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I.

In Sucha Dolina herrschte eine Bewegung der Gemüter, die an Aufruhr grenzte. Worum ging es den Einwohnern des Dörfchens, das in einer langgestreckten Reihe von vielleicht vierzig Häusern und Gärten ganz malerisch zwischen wogenden Feldern und anschließenden Espen- und Birkenwäldchen lag? Die Mehrzahl der Häuser konnte den Eindruck erwecken, daß in ihnen ein gewisser Wohlstand herrsche. Es gab auch ganz niedrige, ärmliche, sogar etwas baufällige darunter, doch auch solche fehlten nicht, die mit ihren geweißten Schornsteinen, großen Fenstern und ordentlichen, durch Säulen gestützten Vorbauten, in denen Sitzbänke aufgestellt waren, ganz stattlich aussahen. Diese wogenden Felder, oft von kleinen Wäldchen unterbrochen, schienen reiche Erträge zu geben und zeugten vom Fleiß der Besitzer. Dahinter sah man das Grün der Wiese und einige große Weideplätze. In den Gärten wuchs Hanf, die Kartoffeln sahen recht vielversprechend aus, die Kohlköpfe reiften, und die dicht gepflanzten Kirschbäume mußten reichlich Früchte tragen. Not und Armut waren also selten hier zu Gast, und dann nur in den ärmsten der Hütten, denn die wohlhabenden darunter sahen aus, als ob in ihnen weder Milch noch Honig, vielleicht nicht einmal bares Geld fehlte, vom Brot schon ganz zu schweigen. Was beunruhigte also die Einwohner des Dörfchens an jenem herrlichen Sommerabend? Worüber diskutierte der vor einem der reichsten Gehöfte versammelte Weiberhaufen so eifrig, daß sich um ihn alsbald eine Anzahl jüngerer und älterer Kinder ansammelte? Mädchen zwischen dem siebenten und vierzehnten Lebensjahr, in blauen Röcken, grauen Hemden, barfuß, die Köpfe in rote Tücher gehüllt, aus welchen helle Haarsträhnen hervorguckten, standen in langer Reihe am Zaun, legten ihre kleinen und wie die liebe Erde dunklen Hände ineinander und öffneten weit die mit Neugierde gefüllten Augen, in deren Blau und Braun die untergehende Sonne bewegliche Funken entzündete. Sie sahen und hörten eifrig zu, wie die Frauen redeten, gestikulierten und schrien. Auch Jungen verschiedenen Alters standen hinter den Weibern, doch nicht so ruhig und bewegungslos wie die Mädchen, die am Zaun ihren Platz gefunden hatten. Ebenfalls barfuß, mit hellblondem Haar, in graues Leinen gekleidet, drängten sie sich zwischen die Mütter und Tanten und hoben zu den Frauen ihre braungebrannten Gesichter, die sie zu den tollsten Grimassen verzogen, wenn sie die weibliche Schwatzhaftigkeit und Redewut mit der ganzen Unbekümmertheit der Jugend nachahmten. Die älteren zogen die Frauen an den Schürzen und mischten sich ungestüm ins Gespräch; einer der jüngsten, ein etwa Fünfjähriger, in einem bis an die Füße reichenden Hemd, mit starkem und unnatürlich vorgewölbtem Bauch und geschwollenen, gelben Wangen, hielt die Finger ununterbrochen in dem speicheltriefenden Mund und blickte mit seinen blauen, gedankenlosen Augen unentwegt ins Gesicht der Mutter, wobei er von Zeit zu Zeit mit weinerlicher Kinderstimme gedehnt rief:

»Pa … pa! …«

Auf dem schmalen Vorhof der Bauernhütte, vor der sich die Frauen und Kinder drängten, herrschte ebenfalls ein Stimmengewirr, doch bedeutend leiser, denn hier war es durch Männer verursacht, die weniger und nicht so laut wie die Frauen sprachen. Einer von den Männern spaltete, vor der Tür des Ställchens kniend, mit der Axt einen Holzklotz in kleine Stücke und war in diese Arbeit so vertieft, als vollbrächte er eine feierliche und äußerst wichtige Handlung. Dieser Bauer, der jetzt den Kopf gesenkt und den Rücken gebeugt hielt, war nicht mehr jung, doch schlank, stark und rüstig. Er war einer der wohlhabendsten Bauern von Sucha Dolina und Besitzer dieses Gehöftes. Er hieß Peter Dziurdzia. Direkt hinter ihm standen seine beiden Söhne, junge, jedoch schon erwachsene Burschen. Dann war da noch Stefan, in der Bauernsprache Stepan genannt, ein Vetter von Peter, doch diesem überhaupt nicht ähnlich. Er sah der Arbeit seines Verwandten mit finsterm Ausdruck auf dem vorzeitig gealterten, zerknitterten und verwitterten Gesicht zu. Etwas weiter ab stand noch ein Dziurdzia, Simon mit Namen, abgezehrt, abgemagert und traurig, bei jedem Atemzuge Schnapsgeruch verbreitend. Der Schnaps mochte es wohl auch gewesen sein, der das Weiße in seinen Augen rot gefärbt hatte, er trug wohl auch die Schuld daran, daß seine Wangen ganz trocken und gelb geworden waren, daß er ein zerrissenes Hemd anhatte und keine Schuhe an den Füßen, während die anderen in ordentlichen, aus grobem Haustuch gemachten Oberkleidern und derbem, doch ganz gutem Schuhzeug dastanden. Außer diesen fünf Dziurdzias waren da noch einige jüngere und ältere Bauern, mehr oder minder lebhaft, doch alle anscheinend sehr dafür interessiert, was Peter Dziurdzia tat. Mit einem Lächeln auf den Lippen und dem Ausdruck großer Neugierde in den Augen schauten sie einander an, zogen die Schultern hoch und sagten hie und da einige Worte oder riefen sich irgend etwas zu. Vor dem Tor des Hofes dagegen redeten die Frauen immer noch, schrien und gestikulierten; diese oder jene ging beim Reden vor lauter Eifer geradezu in die Knie, oder sie schlug mit offener Handfläche ihre Nachbarin auf Wangen und Schultern. Diese drehte sich dann schleunigst um, stieß die übereifrige Sprecherin zurück und setzte ihre eigenen Auseinandersetzungen bis zur Atemlosigkeit in der denkbar höchsten, furchterregenden Tonlage fort. Mit einer solchen Stimme rief eine von ihnen, indem sie sich der Hütte zukehrte:

»Peter, he, Peter! Wirst du nun bald fertig oder nicht? Inzwischen wird wohl die Sonne untergehen, und Hunde, aber keine Menschen werden da auf den Feldern laufen!«

»Es ist Zeit, daß wir gehen, bei Gott! Es ist Zeit!« wiederholten im Chor einige schrille Frauenstimmen.

Andere fügten noch hinzu:

»Schämt Ihr Euch nicht, Peter, so langsam zu sein? Ei, da sagen noch die Mannsbilder, daß sie stark sind! Dabei hätt' eine Frau dieses Holz schneller gespaltet als er …, der große Bauer!«

Peter Dziurdzia tat, als ob er diese an ihn gerichteten Zurufe nicht gehört hätte, hob den Kopf nicht und bewegte nicht einmal die Lippen. Er hackte das Holz in ganz dünne Späne und ging dabei so feierlich vor, daß es scheinen konnte, als werde er seine Arbeit und sich selbst bald bekreuzigen, so wichtig und beinahe heilig war sie ihm. Zwei in der Nähe stehende Bauern fragten gleichzeitig seinen Vetter Stefan Dziurdzia:

»Hat sie gar nichts? Nicht mal ein bißchen?«

Vergrämt, das Gesicht in Falten, antwortete Stefan:

»Ja, so gut wie gar nichts. Mal gibt sie einen Tropfen, und dann kann man sie totschlagen, nichts mehr, keinen Tropfen für das Kind, wenn es weint …«

»A-a-ah!« wunderten sich laut und gedehnt die Fragesteller.

»Und wie war's früher?« fragte irgend jemand von der Seite.

»Früher« – antwortete der Bauer – »gaben meine Kühe manchmal mehr als ein Vier-Quart-Maß …«

»Beide?«

»Nun, beide.«

»So wie bei mir«, warf der abgezehrte Simon dazwischen, »ich hatte nur eine, aber doch gab sie manchmal vier Quart …«

Die Bauern stießen sich mit den Ellbogen an und zeigten mit den Augen auf das düstere Gesicht Stefans.

Dabei ließ sich eine lustige Stimme vernehmen.

»Oh, armer, armer Stefan! Bei dir ist doch jetzt die Hölle los!«

Und mit einem groben Lachen fügte ein anderer hinzu:

»Die hab' ich gestern gehört, als sie im Haus herumschrie wie eine Besessene …«

»Wer?« fragte irgend jemand.

»Rosalka, Stefan seine …«

»Ein böses Weib, ein böses …«, sagte einer der Sprechenden dazu.

Stefan senkte den Kopf noch tiefer und schwieg.

Da hörte man hinter dem Tor dieselbe weibliche Stimme, jedoch noch schriller und böser als vorher:

»Peter, he, Peter! Wirst du mal fertig oder nicht?«

Einige der Männer begannen zu lachen.

»Oh, paßt auf, wie sich Stefans Frau hören läßt. Die hat's eilig, die Hexe zu greifen. He, Peter, komm doch rasch, denn wenn sie nach ihrer Art böse wird, dann gibt's nichts zu lachen … Mit der wirst du nicht fertig …, die gibt dir paar aufs Kreuz! …«

Peter gab die Axt einem der Söhne, der sie ins Haus bringen sollte, stand selbst auf, doch wohl nicht, weil er Angst hatte vor dem Zorn der Frau, sondern weil er mit seiner Arbeit fertig war. An der Wand des Ställchens lag ein großer Haufen trockener, zum Feuermachen ausgezeichnet geeigneter Späne. Er bückte sich, nahm den Stoß auf die Arme und ging mit seiner Last vor das Tor seines Hofes. Hier wurde er durch die versammelten Frauen mit Geschrei empfangen und von einem Schwarm Kinder umringt. Die Mädchen verließen ihre Plätze am Zaun, doch näherten sie sich ihm nur langsam, während die Jungen wie kleine Fohlen umhersprangen, brüllten, tobten und um sich schlugen.

»Weg mit euch! Weg!« schrie Dziurdzia die Kinder an, die daraufhin auch nach allen Seiten auseinanderliefen, doch in der Nähe stehenblieben und den Stoß Holz auf seinen Armen anblickten, als hätten sie so etwas in ihrem Leben noch nie gesehen. Eine der Frauen, diejenige, die am lautesten schrie, groß, mager, dunkel im Gesicht, mit schwarzen, stechenden Augen, sprang vor, stemmte die Arme in die Hüften und schrie:

»Ist es auch Espenholz?«

»Gewiß, was denn sonst für welches?« antwortete verächtlich der ernste Bauer.

»Ist es aber bestimmt Espenholz?«

Schnell, mit verbissener Hartnäckigkeit, begann sie jetzt zu schnattern:

»Denn wenn es kein Espenholz ist, dann wird nichts daraus … Wenn es ein anderes Holz ist, kommt die Hexe nicht. Nur wenn es Espenholz ist … Schwöre, Peter, daß du Espenholz gespalten hast, schwöre, leg gleich jetzt die Finger über Kreuz und schwöre, daß es Espenholz ist …«

Vom schnellen Sprechen ging ihr der Atem aus, sie zerrte Peter am Jackenärmel und stieß mit den Ellbogen die anderen Frauen von sich, die sie am Hemd und an den Armen zogen und so die Hitzige zu beruhigen suchten. Auch Stefan versuchte es. Seine dunklen Augen blitzten auf; mit geballter Faust schlug er seine Frau ins Kreuz, daß sie von dem starken Stoß davontaumelte und gewiß hingefallen wäre, wenn sie sich nicht mit einer Hand am Zaun festgehalten hätte. Doch rasch wie ein Blitz, geschickt wie ein Eichhörnchen sprang sie an ihren Mann heran, schlug ihn ins Gesicht, daß es laut knallte, und ohne sich weiter um ihn zu kümmern, lief sie hinter Peter her, versperrte ihm den Weg und wiederholte in verschiedenen Tonlagen immer dasselbe:

»Ist es auch Espenholz? Bestimmt Espenholz? … Schwöre, Peter, daß es auch Espe ist!«

In der Menge, die Peter folgte, begann man grob und piepsend zu lachen. Stefan ging gesenkten Hauptes und schweigend weiter. Die vom Schlag seiner Frau rot angelaufene Wange berührte er nicht einmal, doch in seiner dunklen und dicken Gesichtshaut bildeten sich plötzlich so viele Fältchen, daß keine einzige glatte Stelle darauf zu finden war. Die glitzernden Augen blickten auf den Boden, und zwischen den zusammengebissenen Zähnen stieß er einen kurzen, deutlichen Fluch hervor. Vielleicht schämte er sich und bebte vor Zorn.

»Eine Schande ist es«, sagte laut die Frau von Peter Dziurdzia, eine ältere, sichtlich kranke, doch immer noch hübsche Frau, von allen am besten gekleidet und die ruhigste unter ihnen, »Jahrzehnte lebe ich schon mit dem meinen zusammen, Söhne hab' ich großgezogen, daß sie wie die Eichen wurden, doch Streit hat es nie zwischen uns gegeben, auch keine Schlägereien, bei Gott nicht.«

»Eine Schande!« wiederholten einige Stimmen, und einer der Bauern sagte lächelnd und auf Stefan zeigend:

»So ein Mann ist er? Die Frau läßt er das erste Wort haben! Ich hätte sie …«

Lauter als all die Unterhaltung erklang wieder Rosalkas Stimme, doch diesmal schärfer, voll Verzweiflung, als ob man sie bedroht hätte:

»Ist es auch Espenholz? Bestimmt Espenholz? Schwör, Peter, daß es wirklich Espe ist! …«

Ein alter, kleiner, magerer Bauer, den man Jakob Schischko nannte, trat aus der Menge hervor, näherte sich der Frau, die der Zweifel an der Richtigkeit des gehackten Holzes in eine Art von Raserei versetzt hatte, und sprach ernst auf sie ein:

»Red keinen Unsinn, Rosalka! Ich war doch selbst dabei und habe gesehen, daß es Espenholz war … Auch ich bin von dem Unglück betroffen … Auch ich möchte diese verfluchte Hexe zu Gesicht bekommen … Meinst du, ich hätt' erlaubt, daß man ein anderes Holz nimmt und nicht Espe? …«

Auf Rosalka wirkten diese ruhigen Worte wie eine kalte Dusche. Sie beruhigte sich, schwieg, ließ von Peter etwas ab und schritt weiter an der Spitze der Frauen, unruhig, ungleichmäßig und rasch, wie das eben heftige und unruhige Naturen tun. Mit der Zeit wurde der Menschenhaufen jedoch immer kleiner. Auf den Vorplätzen der Gehöfte brüllten die Kühe, die gerade von der Weide gekommen waren; man hörte die zitternden, stöhnenden Stimmen der Schafe, Pflüge und Eggen standen noch so umher, wie sie die neugierigen Besitzer, die es eilig zu haben schienen, stehengelassen hatten. Hier und dort hatte irgend jemand, der zu Hause geblieben war, Feuer angemacht, und der hinter den kleinen Fenstern sichtbare Schein mahnte, daß es Essenszeit war, und lud zum Abendessen ein. So verließen Männer und Frauen den Zug und verschwanden hinter den Umzäunungen der Gehöfte oder in den Häusern. Vorher fanden sie sich jedoch nochmals in kleinen Grüppchen zusammen, um sich einen Augenblick lang einige abgerissene Worte zuzurufen, in die sie alles hineinzulegen versuchten, was sie zuletzt empfunden hatten.

»Theater!« sagten achselzuckend die einen.

»Der Teufel soll solch ein Theater holen«, antworteten ärgerlich die Frauen. »Ein Elend ist das, ein Unglück, eine Not sondergleichen, aber kein Theater …«

»Wer mag wohl nur, wer mag wohl nur diese Hexe sein?«

»Kommt sie nun auf das Feuer, oder kommt sie nicht?«

Diese letzte Frage hing allen auf den Lippen; alle wiederholten sie: Männer, Frauen, Kinder, alt und jung, in den Hütten, Viehställen, Ställchen, auf den Vorhöfen und an den Brunnen mit den quietschenden Schwengeln, wo die Mädchen Wasser holten.

»Kommt sie auf das Feuer oder nicht?«

Die ältesten gaben da zur Antwort:

»Warum sollte sie nicht kommen! Seit jeher ist sie gekommen, und so muß sie auch jetzt kommen …«

Langsam und ernst schritt Peter Dziurdzia inzwischen weiter. Als er seinen Hof verlassen hatte, hatte er auf sein dichtes, ergrautes und langes Haar eine alte, mit abgeschabtem Pelzwerk verbrämte Mütze gesetzt. In seinem langen, rot gefärbten Überrock aus Leinen, in den kniehohen Stiefeln, in der Mütze, deren Fetzen seine dichten Augenbrauen bedeckten, mit dem großen Holzstoß auf den Armen, sah er einem Priester ähnlich, der eine wichtige Ritualhandlung zum Wohle der Gemeinschaft zu vollziehen hat. Sein schmales, von einem kurzen Bart umrahmtes Gesicht erschien nicht finster oder zornig, vielmehr sehr nachdenklich und fast feierlich. Er schwieg wie ein Grab. Seine grauen Augen, in denen tiefe Demut, eine heimliche Bitte zu lesen war, blickten starr geradeaus. Man sah ihm an, daß er in diesem Augenblick in den Tiefen seiner Seele innige Gebete sprach. Unmittelbar hinter ihm gingen seine beiden Söhne, großgewachsene, blondhaarige Burschen mit offenen und heiteren Gesichtern. Dann folgte, mit schweren Schritten, Stefan, den Kopf tief auf die Brust gesenkt, und neben ihm, in abgerissenen Kleidern und mit dem Gesicht eines Säufers, schleppte sich Simon Dziurdzia dahin. Sehr ernst und gemessen schritt der alte, kleine, grauhaarige Jakob Schischko. An Frauen blieben nur die drei Frauen der Dziurdzias beim Zug und ganz am Ende ein munteres Mädchen, das immerzu Klemens Dziurdzia fröhlich anblickte. Die Kinder, die Jungen wie auch die Mädchen, die gern mitgelaufen wären, hatte man davongejagt, und nur der kleine fünfjährige Junge im Hemd mit dem aufgedunsenen Bauch und den verquollenen Backen ließ sich nicht vertreiben. Mit kleinen, ganz kleinen Schrittchen trottete er auf der schwarzen, unebenen Straße hinter den anderen her, und von Zeit zu Zeit hörte man ihn gedehnt und weinerlich rufen:

»Pa … pa!«

Die Erwachsenen beobachteten jedoch die Rufe des kleinen Kindes nicht. Hie und da sah man die Tauben von den Dächern aufsteigen und mit süßem Gurren auf silbernen, rötlich schimmernden Schwingen in den Lüften schweben; stolze, buntgefiederte Hähne, erschreckt durch den lauten Schritt so vieler Menschen, erhoben sich schwer, flogen eine kurze Strecke und ließen sich auf den nahen Zäunen nieder. Durch die geöffneten Tore stürzten gelbe, schwarze und gefleckte Hofhunde heraus, die neugierig oder gleichgültig den Vorbeiziehenden nachblickten, nachdem sie erkannt hatten, daß es keine Fremden waren. Dort, weit hinter dem Dorf, hinter Feldern und Wiesen, mußte die Sonne bald untergehen, denn ihre letzten Strahlen warfen auf die Wände der Häuser und die Gesichter der Menschen einen unbeständigen, blaßroten Schimmer. Die eben noch rubinrot beleuchteten Fensterscheiben wurden mit jedem Augenblick blasser, heller – als ob sie erloschen, doch um so öfter wurden sie jetzt von innen durch den Schein der Feuerstätten vergoldet. Die aus den Schornsteinen emporsteigenden Rauchsäulen, die erst silbern und blaßrot geschimmert hatten, wurden jetzt grau. Immer leiser hörte man die Rinder brüllen und die Schafe blöken, immer undeutlicher wurden die Geräusche aus geöffneten und geschlossenen Toren – bis alles still wurde.

Hinter dem Dorf, weit hinter den Feldern und Wäldern, umschlossen Wolken im Halbkreis den westlichen Himmel; die Sonnenstrahlen färbten ihre Tiefen zwar immer noch purpurn und violett, doch die Sonnenkugel selbst war nicht mehr zu sehen, über diesen letzten, immer noch grellen Strahlen erhob sich das blasse und fast lilafarbene und in seiner Mitte beinahe saphirblaue Himmelsgewölbe hoch über der Erde, auf die ganz langsam eine so durchsichtige klare Dämmerung fiel, daß der blaue Himmel deutlich das Gelb der Stoppelfelder und welkenden Wiesen, das graue Grün der Wälder und das Weiß der sandigen Straßen, die die Felder durchquerten, widerspiegelte. Nicht ganz eine Werst von den letzten Häusern des Dorfes zweigten von einem Punkt vier Wege in vier verschiedene Richtungen ab. Einer von ihnen führte zum Dorf; der zweite, gewellt wie das Land, das er durchquerte, endete irgendwo in der dem menschlichen Auge unerreichbaren Ferne; der dritte – glatt und schnurgerade – mündete in den Tiefen des nächstliegenden Waldes; der vierte, der kürzeste, hier und da von Weidenbäumen und wildem Flieder umsäumt, endete an der Umzäunung eines einzelnen Hauses, das abseits und etwas entfernt vom Dorfe im Schatten einiger alter Bäume stand. Unweit vom Haus erblickte man ein kleines, niedriges, fensterloses Gebäude, in dem ein kundiges Auge ohne Mühe die Dorfschmiede erkennen konnte. Es war also eine vierarmige Wegkreuzung, ein Kreuzweg. Dort, wo ihre vier Arme in vier verschiedene Richtungen auseinanderliefen, stand zwischen grünen Hecken, die die Felder säumten, ein altes, hohes Kreuz. Ihm gegenüber, getrennt durch das schmale Band des Weges, lag ein riesiger, vom grauen Moos bewachsener Stein. Einige Schritte von diesem Stein blieb Peter Dziurdzia stehen, warf seine Last auf die Erde, richtete sich hoch auf, und in diesem Augenblick entrang sich seiner Brust ein tiefer Seufzer. Einmal noch richteten sich seine Blicke hoch gegen den Himmel, dann zog er aus der Tasche seines Überrockes den Feueranzünder heraus und begann schweigend damit Funken zu schlagen. Auch seine Begleiter schwiegen. Sie standen dicht zusammengedrängt, blickten unverwandt auf seine Hände, und es schien, als hätten sie den Atem in der Brust angehalten. Wahrscheinlich hatten sie alles vergessen, was nicht unmittelbar zu der außergewöhnlichen Handlung gehörte, um deretwillen sie hierhergekommen waren. Stefans Frau preßte ihre schmalen Lippen fest zusammen, die Frau von Peter aber und einer seiner Söhne sperrten den Mund so weit auf, daß ein kleiner Vogel bequem hätte hineinfliegen können. Jakob Schischko stand hochaufgerichtet und so feierlich da, daß er weit größer als sonst erschien. Seine Enkelin, jenes muntere Mädchen, das auf dem Herweg Klemens Dziurdzia so gerne angeblickt hatte, verkroch sich jetzt, von Neugier und Angst hin und her gerissen, hinter den breiten Schultern des hübschen Burschen, kuschelte sich dicht an ihn heran und preßte das Gesicht fest an seinen Arm. Der hübsche Bursche, auf den von allen Anwesenden die beginnende Zeremonie am wenigsten Eindruck machte, bemerkte die Annäherung des Mädchens sehr wohl und verzog die Lippen zu einem halb freudigen, halb spöttischen Lächeln. Es schien überhaupt, daß er die muntere Franziska, wie auch alles, was um ihn herum geschah, nicht ganz ernst nahm. Da bückte sich Peter Dziurdzia tief zum Boden und eine helle Flamme loderte plötzlich zwischen den mitgebrachten dürren Holzspänen auf. Bei diesem Anblick schrien die vier anwesenden Frauen einstimmig und laut:

»O Jesus!«

Warum ergriff sie beim Anblick des Feuers eine so heftige Angst? Warum wurden sie so erregt? Der Anblick des Feuers durfte ihnen nicht fremd sein. Sie waren an ihn gewöhnt seit dem ersten Tag ihres Lebens, sie sahen es doch von früh bis spät. Hier aber verhielten sie sich, als ob sie noch nie Feuer gesehen hätten. Alle vier riefen zusammen den Herrgott an, doch Stefans Frau jammerte noch weiter:

»O Gott, o Gott! Oh, barmherziger Gott!«

Die Frau des Peter seufzte tief auf, und die des Simon wiegte den Kopf nach rechts und links und seufzte ebenfalls. Franziska ergriff dagegen mit beiden Händen den kräftigen Arm von Klemens und drückte ihn so stark, daß der Bursche sie mit dem Ellbogen wegstieß und verächtlich anknurrte:

»Laß doch! Was hängst du dich so an mir fest … wie eine Klette!«

Doch das Mädchen – die Klette – ließ nicht los, sondern preßte sich noch fester an die Schultern des Burschen und stöhnte ihm ins Ohr:

»Oh, Klemens, Klemens, Klemens! Oh, oh, Klemens!«

Die Männer schwiegen. Auch die Frauen wurden sehr bald ruhig, preßten die Lippen zusammen oder sperrten den Mund weit auf und warteten mit angehaltenem Atem. Alle warteten sie … Doch worauf? Der Holzhaufen, der zuerst nur am Boden Feuer gefangen und nur unten gebrannt hatte, wurde immer mehr von der Flamme ergriffen, deren beißende Zungen höher und höher schossen.

Still war es auf den Feldern, weit und breit war nichts zu sehen. Die im Westen am Himmel hängende Wolke erlosch vollständig, und nur der hinter ihr verborgene Feuerkranz der Sonne erleuchtete blaß und goldig den Horizont. Irgendwo in der Ferne, hinter den Anhöhen, vernahm man das entfernte Rollen eines fahrenden Wagens, doch auch das verstummte bald; vom Dorfe her klang Hundegebell und leises, undeutliches, dumpfes Gewirr menschlicher Stimmen; auf keinem der vier Wege, die am Kreuz auseinanderstrebten, war eine Menschenseele zu sehen. Nur dort, wo einer der Wege gerade an der Schmiede endete, leuchtete die Tür der Werkstatt in rotem Glanz. Man konnte etliche Hammerschläge hören, die vom Echo am nächsten Wäldchen laut und gedehnt zurückgeworfen wurden. Lange Zeit schwieg dann auch der Hammer des Dorfschmiedes; dafür schrie im Geäst der Weidenbäume, die am Wege zur Schmiede standen, einige Male weinerlich und winselnd das Käuzchen. In der Menschengruppe, die sich um das Feuer dort am alten, bemoosten Stein zusammendrängte, sagte plötzlich eine frische, laute Männerstimme: »Ist es überhaupt wahr?«

Alle, sogar der ernste, nachdenkliche Peter Dziurdzia, sahen sich nach dem Sprechenden um. Es war der großgewachsene, hübsche Klemens.

»Was ist los? Was ist los? Was redest du da für Sachen?« plapperte die Frau Stefans schnell.

»Stimmt es denn überhaupt, daß die Hexe auf das Feuer kommen wird?« wiederholte der Bursche und trat von einem Bein auf das andere.

Diesmal machten alle Frauen den Mund weit auf, und Franziska begann wieder halblaut zu stöhnen:

»Oh, Klemens, Klemens!«

Doch der graue, schmächtige Jakob Schischko sagte mit feierlicher Stimme:

»Seit jeher war es so. Schon als die Großväter und Urgroßväter lebten. Warum sollte sie also jetzt nicht kommen?«

»Freilich!« wiederholten viele Stimmen.

Klemens trat wieder von einem Bein aufs andere, und – diesmal nicht mehr so mutig wie vorher – antwortete er:

»Vielleicht gibt es auf der Welt überhaupt keine Hexen!«

»Wen gibt es nicht?« schrie Stefans Frau.

»Nu, Hexen …«, sagte der Bursche, doch diesmal schon recht unsicher.

Doch gegen solche extremen Zweifel brach jetzt ein heftiger Sturm los. Rosalka stemmte beide Hände in die Hüften und sprang an Klemens heran.

»Hexen gibt es nicht?« schrie sie auf, »und warum haben die Kühe keine Milch mehr? Wie? Warum haben sie keine mehr? Oder lüge ich etwa, daß sie keine mehr haben? Wenn du meinst, daß ich lüge, dann frage deine Mutter, ob es stimmt! Frag Simon und Jakob und alle anderen! … Oh, ich Arme! Nicht einen Tropfen Milch geben die Kühe …, nicht mal ein bißchen für das Kind … Und der hier sagt, daß es keine Hexen gibt … Oh, meine arme Seele! Oh, du unflätiger Mensch, du Ungläubiger! Du ›Häretiker‹, du! O Gott, behüte uns! …«

In diesen Redeschwall der schreienden Frau gelang es Klemens noch einige Worte einzuwerfen, doch – wie es schien – mehr aus Spottlust und um sie zu ärgern als aus innerster Überzeugung.

»Ist doch klar! Trocken ist es, daß uns Gott behüte. Und das Futter ist schlecht! Da ist eben die Milch weggeblieben …«

Doch diesmal wandte sich Peter Dziurdzia, der diesen feierlichen Akt zelebrierte, selbst an den Sohn und sagte mild, doch sehr nachdrücklich und ernst:

»Siehst du, Klemens, wenn unsere Ahnen und Urahnen dran glaubten, dann ist es auch wahr. Rede kein unnützes Zeug und warte! Vielleicht erleben wir Unwürdigen doch ein göttliches Wunder, und die, die uns so böse zusetzte, kommt doch, angerufen durch das Feuer des Espenbaumes, an dem sich Judas erhängte, diese Hundeseele, die Jesus Christus in die Hände der Juden auslieferte. Amen.«

Dieser Rede antworteten einige tiefe und laute Seufzer, die jedoch durch die stöhnende, laute und vor Erregung zitternde Stimme von Stefans Frau übertönt wurden:

»Ist es auch Espenholz? Bestimmt Espenholz?«

Doch Jakob Schischko beruhigte die aufgebrachte Frau mit einer energischen Bewegung, und es wurde wieder ganz still ringsum. In den niedrigen Weidenbäumen schluchzte nochmals das Käuzchen auf, und eine müde, schwache Kinderstimme begann einige Schritte hinter den Erwachsenen zu jammern: »Pa … pa!«

Niemand beachtete das arme, schwache Stimmchen – außer Stefan, der sich umblickte, einige Schritte heranging und mit dumpfem, scheltendem Gemurmel den kleinen Jungen mit dem aufgedunsenen Bauch und den tränenerfüllten Augen hochnahm, der nach wie vor die Finger im Mund hielt. Es war sein und Rosalkas einziger Sohn. Scheltend und murmelnd hob er ihn vom Boden hoch, doch bald legte er den Arm um den Kleinen, drückte ihn an die Brust und schlang um seine kleinen, vom Abendtau nassen Füße die langen Schöße seines Überrocks. Das blasse Kind neigte den Wasserkopf auf die Schultern des Vaters und schloß bald die Augen. Wahrscheinlich brauchte es ganz dringend jene gute, heiße Milch, die seinen Eltern die böse Hexe gestohlen hatte!

Immer noch war es ruhig, ganz ruhig. Auf dem Felde und auf den Wegen war niemand zu sehen. In der Schmiede schlug der Hammer noch einige Male auf den Amboß; das Echo wiederholte die Schläge am nahen Wald. In der stillen Luft brannte das Feuer langsam, doch die Flammen schlugen immer höher. Peter warf noch einen tüchtigen Stoß Holz hinzu (Rosalka hätte in diesem Augenblick am liebsten wieder gefragt: »Ist es auch Espenholz? Bestimmt Espenholz?«, doch sie hatte Angst vor Peter und dem alten Schischko, schwieg deshalb und zupfte nur mit beiden Händen ungeduldig an ihrer Schürze herum), und die Flamme sprang hoch. Ihr Glanz fiel auf das gegenüberliegende Kreuz und kletterte immer höher an ihm hinauf – bis an seine seitlich ausgestreckten Arme … Als die Herumstehenden unvermittelt auf das Kreuz blickten und es in goldenem Schimmer erglänzen sahen, neigten sie alle die Köpfe und schlugen langsam und andächtig das Kreuzzeichen …

Eben in diesem Augenblick ertönte hinter einigen Bodenwellen auf dem Wege, dessen wogendes Band sich weit, weit von hier in den Anhöhen verlor, ein noch sehr entfernter, doch lauter Gesang. Melodisch und breit erklang dieser Gesang über den ruhigen Weiten, den leeren Feldern, über der schlummernden Erde. Eine Frauenstimme sang eine ruhige und sehnsuchtsvolle Weise. Stark, rein und deutlich waren in der klaren Luft die Worte des Liedes zu hören, sie sprachen von Liebe:

»Übers Wasser, übers tiefe,
Reich' ich meine Hände dir,
über Sümpfe, über Bäche,
Liebes Herze, komm zu mir!«

Auf den Gesichtern der Menschen, die dem Kreuze gegenüberstanden, zeichneten sich nacheinander Genugtuung, Schrecken und vor allen Dingen Neugierde ab. Selbst der ungläubige »Häretiker« Klemens sperrte die Augen weit auf, hob die Hand, um zum zweiten Male das Kreuzzeichen zu machen, doch in der Erregung blieb ihm der Arm in der Luft hängen.

»Sie kommt! Sie kommt schon!« flüsterten die Frauen.

Aus Angst vor der Hexe duckte sich Franziska bis auf die Erde, klammerte sich jedoch dabei fest mit beiden Händen an den Überrock des jungen Klemens.

Ohne ihren Gesang zu unterbrechen, kam die unsichtbare Sängerin immer näher.

»Wo waren denn deine Gedanken, mein Mädchen?
Sage die Wahrheit, wen liebst du denn?
Ich weiß, ich weiß schon, wer ist mein Liebchen,
Nur wen ich heirat', das weiß ich noch nicht!«

Einmütig blickten sich diesmal die Frauen der drei Dziurdzias an.

»Ist es etwa die Frau des Schmiedes?« flüsterte Peters Frau.

»Gewiß«, antwortete die Frau des armen Simon, »so singt keine andere. Das kann nur sie sein.«

Stefans Frau wurde von einem leidenschaftlichen Zittern ergriffen; entgegen ihrer Gewohnheit sagte sie nichts. Doch in dem Blick, den sie dem hinter ihr stehenden Mann zuwarf, lag Bosheit und Verachtung. Und seltsam! Stefan streckte den Kopf so weit nach vorn und beugte den Oberkörper so weit vor, als ob er mit seinen Blicken den Hügel durchbohren und die Frau sehen wollte, deren Stimme man bis hierher hören konnte. Durch die gewaltsame Anspannung aller Muskeln glättete sich die dunkle Haut seines Gesichtes fast völlig, und nur die durchfurchte, zerknitterte Stirn überschattete seine Gesichtszüge mit dem Ausdruck des Leidens.

Auf dem Gipfel des gegenüberliegenden Hügels erschien jetzt die Gestalt einer Frau. Ihre Gesichtszüge konnte man aus der Ferne noch nicht erkennen. Ohne das Lied zu unterbrechen, stieg sie rasch von der Anhöhe herunter.

»Ich werde wohl gehen in den Wald, in das Wäldchen,
Wo immer noch blühen die winzigen Blättchen.
Dort ging ich immer, dort sprach ich ihn,
Gott sei mir gnädig …«

Da brach die Stimme der Sängerin jäh ab und schwieg. Die Frau befand sich jetzt einige Schritte vor dem brennenden Holzstoß und blieb wie angewurzelt stehen. Im Licht des untergehenden Tages, beleuchtet vom Schein des brennenden Feuers, zeichnete sich ihre Gestalt und ihr Gesicht mit der Deutlichkeit einer Plastik vom Hintergrund ab. Sie war noch jung, großgewachsen, kräftig und hatte eine schöne Figur. Unter dem hochgeschürzten, blauen Rock sah man kräftige, nackte Beine; die Füße versanken ganz in dem dichten Gras. Sie hatte nur den blauen Rock an, ein graues Hemd und eine große, gestreifte Schürze, die mit zwei Bändern fest um die Hüften gebunden und mit einer Menge anscheinend eben erst gesammelter Kräuter gefüllt war. Sie ergossen sich auch über die Ränder der Schürze und hingen, eng miteinander verflochten, bis auf den Boden herab. Es waren lilafarbener Quendel, Brunellenkräuter, weißer und roter Klee, sternförmige Kamillen und himmelblaue Wegwarte. Außerdem hielt sie auf den Armen ein riesiges Bündel lang- und hartstieliger Pflanzen, die mit Königskerzen und Tausendgüldenkraut vermengt waren. Dieses Bündel war so groß, daß es die ganze Brust und einen Teil des Gesichts verdeckte, so daß nur der zur Hälfte von einem roten Tuch verhüllte Kopf darunter zu sehen war. Unter dieser Kopfbedeckung kamen dichte, kurze, dunkle, verwirrte und glanzlose Haarsträhnen hervor und fielen von allen Seiten auf das graue Hemd, den braungebrannten Nacken und die schmale Stirn. Das durch Blumen und Haare halbverdeckte Gesicht sah weder schön, noch ungewöhnlich aus; braungebrannt, von einem rötlichen Schimmer überzogen, mit einem kirschroten Mund, gerundeten Wangen und einer lustigen Stupsnase, wurde es aber von zwei großen mandelförmigen Augen erleuchtet, deren graue, glänzende, beredte Pupillen zu sprechen, zu liebkosen und zu singen schienen … Mit den nackten, vom Glanz des Feuers rosa gefärbten Beinen, mit den vielen, vielen Blumen im Arm, den Kräutern, die sich über die Ränder der Schürze ergossen und die Brust verdeckten, mit ihren zerzausten Haaren und dem glänzenden, mutigen und lachenden Blick blieb sie am Kreuze stehen, das von oben bis unten im Glanz der Flammen leuchtete. Aus den ersten Worten, die sie sprach, klang etwas Verwunderung und Verlegenheit hindurch:

»Ah«, sagte sie, »was macht ihr denn hier, ihr Leute?«

Doch bald, als ob ihr etwas längst Bekanntes eingefallen wäre, fügte sie hinzu:

»Wollt ihr eine Hexe mit dem Feuer locken? Oder etwa nicht?«

Dann nickte sie mit dem Kopfe und sagte, schon ganz bei der Sache:

»Ach ja, die Kühe haben keine Milch!«

Sie wiegte den Kopf nach beiden Seiten und sagte verwundert, mit gedehnter Stimme, wieder:

»Ah! Hm, hm, hm! Das sind ja sonderbare Dinge!«

Über allen anderen lag tiefes Schweigen. Es konnte scheinen, als hätten sich die Seelen all dieser Menschen jetzt zu einer einzigen verschmolzen. Wie gebannt blickten sie die Frau an, als ob sie den scharfen Stachel all ihrer Gefühle, ihres Denkens durch ihre Blicke mit ganzer Kraft in sie hineinbohren wollten. Mit vorgestrecktem Kopfe starrten alle sie an, doch in aller Augen war vorläufig noch nichts anderes zu sehen als nur tiefe Verwunderung und ein klein wenig Ekel. Doch die glühenden, bösartig funkelnden Blicke von Stefans Frau wanderten ständig und rasch zwischen dem Gesicht ihres Mannes und dem der Frau, die am rötlich glänzenden Kreuz stand. Stefans Gesicht hatte einen ganz eigentümlichen Ausdruck angenommen. Ein trübes Lächeln innerer Genugtuung und eines eigentümlichen Wohlgefallens umspielte seine Lippen, huschte über das ganze Gesicht und wischte vollkommen die gewöhnliche Finsterkeit seiner Züge hinweg. Sie wurde durch ein etwas dumpfes, doch den Mann ganz durchdringendes Entzücken abgelöst. Er blickte die Schmiedefrau an und konnte von ihrem Anblick nicht genug bekommen. Die Frau mit der Schürze voller Kräuter sagte inzwischen wieder:

»Nanu, ist sie denn schon vorbeigegangen?«

Niemand antwortete ihr, und in ihren glänzenden und lachenden Augen blitzte jetzt Unruhe auf.

»Na und?« wiederholte sie zum zweiten Mal. »Habt ihr die Hexe gesehen? Ist sie schon vorbei?«

Diesmal antwortete ihr aus dem Häufchen die sanfte, doch ernste Stimme Peter Dziurdzias:

»Solltet Ihr denn nicht wissen, daß die erste, die am Feuer vorbeigeht, eine Hexe ist?«

»Na und ob!« antwortete die Frau im Tone tiefster Überzeugung. »Wie sollte ich es nicht wissen, gewiß weiß ich's. Und wer ist denn zuerst vorbeigegangen?«

Zwei ernste männliche Stimmen, von denen eine Peter Dziurdzia, die andere Jakob Schischko gehörte, antworteten ihr: »Du.«

Und einen Augenblick später, als ob eine Rakete in die Luft hinausplatzte, schrie eine Frauenstimme, aus der man alle Abstufungen der Leidenschaft heraushören konnte, die sich zur Raserei steigerte und gleichzeitig von einer Traurigkeit erfüllt war, die an Verzweiflung grenzte, immer wieder dieselben Worte, die sie ununterbrochen und schier unendlich wiederholte:

»Du, du, du, du, du!«

Nur dieses eine Wort konnte die Frau Stefans hervorbringen, denn sie zitterte am ganzen Körper, und aus ihren glühenden Augen rollten auf die dunklen, mageren Wangen große, schwere Tränen. Sie lachte, weinte zugleich, stampfte mit den Füßen auf den Boden, fuchtelte mit den Armen und drohte irgend jemandem mit geballten Fäusten:

»Du, du, du, du!«

»Ich?« stammelte die Frau am grell erleuchteten Kreuz und ließ die Arme sinken, so daß die gelben Königskerzen und die weiße Schafgarbe ins Gras fielen und ihre nackten Füße bedeckten.

»Ich?« wiederholte sie wieder und legte auf dem Rock ihre dunklen, abgearbeiteten Hände zusammen. Ihre kirschroten Lippen öffneten sich weit, und in den Augen huschte Entsetzen vorbei. Das dauerte aber nur einen einzigen Augenblick, und gleich begannen auf ihren rosigen, vollen Wangen, auf der schmalen Stirn und um die geöffneten Lippen viele lustige, schelmische Schatten zu spielen. Nachdem sie die Verwunderung und die Überraschung überwunden hatte, begann die Frau plötzlich aus vollem Halse laut und haltlos zu lachen. Wie vor kurzem das Lied, so tönte jetzt das Lachen über Felder und Wege. Man spürte in diesem Lachen eine lebendige und lustige Seele, so etwas wie kindliche Naivität oder die ungetrübte Lustigkeit eines Vogels.

»Ich, ich«, rief sie lachend, »ich bin als erste auf euer Feuer gekommen! Ich habe den Kühen die Milch weggezaubert? Oh! Leute, Leute, was habt ihr da ersonnen! Seid ihr denn verrückt geworden? Seid ihr denn alle nicht bei Trost?«

Und sie lachte auch weiter so laut und heftig, daß sie beide Arme in die Hüften stemmte und ihren starken, schönen Körper nach allen Seiten wiegte. Und als sie aufgehört hatte zu lachen, mußte sie sich mit den Fäusten die Tränen von den Augen wegwischen und – immer noch mit dem Rest des Lachens in der Brust – spuckte sie laut vor sich hin.

»Pfui«, rief sie, »etwas so Häßliches einem Christenmenschen nachzusagen! Schämt ihr euch denn nicht?«

Für einen Augenblick bückte sie sich und sammelte die verstreuten Blumen und Kräuter wieder vom Boden auf. Dann richtete sie sich hoch auf, und dicht an den anderen vorbeigehend, sagte sie ihnen noch:

»So steht nur und wartet auf eure Hexe, denn so wahr es einen Gott im Himmel gibt, so wahr ist es, daß euch noch keine Hexe erschienen ist! … Ich hab's eilig zum Mann und zu den Kindern! Bleibt gesund!«

Und sie nickte den Versammelten so lustig und wohlwollend zu, als ob sie das, was man ihr zugetraut hätte, schon längst vergessen hätte. Rasch ging sie jetzt jenen Weg entlang, der zu dem einsam stehenden Haus und der daneben stehenden Schmiede führte. Sogleich begann sie eines der lustigen, lebhaften Dorflieder zu singen:

»Hili, hili, graue Gänschen,
Gänschen hier auf meiner Hand!
Oh, wenn einst die weißen Händchen
Drücken wird das Eheband!«

Die am Feuer wartenden Menschen blieben schweigend und mit gesenkten Köpfen stehen. Als erster unterbrach Peter Dziurdzia das Schweigen:

»So hat uns der liebe Gott diejenige gezeigt, die uns so böse mißhandelt.«

Die Frauen von Peter und Simon seufzten laut auf, die von Stefan sprang dagegen hoch und stellte sich vor ihren Mann, der mit beiden Armen das Kind festhielt. Sie preßte die Fäuste in die Seiten, beugte sich weit vor, bohrte die Blicke in das Gesicht des Mannes und stieß durch die Zähne hervor:

»Eine Hexe ist die Schmiedefrau! Eine Hexe ist deine Liebste! Eine Hexe – dein Herzallerliebstes!«

Man konnte glauben, daß sie ihm mit diesen drei Ausrufen drei Ohrfeigen versetzte. Er neigte den Kopf zu dem schlafenden Kind, sah finster und bekümmert aus, doch nicht mehr und nicht weniger als sonst. Die Frau schien er gar nicht zu sehen, ihre aufgeregten, pfeifenden Worte gar nicht zu hören, und wie zu sich selbst sagte er leise:

»Ich hab's ja schon längst gewußt, daß sie eine Hexe sein muß.«

Die muntere Franziska ließ die Schultern und den Arm des hübschen Burschen, und nach der Richtung hingewandt, in der die Frau des Dorfschmiedes verschwunden war, dachte sie über etwas angestrengt nach, hielt die Finger an die Lippen und überlegte. Da man kein neues Holz mehr hinzuwarf, ging das Feuer langsam aus, und sein Glanz kroch schon vom Kreuz herunter, so daß es in der Dämmerung jetzt groß, schwer und schweigend dastand. Die Menschen, die mit Hilfe des Feuers eine Hexe gefangen hatten, so wie man mit einer Kerze Schmetterlinge fangen kann, hätten schon in die Häuser auseinandergehen können, doch sie standen herum und gingen nicht weg. Sie grübelten und dachten nach und konnten hören, wie in den Weidenbäumen, die den Weg zur Dorf schmiede säumten, die Käuzchen immer öfter stöhnten und schluchzten. Ein Paar hineilender Fledermäuse flog in vielen Bogen über den Weg und ließ sich dann auf das Stoppelfeld nieder. Vom Wege, der zur Schmiede führte, hörte man immer noch die laute und reine Frauenstimme, die nun die zweite Strophe des lustigen Liedes sang:

»Hili, hili, graue Gänschen,
Graue Gänschen auf dem Sand!
Ich verlor die jungen Jahre,
Und mein schönes Stimmchen schwand!«

Die immer rascheren Schläge des Hammers in der Schmiede schienen diesen Gesang zu begleiten, und aus der Tür der Schmiede stoben immer dichtere Schwärme roter Funken heraus. Die singende Frau beschleunigte ihren Schritt, und als sie schon in der Nähe der einsamen Hütte war, erklang aus dem grell erleuchteten Raum der Werkstatt eine tiefe Männerstimme, die, von ununterbrochenen Hammerschlägen begleitet, laut und lustig die dritte Strophe mitsang:

»Hili, hili, graue Gänschen,
Graue Gänschen auf dem Bach!
Einen Mann wollt'st du nicht haben,
Jetzt blas Trübsal und denk nach!«


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