vetter anschrie:

»Da sind ja wieder die Prygorki!«

»Pfui, verschwinde, geh zugrunde, du unsaubere Kraft!« Peter spie aus und schrie Simon an:

»Mach kehrt!«

»Wozu soll ich denn kehrtmachen? So fahr' ich richtig«, antwortete der neue Führer.

»Vielleicht ist es auch richtig! Weiß ich's?« murrte Peter. Klemens fing plötzlich an zu zittern; seine Zähne klapperten laut.

»Vater«, sagte er, »ich glaub', ich werde wieder so krank wie früher!«

Er wurde nicht krank. Nur der Kopf schmerzte heftig von dem ungewohnten Alkoholgenuß, und der kalte Wind drang durch den dichten Pelz bis auf die Knochen. Peter spuckte nochmals aus und begann zu flüstern:

»Herr im Himmel, König auf Erden, erbarme dich über uns Sünder! …«

»Mach doch kehrt!« schrie Stefan jetzt den Simon an. »Fahr doch zurück, Simon! Siehst du denn nicht, daß wir an den Teich gekommen sind?«

In dem Schneegestöber erkannte er die Schatten der am Teichufer wachsenden Bäume. Seine mächtige Stimme übertönte das Sausen des Windes. Peter hörte sie und wendete sogleich sein Pferd. Nach ihm taten die beiden anderen dasselbe.

Mehr als eine Stunde kreisten sie nun schon in der Ebene. Nur noch halb bei Bewußtsein, durch den Schneesturm fast erblindet, wendeten sie ihre Pferde mal in diese, mal in jene Richtung, ohne auf den Weg zu stoßen, den sie inzwischen an einigen Punkten etliche Male überquert hatten.

»Der Satan macht uns blind!« sagte Peter.

»Ja«, bestätigte Klemens und fing vor Kälte noch heftiger an zu zittern.

Stefan knurrte vor sich hin.

»Wie ein Hund wird man hier erfrieren müssen.« Und nach einer Weile fügte er noch hinzu:

»Wenn ich nicht mehr da sein sollte, dann wird dieses Weib den kleinen Kasimir zu Tode quälen!« Er seufzte.

Auf dem dritten Schlitten klagte Simon laut:

»Ja, ja – ein bitteres Los wartet jetzt auf mich und meine Kinder!«

Da erhob sich Klemens etwas in seinem Fahrzeug und rief heftig erschrocken aus:

»Wieder die Prygorki!«

Auch Peter richtete sich jetzt auf und sah angestrengt in die Dunkelheit:

»Tatsächlich! Wieder die Prygorki!« bestätigte er. »Der Teufel läßt uns umherirren! Anders kann es nicht sein … Der Teufel hat heute die Hand im Spiel, bläst uns den Schnee in die Augen und führt uns herum …«

»Immer auf derselben Stelle führt er uns herum!« bemerkte Klemens.

»Ja, immer auf derselben Stelle! Der Teufel, anders kann es nicht sein. Klettere doch mal vom Schlitten herunter!«

Er stieg selbst aus und rief zum Sohn:

»Wir werden den Weg suchen …«

Sie stiegen beide aus, und der herankommende Schlitten Stefans fuhr so dicht an die Stehenden heran, daß er mit seinen Kufen die Kufen des anderen Schlittens anhakte.

»Kommt alle mit! Wir werden den Weg suchen!« rief Peter dem Stefan und dem Simon zu.

Alle vier stapften jetzt einige Schritte durch tiefen Schnee, als Klemens plötzlich ausrief:

»Siehst du dort, Vater! Siehst du?«

Mit ausgestrecktem Arm wies er dorthin, wo ein grauer, beweglicher Schatten zu sehen war, der im selben Augenblick hinter dem Walde der Anhöhe sichtbar wurde und sich in geringer Entfernung langsam in dem dichten Schnee bewegte.

»Im Namen des Vaters, des Sohnes! …« Peter schlug das Kreuzeszeichen. »Verschwinde! Geh zugrunde, du unsaubere Kraft!«

Stefan, der mutigste unter ihnen, ging noch einige Schritte weiter.

»Ein Teufel oder eine Frau?« sagte er mit zögernder Stimme.

»Eine Frau ist es«, begann Simon, »dieses Lumpenweib, das mir kein Geld geben wollte. Diese Hexe … Und ich hab' sie wie die eigene Mutter gebeten … Oho! … Die soll es haben …«

Und er schnellte vorwärts. In wenigen Sekunden lief der angetrunkene Bauer, so schnell ihn die Beine trugen, über den hohen Schnee zu seinem Schlitten. Bald hatte er ihn erreicht. Schwer atmend und fluchend, begann er eine der Querstangen loszumachen, auf welchen der Sitz – ein Strohbündel – lag.

»Sie ist es selbst«, stammelte er, »diese Hexe …, diese Satansfreundin …, diese verfluchte Schmiedefrau … Geld wollte sie mir keines geben. Aber die Menschen läßt sie nachts herumirren … Das ist ihr Handwerk.«

»Sie! Wiederum sie!« schrie Peter, und auch er begann die Querstange aus dem Schlitten herauszureißen.

»Möge die Kraft des Teufels durch, die Kraft Gottes zugrunde gerichtet werden …, möge die Macht Gottes die teuflische überwinden! … Diese Heidenseele …, den Sohn wollte sie mir sterben lassen, und jetzt wieder sollen wir auf dem Felde erfrieren … Na, die soll es nicht erleben! …«

»Was will sie denn von unserer Familie, warum verfolgt sie uns?« schrie Klemens. »Soll ich denn schon in meinen jungen Jahren durch sie zugrundegehen?«

Kein Wort fiel aus Stefans Mund, doch auch er war dabei, die Querstange aus dem Fahrzeug zu holen …

In der schnee-erfüllten Dunkelheit, die über der Welt lag, konnte man ihre Gesichter nicht erkennen, doch aus den schweren und lauten Atemzügen, die aus ihrer Brust kamen, aus dem dumpfen Murren und den trunkenen Ausrufen schlug ein Vulkan der grimmigsten Leidenschaften: der Angst und der Rachsucht.

Kaum eine Minute war vergangen, als in dem dichten Schneegestöber, etliche Meter von den drei eng nebeneinander stehenden Schlitten, ein Knäuel miteinander ringender Menschen sichtbar wurde. Laute Schreie und schreckliches, qualvolles Stöhnen tönte durch die Luft, wurde aber durch das laute Sausen des Windes gedämpft, der es zusammen mit seinem eigenen Pfeifen über die weiten, im Sturm erbrausenden Felder trug …

Nach fünf Minuten hatte eine riesige Sturmwelle für einen Augenblick den Vorhang auseinandergeschoben und den Weg gezeigt, der schnurgerade durch die Ebene lief. Auf dem Wege fuhren drei Schlitten, in welchen vier Bauern saßen. Sie hatten die Macht des Teufels vernichtet und den Weg gefunden; jetzt schlugen sie die Pferde mit der Peitsche, trieben sie mit gedehnten Rufen an und glitten über die ebene Oberfläche der Landstraße hin, bis sie wieder im Schneesturm verschwanden. Hinter ihnen lag wie ein dunkler, unbeweglicher Fleck auf der weißen Erde Petrusia, die Frau des Dorfschmiedes Michael. Mit dicken Holzstangen waren ihr Brustkorb und Rippen zerschmettert worden, sie hatten das junge Gesicht wund und blutig geschlagen und sie auf den leeren, weiten Feldern liegenlassen … Der weiße Schnee sollte sie zudecken. Ihre Leiche sollte den schwarzen Raben und Krähen zum Fräße bleiben …


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