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VI.

Der Winter kam in diesem Jahre früh und war sehr streng. In den letzten Tagen des November schnitt der Frost die Erde in harte Furchen, und der Schnee überschüttete sie mit weißem Staub. Der Abendhimmel glänzte mit tausend Sternen, als auf dem Wege vom nächstliegenden Städtchen nach Sucha Dolina zwei Bauern in Richtung des Dorfes gingen. Beide waren nicht allzu hoch von Wuchs, jedoch einer von ihnen schien ganz klein zu sein. In Schafpelzen, dicken Wintermützen und knarrenden Stiefeln gingen sie einmal langsam und leicht torkelnd, das andere Mal wieder schnell und weit vor sich ausgreifend. Ihre Unterhaltung wurde sehr laut geführt und war von lebhaften Handbewegungen begleitet. Sie waren nicht ganz nüchtern. Ihre lauten Stimmen schallten weithin über das leere Feld und wurden durch das ungleichmäßige Stampfen ihrer Schritte begleitet. Aus ihrer lauten Unterhaltung, die in der ruhigen und kalten Luft deutlich zu hören war, konnte man entnehmen, daß sie sich auf dem Rückweg aus dem Städtchen befanden, wo sie beide vor den Friedensrichter zitiert worden waren.

»Der Friedensrichter sagt, für dieses Holz wirst du Strafe bezahlen müssen …«, sprach der eine, und der andere, der seinem Begleiter gar nicht zuhörte, redete gleichzeitig:

»Schulden sind heilig, sagt er, sie müssen bezahlt werden …«

»Das Holz, sagt er, hast du im herrschaftlichen Walde gefällt, sechs Stück hast du gefällt, sagt er, für jedes Stück mußt du jetzt je einen Rubel Strafe bezahlen …«

»Und wenn du die Schulden nicht bezahlen wirst, sagt er, dann wird dir der Acker eingezogen und verkauft … – Der kann ja gar nicht verkauft werden, sag' ich ihm, denn er ist noch gar nicht ausgekauft …, das heißt, von der Regierung nicht ausgekauft …«

Jetzt begann der andere:

»Und ich bin gleich zum Friedensgericht gegangen zum Chakiel bin ich gegangen und hab' mir eine Bittschrift ans Friedensgericht schreiben lassen … Schreib mir, sagt' ich ihm, eine Berufung, damit ich diese Strafe nicht zahlen muß …«

Der erste erzählte inzwischen unbeirrt weiter:

»Und ich bin gleich zum Bezirksvorsteher gegangen! … Was soll denn nun daraus werden? … Beim Juden bin ich verschuldet, und auch bei anderen Menschen bin ich verschuldet, und die ziehen mich jetzt vors Gericht. Und das Gericht läßt mich die Schulden bezahlen, und der Boden ist doch noch gar nicht ausgekauft, das heißt, von der Regierung noch nicht ausgekauft, und man kann ihn gar nicht verkaufen … Der Jude, diese ungläubige Seele, dieser Halsabschneider, fragt mich gleich: Und wieviel gibst du mir für das Schreiben? – Einen Zloty will ich dir geben; schreib nur! Und er guckt mir in die Augen und lacht dabei. – Einen Rubel wirst du mir geben! sagt er. – Soviel bekommst du von mir nicht, bei Gott, soviel bekommst du nicht … Zwei Zloty will ich dir geben. Und er darauf: Einen Rubel wirst du mir geben! Und da hab' ich ihm einen ganzen Rubel versprochen, bei Gott, ich hab' ihm einen Rubel versprochen …«

Und der andere, dem es um die gemachten Schulden ging, torkelte leicht und redete:

»Beim Bezirksvorsteher habe ich's erfahren. Bei dem hab' ich's erfahren … Der Teufel soll doch … Den Acker, sagt er, kann ich dir nicht einziehen, denn es ist nicht erlaubt, der ist noch nicht ausgekauft, aber den ganzen Hausrat werde ich dir für die Schulden einziehen und öffentlich verkaufen. Alles werde ich verkaufen. Nur das Hemd auf dem Leibe werdet ihr behalten … Warum hast du Schulden gemacht?«

Plötzlich blieben beide stehen. Da sie sich gerade gegenüberstanden, blickte der eine dem anderen ins Gesicht:

»Jakob!« sagte der eine.

»Simon!« antwortete der andere.

Und beide stießen gleichzeitig – wie eine Frage – heraus:

»Na?«

»Wenn wir beide reich wären!«

»Ja, wenn wir beide reich wären!«

»Dann hätten wir keine Schulden gemacht!«

»Ja!«

»Bei mir sind neun Personen zu Hause …«

»Bei mir sind es dreizehn … Ja, davon zwei in der Kinderwiege!«

»Der Boden ist auch so schlecht, daß man verzweifeln könnte …«

»Und der Schweinestall war schon ganz zusammengefallen … Da habe ich's mir überlegt, woher man das Holz zum Ausbessern nehmen könnte. Nun, und da bin ich nachts in den Wald gefahren … Was ist da schon Schlimmes dabei? … Nicht für einen einzigen hat der liebe Gott den großen Wald wachsen lassen, sondern für alle …«

»Den Boden werde ich wohl für die Schulden an den Juden verpachten müssen …, wenn es auch nur ganz geheim geschehen soll. Und selbst werde ich wohl auf irgendein Gut als Knecht gehen müssen … Ja, ja, ein trauriges Los haben ich und meine Kinder zu erwarten …«

»Ja, ein schweres Schicksal hab' ich jetzt auf meine alten Tage.«

Beide strichen sich mit den Ärmeln der Pelze über die Augen, seufzten tief und laut auf und gingen nebeneinander weiter. Sie waren jetzt in der Nähe jenes Kreuzes, das an der Wegegabel stand. Ihnen gegenüber glänzten im gelblichen Licht zwei Fenster des Wirtshauses. Auch die dunklen Wände der Scheunen und Ställe in einiger Entfernung konnte man erkennen. Etwas weiter, zwischen kahlen Bäumen, schimmerte grau das Gehöft des Schmiedes. Beim spärlichen Licht der Sterne sah man die heute geschlossene und schweigende Schmiede, das schneebedeckte Strohdach des Hauses und zwei goldig schimmernde, blaß erleuchtete Fenster. Das matte Licht schimmerte nur undeutlich, da der Schein des im Hause brennenden Feuers durch die frostbedeckten Scheiben abgeschwächt wurde.

Einer der beiden Bauern wies mit der Hand auf dieses Haus:

»Simon!« sagte er.

»Was denn?«

»Sieh mal dort, dort gibt es viel Geld!«

»Wo denn?«

»Bei der Schmiedefrau!«

»Ja«, bestätigte Simon, »das sind wohl reiche Leute, denn sie leben wie die Herrschaften …«

»Warum sollen sie nicht so leben, wenn der Teufel der Hexe hilft? …«

»Ob er ihr hilft oder nicht, das ist gleich. Auf jeden Fall haben Sie es gut, wenn sie Geld haben«, bemerkte Simon, überlegte eine Weile, winkte dann schließlich mit der Hand ab und murmelte: »Was ist denn schon dabei? Hat der Hund lange Haare, dann hat er's auch warm. Ist der Bauer reich, dann hat er's gut. Dem Schmied und seiner Frau geht's gut, und mir wird davon auch nicht besser werden …«

»Es ist noch schwerer, auf fremden Wohlstand sehen zu müssen, wenn es einem selbst auf dieser Welt so schlecht geht

»Ja!«

Da blieb Jakob Schischko wie angewurzelt stehen, streckte die eine Hand in Richtung des Schmiedehauses aus und sagte dann mit einer gedämpften, fast erstickten Stimme:

»Hast du gesehen, Simon, hast du gesehen?«

Auch Simon blieb stehen, und da er nichts sagen konnte, sperrte er den Mund weit auf. Die seltsame Erscheinung, die die beiden Bauern so sehr erstaunte, war ein fallender Stern. Es sah aus, als hätte er sich von der dunklen Himmelskuppe gelöst, hätte dann eine goldene Schleife in der Luft beschrieben und wäre direkt über dem Hause des Schmiedes verschwunden. In der klaren Nacht blitzte er für einen Augenblick in kräftigem und grellem Schein auf. Jakob Schischko wiederholte wieder seine Frage:

»Hast du das gesehen?«

»Warum soll ich's denn nicht gesehen haben? Ich hab's schon gesehen!« flüsterte Simon. »Von ihnen haben wir gesprochen, und gerade auf ihr Haus ist der Stern gefallen.«

Jakob schüttelte den Kopf, und ein lautes, höhnisches Lachen kam aus seiner alten und schmalen Brust:

»Ach, du Dummkopf! Du Dummkopf«, sagte er, »du glaubst wohl, daß das wirklich ein Stern war? …«

»Ja, das glaube ich!«

»Dabei war es doch der Teufel, welcher der Hexe Geld durch den Schornstein brachte!«

»Das kann doch nicht sein!« Simon schrie es fast und hob die Hand an die Stirn, um das Kreuzeszeichen zu machen.

»Hast du denn davon noch nichts gehört?«

»Gehört hab' ich schon, daß solche Sachen vorkommen sollen, doch mit meinen Augen hab' ich's noch nicht gesehen.«

»Nun, dann hast du es eben jetzt gesehen … Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes …«

»Amen!« schlossen beide zusammen, und aus Simons Kehle kam noch einmal ein lauter Ton der Verwunderung. Dann ging er weiter, schon etwas gleichmäßiger, als ob der Rausch des Schnapses, den er in der Stadt getrunken hatte, inzwischen schon aus seinem Kopf verflogen wäre. Einige Zeit sann er über etwas nach und sagte dann zu seinem Begleiter:

»Jakob!«

»Nun?«

»Weißt du was? Ich hätte auch des Teufels Geld nicht abgelehnt, wenn ich mit seiner Hilfe nur aus der Not kommen könnte, wenn man mir nur den Hof nicht einziehen und verkaufen würde …«

»Wie du meinst …, wie du glaubst«, sagte gleichgültig Jakob.

»Vielleicht würde mir die Schmiedefrau auch etwas Geld borgen?« … begann Simon zögernd wieder.

»Wie du meinst, wie du glaubst … Doch es wird nichts Gutes daraus werden.«

»Warum soll nichts Gutes daraus werden?«

»Nun, weil es nicht gut sein kann, seine christliche Seele zu verkaufen.«

»Auch das ist wahr …«

»Mach es nicht«, belehrte Jakob und hob den Zeigefinger, »es ist nicht gut … Bei der Beichte mußt du dann sowieso dem Priester sagen, daß du eine solche Versuchung hattest …«

Simon überlegte weiter, doch nach einer Weile hob er plötzlich und entschlossen den Kopf:

»Und bist du denn nicht in die herrschaftlichen Wälder gegangen, um Holz zu stehlen, als du den Schweinestall bauen wolltest, was? Hast du's gemacht?«

»Ach, du Dummkopf!« schrie Jakob, »wie kannst du denn diese beiden Sachen vergleichen. Der Wald gehört dem lieben Gott, und er hat ihn für alle Menschen wachsen lassen, und das Geld der Hexe ist vom Teufel, und sie selbst ist eine Feindin Gottes und aller ehrlichen Menschen …«

»Na und?« widersprach Simon, »deshalb hat dich ja auch der Friedensrichter die Strafe bezahlen lassen. Außerdem schimpf mich hier nicht Dummkopf … Hörst du … Du hast gar kein Recht dazu. Du bist ja selbst ein Dummkopf und dazu noch ein Dieb!«

Sie begannen sich zu zanken, als sie plötzlich in den Lichtschein der Fenster des Wirtshauses gerieten, an dem sie gerade vorbeigingen. Aus dem Inneren der Kneipe erscholl Stimmengewirr und schlechte Geigenmusik. Wie angewurzelt blieben die beiden Bauern auf einmal stehen.

»Wollen wir reingehen?« sagte Simon.

»Gut, wir wollen reingehen«, pflichtete ihm Jakob bei.

»Nur für eine Minute.«

»Ja, nur für eine Minute! Damit wir auf bessere Gedanken kommen …«

Die Wirtshausstube war hell erleuchtet. Es war ein ziemlich großer Raum, niedrig, mit Lehmfußboden und einer schmutzig-dunklen Decke. Brennende harzige Holzspäne steckten in den Ritzen des Ofens, der von oben bis unten mit den zum Trocknen aufgehängten, frisch gewaschenen Kleidungsstücken des Pächters und seiner Familie behängt war. Auf dem langen, schmalen Tisch brannte eine Kerze, die man in eine ausgehöhlte Rübe schräg hineingesteckt hatte. Auch einige große Zinnbecher, aus denen die Bauern gewöhnlich ihren Schnaps tranken, standen hier herum. Aus diesen Bechern hatten vor kurzem jene ernsten, ruhigen Bauern getrunken, die jetzt beiderseits des Tisches auf den Bänken saßen und eine laute, jedoch ernsthafte Unterhaltung führten. Ihre guten Pelze hatten breite Kragen aus schwarzen oder grauen Schaffellen, die Stiefel waren schwer, doch ordentlich und ganz und reichten bis an die Knie. Die Gesichter der Bauern, ruhig oder durch ein Lächeln erhellt, zeugten davon, daß es die reichsten und angesehensten Einwohner von Sucha Dolina waren. Nicht zum Bummeln und zum Saufen, nicht weil sie Herumtreiber waren, kamen sie hierher, sondern erstens deshalb, um sich in größerer Gesellschaft an diesem langen Winterabend zu unterhalten, und zweitens, weil sie sich über wichtige Dinge beraten und aussprechen wollten. Es handelte sich um Sachen, die das ganze Dorf betrafen. Sie ließen sich zuerst Schnaps bringen, tranken ihn aus den großen Zinnbechern und prosteten sich gegenseitig mit den Worten »Zum Wohl« und »Zur Gesundheit« zu. Dann schoben sie die Becher in die Mitte des Tisches zurück und berührten sie nicht mehr. Nur einen Becher hatten sie ausgetrunken und dann nichts mehr. Wenn es einen erfreulichen Anlaß gegeben hätte, wie Taufe, Hochzeit, den Abschluß eines Geschäfts oder sonst etwas Ähnliches, dann hätten sie bestimmt etwas mehr getrunken. Aber sie waren es nicht gewöhnt, sich ohne einen besonderen Anlaß zu betrinken. Dazu achteten sie ihre persönliche Würde als wohlhabende, ehrlich lebende Bauern, als Familienväter oder gegenwärtige Träger von Gemeindeämtern viel zu hoch.

In der Mitte dieser Gruppe saß Peter Dziurdzia und neben ihm, die Ellbogen auf der Tischplatte vorgeschoben, Maxim Budrak. Dann saßen in einer Reihe auf der Bank: der alte Labuda und seine erwachsenen, schon seit langer Zeit verheirateten Söhne, und schließlich hinter einigen anderen in der Ecke der Stube, dort, wo die Beleuchtung am spärlichsten war, konnte man Stefan sehen. Schon immer verkehrte er gern mit den ernstesten und ehrlichsten Einwohnern des Dorfes, getrieben von dem Verlangen, an Beratungen über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse teilzunehmen und eine aktive, einflußreiche Rolle zu spielen. Ehrgeizig und kühn, wollte er etwas bedeuten, wollte anführen. Doch obwohl er bald vierzig Jahre alt werden sollte, hatte er dieses erwünschte Ziel bis jetzt noch nicht erreichen können. Seine Düsterkeit und sein Jähzorn schreckten die Menschen von ihm ab. Außerdem verminderte es sein Ansehen und die Achtung vor ihm, auf die er in der Öffentlichkeit rechnete, daß er so ungewöhnlich schlecht mit seiner Frau zusammenlebte und auch keine zahlreiche Familie hatte. Er hatte nur ein einziges Kindchen, und das war noch dazu so, daß er eher als kinderlos galt. Die Kinderlosigkeit aber bedeutet für den Bauern nichts anderes, als daß ihn der liebe Gott nicht segnete und bald ganz zugrunde richten würde. Ganz anders blicken die Menschen auf ein Bauernhaus, in dem kräftige Burschen und fleißige Mädchen aufwachsen und groß werden, als auf ein solches, in dem ein einsames Ehepaar lebt, das wie ein düsteres Maulwurfspaar ohne Freude an der Gegenwart, ohne Aussichten für die Zukunft nur den Boden aufwühlt. In einem solchen Hause gibt es keine Taufe, keine Hochzeiten, keine lauten Spiele der Buben, keine klangvollen Gesänge der Mädchen. In solch ein Haus kommen die Menschen nicht; sie finden dort keine Tische, auf denen reiche Gaben Gottes aufgestellt sind. Mag es in einem solchen Hause auch einen ungewöhnlichen Wohlstand geben – es gibt ja gar keinen Anlaß zu Besuchen, so daß Achtung und Freundschaft keinen Eingang finden, sich nicht zeigen und auch nicht anwachsen können. Und wenn in so einem Hause zwischen den Eheleuten ewiger Streit herrscht, Zank, Geschrei und Schlägereien? Dann, du kinderloser und hoffnungsloser Bauer, dessen Hof dem Untergang geweiht ist und der du selbst dem menschlichen Gelächter preisgegeben bist, dann sitze du zornig und schweigsam zwischen fröhlichen, sich lustig unterhaltenden Menschen, so wie in der dunklen Ecke des Gasthauses jetzt Stefan sitzt und von Sorgen und Kummer gequält wird. So oft er etwas gesagt hatte, so oft mußte er feststellen, daß ihn keiner hören wollte. Und dabei unterhielt man sich über Dinge, die er besser kannte als irgendein anderer: über Äcker und Wiesen, die das Dorf für sich beanspruchte und derentwegen man gegen den augenblicklichen Besitzer einen Prozeß anstreben wollte. Dieser Prozeß würde viel Geld verschlingen, und die Kosten sollten auf alle Einwohner des Dorfes, entsprechend dem Anteil an der zu gewinnenden Fläche, verteilt werden. Solche arithmetische Berechnungen konnte Stefan am besten fertigbringen; und er kannte außerdem die Ackerflächen und die Wiesen sehr genau. Doch man wollte von ihm weder Hilfe noch Rat. Man übertönte seine Stimme, stieß ihn mit den Ellbogen an zum Zeichen, daß er schweigen solle, wenn er die anderen zu überschreien versuchte. Der junge Labuda, der gern jedem Streit aus dem Wege ging, der jedoch befürchtete, daß ihn der Jähzorn Stefans dazu bringen könnte, rückte von ihm eine Elle weg, genauso wie Anton Budrak, der Bruder von Maxim, der augenblickliche Dorfschulze.

So sah sich Stefan vereinsamt und mißhandelt. Er stieß einen leisen Fluch aus und rückte dicht an die Wand zurück. Vom Wirtshauspächter forderte er ganz laut ein volles Quartmaß Schnaps, das ihm der Alte schnell bringen sollte, und trank den Alkohol schweigend; nur seine Augen blitzten in der dunklen Ecke wie die Augen eines hungrigen Wolfes.

Ganz anders stand es mit Peter Dziurdzia. Der war sechs Jahre lang Dorfschulze gewesen, wußte also ganz genau über die Vermögensverhältnisse der einzelnen Bauern Bescheid und auch über den Anteil, den jeder zu der Gesamtheit der Kosten beisteuern konnte. Anton Budrak, der erst vor kurzem das Amt des Dorfschulzen übernommen hatte, holte sich bei ihm zu verschiedenen Gelegenheiten Rat, und auch die andern hörten ihm jetzt aufmerksam zu und nickten zustimmend mit den Köpfen. Die ineinandergelegten Hände des Bauern ruhten auf den Knien, die langen Haare fielen in hellblonden und grauen Strähnen auf den schwarzen Schafpelzkragen seines Mantels. Das sonst bläßliche und verschlossene Gesicht Peters war jetzt durch den starken Trunk und die Unterhaltung belebt. Peter erzählte lang und umständlich, und die ernsten und gedehnten Worte kamen aus seinem Munde wie ein langsam und leise fließender Bach. Er erinnerte jetzt daran, wann und wie die Äcker und Wiesen für Sucha Dolina verlorengegangen waren und was darüber schon die Väter berichtet hatten, und er zählte auf, welchen Nutzen die Rückgewinnung dem Dorfe bringen würde. Dieser Nutzen erschien ihm so verheißungsvoll, daß er bei der Aufzählung schwer seufzen mußte. Aber trotz dieses lebhaften Verlangens nach irdischen Dingen vergaß er auch die himmlischen nicht. Von Zeit zu Zeit hob er den Zeigefinger in die Luft und schloß den Satz mit den folgenden Worten:

»Alles ist in der Gewalt Gottes! Wird es der liebe Gott wollen, dann erweist er uns seine Gnade! Wird er es aber nicht wollen, dann müssen wir eben leiden, denn solches ist Gottes Wille!«

Ein anderes Mal sagte er:

»Die Kraft Gottes, so steht es geschrieben, kann man nicht überwinden. Die Macht des Teufels ist aber mit dem Kreuz zu brechen. Die Macht Gottes ist stärker als alles andere. So wie es der Herrgott im Himmel will, so wird es auch sein.«

Diesen Worten folgten immer einige Seufzer der Zuhörer, was sie jedoch, nicht hinderte, mit lebhaftem, ja sogar leidenschaftlichem Interesse über irdische Geschäfte zu sprechen. Auch Peter seufzte, doch seine grauen, tief unter den buschigen Brauen liegenden Augen blitzten manchmal so lustig auf, wie man es bei ihm nur selten bemerken konnte. Sie blitzten gerade dann so lustig auf, wenn er zufällig oder absichtlich in jenen Teil der Wirtsstube blickte, wo sich eine kleine Anzahl Jugendlicher aus dem Dorfe unterhielt und belustigte. Es waren einige erwachsene Burschen und etwa fünf Mädchen. Alle standen sie um einen in der Ecke sitzenden Musikanten und munterten ihn zum Spielen auf. Als er zu spielen begann, fingen sie an zu tanzen, wobei der lustige Reigen hier und da ganz plötzlich von einem Scherz unterbrochen wurde, um ein fröhliches Rennen zu veranstalten. Vom Fußboden erhoben sich dabei dicke Staubwolken, und von den flammenden Kienspänen flogen nach allen Richtungen dunkle Rauchschwaden in den Raum. Bei diesen Spielen hörte man oft laute männliche Stimmen, Rufe, grelle Schreie der Frauen, lustiges Lachen, scherzhaften Streit, Fußgetrampel, ein Klirren und Quietschen der Geige. Die weißen Hemden und die blauen Röcke der Mädchen schwirrten durch die Staub- und Rauchwolken oder glänzten zwischen den himmelblauen Kleidern der Männer. Diese kleine Gruppe, die sich jedoch ausgezeichnet unterhielt, führte Klemens laut und lustig an. Vor sechs Wochen war er nach seiner schweren Krankheit aufgestanden, von der ihm jetzt nichts mehr anzumerken war. Während er noch im Krankenbett lag, hatte man ihm unzählige Male eine brennende Kerze in die Hände gegeben. Eine unendliche Anzahl von Kräutern, die ihm die Frauen aus dem ganzen Dorf brachten, hatte er als Tee trinken müssen. Auch die letzte Beichte war ihm nicht erspart geblieben. Er hatte ein Liter Blut verloren, das ihm ein aus der benachbarten Stadt geholter Feldscher abgezapft hatte. Das alte Evangelium hatte die ganze Zeit hindurch direkt über seinem Kopf auf dem Kissen gelegen. Sein Vater hatte drei Messen für ihn lesen lassen, bis er schließlich wieder gesund geworden war, vom Krankenlager aufstand und schon nach einigen Wochen so aussah, als wäre er niemals krank gewesen.

Seit dieser Zeit erzählte Peter gern und viel über die Genesung seines Sohnes. Er erzählte, daß die teuflische Macht die Ursache dieser Krankheit war und durch die göttliche Macht überwunden wurde. Als er von der ersten sprach, ballte er die Fäuste und spuckte angeekelt vor sich aus. Ein Blitz des Zornes und des Hasses huschte in solchen Augenblicken durch seine Augen. Für die zweite empfand er eine tiefe Dankbarkeit und Verehrung, denn so oft er an sie erinnerte, senkte er tief den Kopf und richtete seinen Blick fast unwillkürlich nach oben. Jetzt war Klemens bei Spiel und Scherz der Erste unter allen. Wohin man in der Stube auch blicken mochte, überall sah man ihn mit der hübschen Nastka, der Tochter von Maxim, zusammen. Einmal stand er hinter dem Musikanten und ließ ihn immer neue Tanzstücke spielen, wobei er das Mädchen fest um die Taille faßte. Das andere Mal warf er sie wieder bei lustiger Jagd mit solcher Wucht auf die Bank, daß sie vor Schmerz laut aufschrie, die Beleidigte spielte, in eine Ecke der Stube ging und den anderen den Rücken zukehrte. Er stellte sich dann neben sie hin, bat sie um Verzeihung und forderte gleichzeitig zur nächsten Jagd auf. Dabei verzog er das Gesicht zu lustigen Grimassen, tat, als ob er weinen wollte, und lachte dabei so dröhnend, daß es in der ganzen Stube zu hören war. über die Köpfe der ihm gegenübersitzenden Nachbarn hinweg blickte Peter diesem lustigen Treiben des Sohnes mit sichtlichem Wohlwollen zu. Es bereitete ihm sogar eine erfreuliche Zerstreuung in der ernsten Unterhaltung. Er öffnete dann den Mund und lachte leise, in tiefen Brusttönen. Man könnte sagen, daß er sich am Anblick des jungen Paares geradezu ergötzte. Das Mädchen sollte von dem wohlhabenden Vater eine reiche Mitgift bekommen und viel in das Haus ihres künftigen Mannes bringen. Außerdem war sie sanft, fleißig, von gutem Benehmen. Agathe hatte dieses Mädchen gern. Falls Klemens sie also heiraten sollte, so hätte es trotz allem ein gutes Einvernehmen zwischen der Schwiegertochter und der Schwiegermutter gegeben. Peter trug sich schon seit langem mit ernsten Plänen einer solchen Verbindung, bis ihm dann plötzlich ganz unerwartet und überraschend irgendwelche Liebeleien zwischen Klemens und Franziska, diesem stämmigen, untersetzten, unansehnlichen, armen Enkelkind eines der ärmsten Einwohner des Dorfes und dazu noch eines Diebes, bekannt wurden. Sobald Klemens von seiner Krankheit aufgestanden war, stellte ihn der Vater zur Rede:

»Hast du mit dieser Franziska unter irgendwelchen Absichten begonnen, oder war es nur so?«

Der Junge schämte sich sehr vor dem Vater, bedeckte das Gesicht mit der Hand, damit dieser es nicht sehen konnte, und antwortete:

»Nur so!«

»Und heiraten wolltest du wohl nicht?«

»Der Teufel soll sie heiraten, nicht ich!« lautete die düstere Antwort.

»Nun, und Nastka Budrak möchtest du heiraten?«

Der Junge hielt die Hand vor den Mund und lachte laut:

»Warum nicht, Vater?« rief er. Vor Freude glänzten ihm die Augen auf. Nastka war ein hübsches Mädchen, doch auch an ihre Mitgift und an das alles, was sie ihm ins Haus bringen würde, hatte er gedacht. So beschlossen sie, gleich nach Advent die Brautwerber in das Haus Budraks zu schicken.

Jetzt faßten sich die Jungen und die Mädchen an den Händen und bildeten einen Kreis, in dessen Mitte sich zum Spaß und zum Ergötzen aller anderen eine alte, untersetzte Frau gestellt hatte, die in den Händen ein kleines Kissen aus dem Bestand des Wirtshausbesitzers hielt. Bei dem leicht quietschenden, doch lebhaften Geigenspiel drehte sich der Kreis der Tänzer mit lautem Fußgetrampel um diese Frau, welche die eine Hand in die Hüfte stemmte, mit der anderen das kleine Kissen hochhielt und sich ebenfalls im Kreise drehte und hüpfte. Dann begann sie mit lustigen Gebärden zu singen:

»Kleine Kissen, kleine Kissen, alle sind aus Daunen,
Alles Junge, alles Junge, alles Junge …«

An dieser Stelle begannen alle laut zu lachen, denn die Worte des Liedes paßten nur schlecht zu der untersetzten, runzeligen, obwohl immer noch starken und lustigen Frau:

»Wen ich liebe, wen ich liebe,
Oh, den werd' ich küssen,
Dem schenke ich, dem schenke ich
Das daunenweiche Kissen.«

Bei den letzten Worten des Liedchens warf sie das kleine Kissen auf Hans Dziurdzia, umarmte ihn und wollte, wie es die Regel des Tanzes verlangte, einige Runden mit ihm drehen. Doch er schämte sich anscheinend, daß ihn ausgerechnet eine so unansehnliche Tänzerin mit ihrer Gunst beschenkte, stieß die Frau mit der Faust von sich und blieb mit tölpelhafter Miene und zornfunkelnden Augen wie eine Säule in der Mitte der Stube stehen. Einige ernste Bäuerinnen, die auf einer der Bänke an der Wand saßen und sich unterhielten, begannen bei diesem Anblick laut zu lachen. Sogar die Bauern unterbrachen ihre ernste Unterhaltung über Geschäfte und sahen mit lachenden Gesichtern dem lauten Spiele der Jugend zu. Die Tanzenden bildeten wieder einen Kreis, nur daß in seiner Mitte jetzt Nastka Budrak stand, die durch andere Mädchen mit Gewalt dorthin gestoßen worden war. Die Geige spielte munter weiter, und das schlanke Mädchen, dem die dicken, langen Zöpfe den Rücken herabhingen, geschmückt mit vielen glitzernden Glasperlenschnüren, die sie am Halse trug, hob jetzt das Kissen über den Kopf. Doch sie sprang nicht wie die vorhergehende Tänzerin, sondern drehte sich langsam und mit Anmut, begleitet vom Getrampel der Stiefel und Schuhe. Jetzt sang sie mit lauter Stimme:

»Kleine Kissen, kleine Kissen, alle sind aus Daunen,
Alles Junge, alles Junge, alles Junge …«

Jetzt fing der ganze Tänzerkreis das Lied auf und begleitete das Mädchen, dessen Stimme aus dem Chor der anderen jedoch herauszuhören war:

»Wen ich liebe, wen ich liebe,
Oh, den werd' ich küssen,
Dem schenke ich, dem schenke ich
Das daunenweiche Kissen.«

Plötzlich traf das kleine Kissen, von dem kräftigen Arm des Mädchens geschleudert, den jungen Klemens mit einer solchen Wucht ins Gesicht, daß er puterrot wurde und seine goldig schimmernden, dichten Haare um seinen Kopf flogen. Gleichzeitig hing sich Nastka mit beiden Armen an seinen Nacken und seine Schultern. Der Bursche umarmte sie, und beide drehten sich jetzt im Kreise, weit länger, als das die Regel des Tanzes erforderte. Doch dem durch Spiel und Vergnügen erhitzten Burschen, dem die schwer atmende Nastka an der Brust hing, war auch das noch zu wenig. Er rief dem Musikanten zu, daß er einen »Dreher« spielen solle, und als die Musik einsetzte, begann er mit seinem Mädel diesen schnellen, beweglichen, kreiselnden Tanz, der fast auf der Stelle ausgeführt und nur durch einige Runden im Schritt rund um die Stube unterbrochen wurde. Die goldenen Haare des Burschen flogen um seinen Kopf, des Mädchens Zöpfe, an deren Enden ein rotes Band eingeflochten war, wirbelten in der Luft, und die um ihren Hals hängenden Glasperlen und die unter ihnen bunt schimmernden vergoldeten Kreuze und Medaillons klirrten laut. Wenn sie nach schwindelerregendem Drehen auf ein und derselben Stelle einen Rundgang um die Stube machten, da hob er sein glühendes Gesicht hoch empor, und in seinen Augen glänzten ganze Bündel lustiger Strahlen auf. Sie hielt seinen Arm, der auf ihrem Rücken lag, fest, preßte mit der linken Hand einen Zipfel seines blauen Rockes und wischte sich mit der anderen mit einer kleinen Schürze den Schweiß vom Gesicht. So umkreisten sie langsam, in gleichmäßigem Schritt die Stube zwei-, dreimal. Manchmal nur trampelten sie auf der Stelle, ohne sich fortzubewegen. Der Bursche glich einer jungen, starken Eiche, sie einer weißen, schlanken Birke. Alle Bauern wandten jetzt ihr Gesicht der Stube zu und betrachteten das tanzende Paar. Peter Dziurdzia hob den noch halb vollen Becher an die Lippen und lachte sein leises, ernstes, aus der Brust kommendes Lachen. Maxim Budrak tat, als ob er ganz gleichgültig auf seine Tochter blickte, doch in seinen Augen glänzte Freude. Unwillkürlich sahen sich die beiden Nachbarn an, verständigten sich mit den Blicken und nickten sich zu:.

»Wenn es nur Gottes Wille wäre«, sagte Peter.

»Warum sollte es nicht Gottes Wille sein?« antwortete Budrak. Budraks Frau, die mit einigen anderen Bäuerinnen auf einer Bank an der Wand saß und schon vorher einen ganzen Becher Schnaps leergetrunken hatte, weinte bereits, und innig ergriffen sprach sie zu ihren Nachbarinnen:

»Weiß Gott, diesen Klemens, den lieb ich, als ob es mein eigenes Kind wäre …«

Gerade in diesem Augenblick kamen Jakob Schischko und Simon Dziurdzia in die Wirtsstube. Niemand beachtete sie. Schon ihre Kleidung zeugte davon, daß sie innerhalb der Menschengruppe, in deren Mitte sie lebten, den untersten Platz einnahmen. Ihre Pelze waren alt, ohne Kragen, abgetragen und voller Schmutzflecke, das Schuhzeug war zerrissen und bestimmt seit vielen Jahren im Winter bei Frost und Schnee benutzt worden. Sogar die Mützen waren verschrumpft und schäbig, mit völlig zerrissenem Schafpelz besetzt. Und erst ihre Gesichter und ihre Haltung! Der alte Jakob hielt sich zwar gerade und suchte irgendwie eine feierliche Haltung zu wahren, doch er war klein und mager und blickte mit seinen kleinen, glänzenden Augen unter den Augenbrauen schlau und zugleich mißtrauisch in die Welt, mit einem durchtriebenen, falschen Lächeln auf den alten, welken Lippen.

Simons Schritt war schwer, beinahe zaghaft, das Gesicht gelb, die Augen gerötet und immer naß. Auf seinem Gesicht prägte sich der Ausdruck der Verarmung, wenn er nüchtern war, und eines frechen Mutwillens, sobald der Schnaps im Kopfe drehte. Jetzt war er nur etwas angetrunken, ließ also alle unbehelligt, ging mit Jakob schüchtern und fast geduckt durch die Wirtsstube und durch eine schmale Tür in einen zweiten, weit kleineren Raum, der dem Gastwirt mit seiner Familie als Wohnung diente. Man konnte hören, wie sie sich laut und hitzig mit dem Juden unterhielten, sich gegenseitig dabei unterbrachen, mit den Ellbogen wegstießen und jeden Augenblick bereit waren, einen Streit vom Zaune zu brechen mit dem Herrn dieses Unternehmens, der laut und eindringlich von beiden, besonders aber von Simon, die Bezahlung der alten Schulden forderte. Das hinderte ihn jedoch nicht, jedem einige Becher Schnaps auszuschenken. Als Simon die seinigen ausgetrunken hatte, fing er an zu weinen und über sein und seiner Kinder schweres Schicksal zu klagen. Dann verlangte er vom Wirt noch einen Becher, und als dieser ihm nichts mehr anschreiben wollte, fluchte er furchtbar, wetterte laut über ihn und hielt ihm die geballten Fäuste drohend vor Gesicht und Nase. Der Jude gab nach, goß ihm noch einen Schnaps ein und strich jeden Becher mit Kreide an der Tür an. Simon trank aus; seine nassen Augen wurden lustiger und glänzten jetzt. Er zog die Mütze fester auf den Kopf, so daß sie fast die Augen verdeckte, und ging mit flotten, doch unsicheren Schritten aus dem Wirtshaus hinaus. Vor der Kneipe, unter dem sternenklaren Himmel blieb er stehen, murmelte etwas unter der Nase und schien zu überlegen. Mit Anstrengung schaute er in jene Richtung, wo von weitem das einsam im Felde stehende Gehöft des Dorfschmiedes zu erblicken war. Plötzlich lief er den Pfad entlang, der an den Scheunen vorbei in jene Richtung führte. Bald bewegte er sich schnell und munter, bald langsam, mit gesenktem Kopfe, immer irgend etwas Unverständliches vor sich hin brummend. Einige Male torkelte er heftig, hielt sich mit beiden Händen an den Gartenzäunen fest, blieb vor der Schmiede stehen und überlegte wieder. Anscheinend hatte er vor irgend etwas Furcht, denn er hob die Hand vor Gesicht und Stirn. Noch einige Male schlug er das Kreuzeszeichen und ging dann einige Schritte weiter. Wenn er nüchtern gewesen wäre, hätte er bestimmt auf halbem Wege kehrtgemacht oder wäre in jene Richtung überhaupt nicht gegangen. Jetzt gab ihm der Schnaps Mut und raubte ihm den Verstand. Schon hielt er die Hand an der Türklinke, schlug nochmals das Kreuzeszeichen und trat in das Haus des Schmiedes ein.

Der Schmied selbst war nicht zu Hause; Aksena, durchwärmt von der Hitze des Ofens, war an diesem langen Winterabend auf ihrem Strohsack eingeschlafen, über ihrem grauhaarigen Kopfe stand der Spinnrocken mit einer goldig schimmernden Kunkel. Die vor einem Augenblick fallengelassene Spindel hing an einem rauhen Faden vom Ofen herab. In ihren Armen, die wie ausgebreitete Flügel aussahen, schliefen zusammengekauert wie kleine Vögel, denen es kalt geworden ist, zwei kleine, rotwangige Kinder.

Die Stube lag in Halbdunkel und völliger Ruhe. Das im Ofen brennende Feuer zündete auf den Fensterscheiben, auf denen der Frost ein Gewirr kristallener und glänzender Blätter gemeißelt hatte, huschende Funken.

Petrusia saß auf einem Schemel vor dem Ofen, kochte die Abendmahlzeit und besserte Kleider der ganzen Familie aus. Zu ihren Füßen lagen etliche Kinderhemdchen; auf den Knien hielt sie den aus gutem Tuch genähten Spenzer ihres Mannes; sie flickte und befestigte die grünen Bänder, womit er besetzt war. Die verflossenen Monate hatten ihren Gesichtsausdruck verändert, sie hatten der schmalen Stirn ihre alte, helle Fröhlichkeit genommen und um den Mund eine ruhige, doch bittere Traurigkeit ausgeprägt. Trotzdem war sie genau so frisch wie früher, und wie früher strahlten ihre roten Wangen und die schönen Formen ihres Körpers Kraft und Jugendfrische aus. Mit einer dicken Nadel nähte sie das grobe Tuch, hob die Hand, in der sie die Nadel mit dem langen Zwirnsfaden hielt, hoch über den Kopf und sang halblaut, mit gedehnter Stimme, eine düstere, dumpfe Bauernballade:

»Leise belehrt die Mutter den Sohn:
›Warum strafst du deine Frau nicht, mein Sohn? …‹
›Ich habe, ich hab' eine kleine Nagajka
Und werde die junge Frau schon strafen‹.
Am Abend ertönten Schreie in der Kammer,
Um Mitternacht knarrte das Bett ganz laut,
Und im Morgengrauen lebte Anna nicht mehr …«

Hier schwieg die Sängerin einen Augenblick, fädelte einen neuen Zwirnsfaden ein, und ihre grauen Augen blickten ins Feuer. Dann bückte sie sich wieder über ihre Näharbeit und sang mit gedehnter Stimme weiter:

»›O Mutter, Mutter, eine Tote liegt zu Hause,
Jetzt rate mir, wo soll ich die Frau begraben?‹ …
›Fahre Anna ins freie Feld.
Die Leute werden sagen: den Weizen mäht Anna,
Und fahre selbst zum Jahrmarkt nach Janowo …‹
In Janowo gehen die Brüder Annas
Und fragen den Schwager nach ihrer Schwester:
›Wo ist Anna, unsere Schwester?‹
Er kam nach Hause. ›Ihr lieben Diener,
Gebt mir die allerschwärzesten Pferde,
Ich will zu Anna auf's Feld fahren,
Gebt mir die laute Geige.
Ich will von meinem bitteren Schicksal spielen,
Das du, Mutter …‹«

Mit langgezogenem Knarren wurde jetzt die Tür der Stube geöffnet. Petrusia hörte auf zu singen, und als sie den Kopf wandte, erblickte sie den eintretenden Simon. Sie kannte ihn gut und wunderte sich nicht, daß er zu ihr kam. Vielleicht kam er mit einem Geschäft zu ihrem Mann. Freundlich nickte sie ihm zu.

»Guten Abend, Simon! Wie geht's Euch?«

Er antwortete nicht, sondern trat torkelnd einige Schritte vor, blieb unweit von ihr stehen und begann sie mit offenem Mund anzustaunen. In seinen blassen Augen vereinten sich jetzt Neugierde und Angst, eine wilde Gier und die Rührung eines Betrunkenen. Er sah bis zu einem gewissen Grade furchterregend, aber gleichzeitig auch etwas lächerlich aus. Aus dem offenem Munde schlug der Frau eine Dunstwolke von Alkohol ins Gesicht. Er schob die Hände in die Ärmel des Pelzes und begann mit einer Mischung von Ängstlichkeit und Frechheit:

»Petrusia, ich bin mit einer Bitte gekommen …«

»Und was wollt Ihr?« fragte sie.

»Wenn du mir Geld borgen könntest! Ich bin heute beim Friedensrichter zur Verhandlung gewesen. ›Schulden müssen bezahlt werden. Dein Acker wird verkauft‹, sagt er … ›Ist nicht zu verkaufen, denn er ist noch gar nicht ausgekauft von der Regierung, das heißt, er ist nicht ausgekauft‹, sage ich; und er – die Beine sollte er sich brechen – befiehlt, die Schulden zu zahlen … Ich geh' zum Vorsitzenden …«

So erzählte er einige Minuten lang, ein und dasselbe mehrmals wiederholend. Sie hörte ihm geduldig zu, immer noch mit dem Nähen beschäftigt, hob dann schließlich den Kopf und sagte:

»Was kann ich dir denn dabei helfen, Simon?«

»Borg mir Geld!« wiederholte er lauter, indem er näher an sie herantrat.

»Ich hab' keines, bei Gott, ich hab' kein Geld. Woher sollte ich denn das Geld haben? Alle wissen doch, daß ich mit einem einzigen Rock und einem zerrissenen Unterrock in das Haus meines Mannes gekommen bin. Auch er hat nichts. Ich kann's schwören, daß er nichts hat. Im Haus herrscht wohl einiger Wohlstand, doch bares Geld haben wir nicht … Wir sind ja beide noch jung …, wann sollten wir denn gespart haben?«

»Du lügst«, knurrte der Bauer, »Geld hast du genug, soviel du willst. Soviel du nur haben möchtest.«

Hier wechselte er den Ton und fing wieder an zu bitten:

»Borge, Petrusia, hab Mitleid, hilf! … Was schadet es dir? Wenn du deinem Freunde sagst, daß er dir mehr bringen soll, dann bringt er's auch gleich …«

Die Augen der Frau schauten den Bauern verwundert an. Simons Gesicht war durch Schnaps und Erregung von einer ziegelroten Färbung überzogen:

»Bist du denn verrückt geworden?« sagte sie. »Was für einen Freund habe ich denn, der mir das Geld nach Verlangen bringen könnte?«

Simon hob die Hand an die Stirn, als ob er das Kreuzeszeichen schlagen wollte, und sagte mit leiser, angsterfüllter Stimme und blödem Gesicht:

»Und der Teufel? He? Bringt der dir denn kein Geld? Was?«

Bei diesen Worten sprang die Frau wie gehetzt von ihrem Schemel auf. Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie schob die Hände vor sich, als ob sie sich wehren wollte:

»Was redest du denn?« schrie sie, »Mensch, überlege doch, was du sagst, und habe Gott im Herzen!«

»Und er bringt dir doch Geld! …« drang der Mann weiter in sie, trat noch näher heran und ließ den Blick nicht von ihr ab.

Jetzt begann sie schnell und laut zu reden:

»Ich bin in der Kirche getauft worden, über mir wurde zu jeder Nacht das Kreuzeszeichen geschlagen! Ich habe meine Seele durch keine Todsünde befleckt und verloren!«

»Und er bringt dir doch Geld«, wiederholte der Bauer, der jetzt dicht an der Frau stand, »ich hab's selbst gesehen, wie er, ganz feurig wie eine Flamme, durch den Schornstein in dein Haus hereingefahren ist …«

Diesmal blitzte Angst in den weit aufgerissenen Augen der Frau:

»Du lügst!« schrie sie ihn an, und man konnte merken, daß sie von ganzem Herzen wünschte, er möge das zurücknehmen, was er vorhin gesagt hatte. »Du lügst! Sag, daß du gelogen hast!«

»Bei Gott, ich hab's gesehen …«

Er schlug sich mit der Faust auf die Brust und begann von neuem:

»Borg, Petrusia, hab Mitleid, borg … Ich bin auch mit dem Geld des Teufels zufrieden, nur, um irgendwie aus dem bitteren Elend herauszukommen … Gib mir, wenn es nicht anders sein kann, auch von dem Geld des Teufels …«

Er trat immer näher an sie heran, drängte sie auf die Wand zu und schob sein nach Schnaps riechendes Gesicht dicht an das ihre heran.

»Ich komme zu dir wie zur Mutter … Petrusia, wenn du auch eine Hexe bist, so komme ich doch wie zur Mutter zu dir …, rette mich … Ich will schon diese große Sünde auf mich nehmen … Wir wollen beide das Geld und die Sünde teilen … Ich kam zu dir wie zur Mutter und Beschützerin …, obwohl du eine Hexe bist. Trotzdem kam ich zu dir wie zu meiner Beschützerin …«

Zorn, Angst und Abscheu vor diesem betrunkenen Menschen, der durch sein Laster seine Frau und seine Kinder ins Elend gestürzt und über ihrem Dach fliegende Teufel gesehen hatte, ergriff Petrusia und weckte ihre ungewöhnliche Kraft. Ihre Augen funkelten, sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden und schrie:

»Raus mit dir!« Zugleich packte sie den Bauern am Pelz, stieß die Tür auf und drückte ihn in den Vorraum hinaus. Das war nicht besonders schwer, der Bauer konnte sich ja kaum auf den Füßen halten. In dem dunklen Vorraum torkelte er bis an die Hoftür und rief von dort aus nochmals:

»Du gibst also nicht? Willst mir kein Geld geben?«

Doch die Frau des Schmiedes schob den eisernen Riegel vor die Tür. Simon trat jetzt vor das eingefrorene Fenster und begann zu schreien und zu murmeln:

»Ich bin zu dir …, der Hexe, … wie zur Mutter gekommen … Gib mir Geld …, erbarme dich! … Wenn es auch Geld vom Teufel ist …, gib! … Du willst nicht geben? Willst also nicht geben? Petrusia, hörst du? Der Friedensrichter sagt, daß Schulden bezahlt werden müssen … Da geh' ich zum Vorsteher … Der Vorsteher sagt, daß er den Boden nicht verkauft, aber alles andere aus der Wirtschaft … Nur ein Hemd auf dem Leibe bleibt euch …, sagt er … Ja, ja, ein furchtbares Los für mich und meine Kinder. Petrusia, hörst du? Gib mir doch Geld! … Was schadet es dir? Dein Freund bringt dir wieder neues, soviel du willst … Willst nichts geben? Gut, dann warte nur, du verlorene Seele … Du Ungläubige! … Dem Feinde Gottes hast du dich verkauft … Du wirst es schon noch merken!«

Er ging den Pfad, der zum Wirtshaus und ins Dorf führte, schritt langsam, unsicher, ballte die Fäuste und fuchtelte damit in der Luft umher. So schrie er bald laut und zornig, bald murrte er düster vor sich hin:

»Hat mir nichts gegeben! Diese verlorene Seele! … Dem lieben Gott ist sie untreu geworden … Dem Feinde Gottes hat sie sich verkauft … Ich will's ihr schon geben … Die wird es schon noch merken …«

Schon seit einigen Monaten ging Petrusia nicht mehr ins Dorf. Furcht übermannte sie, wenn sie an eine Begegnung mit den Menschen von dort dachte. Auch die Großmutter ermahnte sie etliche Male, »ruhig zu sein wie ein Fisch im Wasser«.

Jedoch etwa eine Woche nach jenem wundersamen Besuch Simons in ihrer Hütte sah sie sich gezwungen, zu den Labudas zu gehen. Es handelte sich um das Garn, das die alte Aksena für die Labuda gesponnen hatte und das ihr jetzt unbedingt zugestellt werden mußte, wollte man nicht durch ein noch längeres Hinauszögern Vorwürfe oder gar Verdacht auf sich ziehen. In der Abenddämmerung, als der Mann noch in der Schmiede zu tun hatte, sagte Petrusia zu ihrer Großmutter:

»Ich muß heute unbedingt zu den Labudas gehen, Großmutter!«

Die Alte schwieg einen Augenblick, als ob ihr dieser Entschluß der Enkelin nicht gefiele, und sagte schließlich:

»Geh, wenn es sein muß … Versuch aber, dich den Menschen dort nicht zu zeigen … Geh lieber an den Scheunen entlang.«

»Ja, das mach' ich«, antwortete Petrusia.

Sie zog ihren Kittel an und die Schuhe, band ein Tuch um den Kopf und ging. Aksena blieb mit den Kindern auf dem Ofen und begann in der fast völligen Dunkelheit ein Märchen vom Drachen zu erzählen. Es war ein langes und schauerliches Märchen, dem ein anderes folgte, ein so lustiges, daß die beiden ältesten Kinder sich vor Lachen schüttelten und das kleine Lenchen beim Zuhören ebenfalls lachte, obwohl sie noch nicht alles richtig verstehen konnte. Der kleine Adam begann in der Wiege zu weinen. Aksena ließ Stanislaus vom Ofen heruntergehen und den Bruder wiegen. Das Kind rutschte vom Ofen herunter, kletterte auf die Pritsche, auf der das Wiegenbett stand, und bald hörte man in der Stube das gleichmäßige Schaukeln der Wiege die alte Frau beim Sprechen begleiten. Sie erzählte schon das dritte Märchen. Da ertönte hinter den Fenstern und im Vorraum das Hallen schneller Schritte, die Tür öffnete sich geräuschvoll und blieb anscheinend offenstehen, denn in die Stube drang ein Zug kalter, frostiger Luft, und gleichzeitig erscholl ein dumpfer Schrei, gedämpft durch Verzweiflung oder Angst:

»Jesus! Rettet mich! Ich Unglückliche! Sie schlagen mich! Schlagen mich mit Stöcken! O du barmherziger Gott!«

Es war die Stimme Petrusias, die wohl auf den Boden niedergesunken war, denn inmitten der Stube hörte man etwas fallen. Gleichzeitig sagte Aksena, die einige Sekunden lang vor Schreck starr dasaß, mit zitternder Stimme:

»Was ist mir dir, Petrusia? Was ist dir? Gott sei uns allen gnädig, was ist mit dir?«

Das durch das laute Sprechen und Poltern erschrockene Lenchen schluchzte schreiend auf, etwas leiser folgte ihr Adam. Stärker als das klagende Weinen der Kinder ertönte jetzt die befehlende Stimme der blinden Großmutter.

»Sei nicht verrückt, Petrusia! Zünde das Licht an! In der Dunkelheit weinen die Kinder nur.«

Schwer, mit unterdrücktem Stöhnen, erhob sich die Frau vom Fußboden, und als sie Licht machte und den brennenden Kienspan in die Ritze des Ofens steckte, zitterten ihre Hände wie im Fieber. Bei dem zitternden Schein der lodernden Flamme trat ihr Gesicht mit der Deutlichkeit eines Schnitzwerkes aus dem grauen Hintergrund der Stube hervor. Sie war kreideweiß, die Stirn war von tiefen Falten durchfurcht, die Augen blitzten. Das Tuch war ihr vom Kopf heruntergerutscht, zwei einzelne Tränen glänzten an ihren Wimpern, und ein heftiges Schluchzen erschütterte ihr die Brust. Als sie das Licht angebrannt hatte, griff sie sich mit beiden Händen an den Kopf und begann wie irre in der Stube umherzulaufen. Von Zeit zu Zeit blieb sie mit weit aufgerissenen Augen und weit von sich gestreckten Armen mitten in der Stube stehen oder warf sich mit dem Gesicht auf den Tisch und die Bänke. Manchmal rannte sie an den Ofen und streckte die Arme mit einer flehenden Gebärde hoch zu ihrer Großmutter. Dabei redete sie ununterbrochen, so wie man es im Fieber tut, schnell, zusammenhanglos, schrie plötzlich auf oder senkte ihre Stimme zu einem leisen Flüstern. Auf diese Weise berichtete sie von dem Ereignis, und die alte Aksena reckte sich beim Zuhören kerzengerade auf, bewegte die Kiefer immer schneller und suchte mit den knochentrockenen Händen, vielleicht ganz unbewußt, die Köpfe der kleinen Enkelkinder, die jetzt schwiegen, erschrocken dasaßen und von selbst unter diese Hände und an ihre Brust herangerückt waren. Sie erzählte, wie sie bei Labudas glücklich ankam, das Garn zurückgab, alle artig grüßte, sich jedoch in keine Unterhaltung einließ und sich auf demselben Wege nach Hause begab. Auf diesem Wege lauerten ihr einige Menschen auf, die anscheinend schon wußten, daß sie von den Labudas zurückgehen würde. Sie lauerten ihr hinter dem Gartenzaun auf, einem niedrigen Zaun, und als sie an dieser Stelle vorbeiging, hieb irgend jemand mit einem Stock auf ihre Schultern zweimal ein, so stark, daß sie zu Boden stürzte. Derjenige, der sie geschlagen hatte, war Simon Dziurdzia; sie hatte ihn trotz der Dämmerung deutlich erkannt. Und hinter Simon ertönten die lachenden Stimmen Stefans und Paraskas. Die Frau Simons redete etwas von Geld und dem gekauften Rock. Rosalka schimpfte, fluchte und nannte sie einige Male Hexe. Noch zwei andere lachten und schrien, doch die hatte sie nicht erkennen können, da sie vom Boden aufgesprungen und schnellstens davongelaufen war. Und die anderen waren über den Zaun auf den Pfad geklettert und zum Gasthaus gegangen; sie waren nicht geflohen, sie gingen langsam, als ob nichts geschehen wäre. Sie hatten geschlagen! Man hatte auf sie mit Stöcken eingeschlagen! Was sollte sie nun beginnen? Warum mußte sie das alles erdulden?

Sie weinte jetzt heftig, schlug die Arme über dem Kopfe zusammen. Man merkte ihr sofort an, daß eine schreckliche Furcht ihr den Verstand trübte und den Willen raubte. Vom Ofen her ertönte das Flüstern der Alten:

»Oh, Prokopek, mein Junge! Oh, Prokopek, mein Junge! … Warum sind mir gerade jetzt die Worte und die Tränen deiner Mutter eingefallen, warum gerade jetzt?«

Sie öffnete die in dem gelben Gesicht glänzenden weißen Augen weit und sagte mit derselben befehlenden Stimme wie vorher:

»Knie nieder und bete laut! …«

Der Befehl klang, als ob die Enkelin noch ein ganz kleines Mädchen wäre. Sie gehorchte auch wie ein kleines Kind. Schnell sank sie auf die Knie.

»Nicht so«, sagte die Alte, »nicht so! Nimm Lenchen vom Ofen herunter. Adam nimm auf den Arm und rufe die älteren zu dir … Umarme deine Kinder und zeig sie dem allerhöchsten Gott … Bete jetzt und zeige die Kinder dem Richter Gott … Du bist eine Mutter … Möge der liebe Gott Mitleid haben mit den Kindern …«

Den verschlafenen Säugling auf einem Arm, mit dem anderen den kleinen Jungen und die beiden noch kleineren Mädchen umfassend, kniete die junge Frau in der Mitte der Stube nieder. Die Worte des Gebetes schwanden aus ihrem getrübten Gedächtnis und wollten nicht über die zitternden Lippen kommen. Die blinde Frau begann mit ihrer heiseren und zitternden Stimme:

»Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiliget werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe …«

Sie wurde von der jungen Frau begleitet, die anfangs mit schwacher, dann immer deutlicherer Stimme die Worte des Gebetes wiederholte. Gleichzeitig, eifrig, sagten sie beide »Amen!«, und dann sprach die Alte:

»Nun steh auf! Vielleicht hat es der liebe Gott gehört …«

Etwas leiser fügte sie noch hinzu:

»… und die Kinder gesehen …«

Einen Augenblick blieb es ganz ruhig in dem Raum. Petrusia legte den Säugling in die Wiege, die älteren Kinder versammelten sich in einer Ecke der Stube und drängten sich eng aneinander, wie eine Herde junger Schafe.

»Wo ist Michael?« fragte Aksena.

»In der Schmiede!«

»Er weiß noch nicht, was dir zugestoßen ist …?«

»Nein, er weiß es nicht.«

Vor einigen Monaten wäre sie mit ihrem Kummer, mit ihrer Angst genau so wie mit einer freudigen und guten Nachricht, direkt zu ihrem Mann gelaufen. Vor allen Dingen: ohne lange Überlegung wäre sie zu ihm gegangen. Aber jetzt! Oh, er war im Inneren seines Herzens ganz anders zu ihr geworden, nicht mehr so wie früher … Man konnte nicht mehr mit allem zu ihm gehen. Der Glaube an seine Liebe war in ihr erschüttert, schwand von Tag zu Tag mehr, und dort, wo ihr früher so süß war, wurde es jetzt so weh, als ob sie jemand mit einer Handvoll brennenden Wegerichs überschüttet hätte.

»Komm zu mir, mein Kind, wir wollen miteinander reden …«

Sie ging von der Kinderwiege weg, sprang auf die Pritsche, und von hier aus war es schon leicht, hochzukommen und sich auf den Ofenrand zu setzen. Sie saßen sich gegenüber; die weißen Augen der Großmutter schienen mit Anstrengung in das aufgeregte, verweinte Gesicht der jungen Frau zu blicken. Nach langem Überlegen begann Aksena:

»Petrusia, morgen ist doch ein großer Feiertag.«

»Ja, Großmutter!«

»Morgen ist doch das Fest der Unbefleckten Empfängnis, ein großes Fest in der Kirche und ein großer Jahrmarkt in der Stadt.«

»Ja, Großmutter!«

»In der Kirche ist morgen ein großer Ablaßgottesdienst, und auf dem Jahrmarkt wird eine ganze Menge Volk sein! Auch aus Sucha Dolina werden die Bauern in die Kirche und zum Jahrmarkt fahren.«

Wieder schwieg sie längere Zeit, als ob sie ihre Gedanken und irgendwelche Pläne mit ihren gelben Kiefern erst durchkauen müßte.

»Hör zu!« sagte sie dann. »Für dich gibt es jetzt keine andere Rettung mehr, als zum lieben Gott zu gehen und von ihm ein Zeugnis vor den Menschen zu erbitten. Der liebe Gott möge bestätigen, daß du durch keinerlei Todsünde deine Seele verloren hast. Geh in die Kirche, bleib vor Jesus Christus liegen, beichte und nimm das Heilige Abendmahl … Hörst du mich?«

»Ich höre, Großmutter. Gut, Großmutter, ich will tun, was du mir sagst.«

»Gut. Wenn du gebeichtet und vom Priester das Heilige Abendmahl genommen hast, wirst du selbst einen Trost finden und wirst den Menschen zeigen, daß du nicht zu den Feinden Gottes gehörst. Mögen die Menschen sehen, daß du vor Gott zu Kreuze liegest und zu ihm betest, daß dir der Priester das Heilige Abendmahl nicht versagt. Wenn sie das sehen, werden sie schon erkennen, daß du nicht so bist, wie sie es sich ausgedacht haben, und daß du keine Todsünde gegen Gott begangen hast und kein Verbrechen. Der allerhöchste Gott wird dir selbst ein Zeugnis ausstellen.«

»Gut, Großmutter, gut«, wiederholte Petrusia, schon bedeutend ruhiger, legte den müden Kopf auf die Knie der Großmutter und küßte ihre knöcherne Hand. Und mit dieser Hand streichelte Aksena über ihre Haare. Beide schwiegen. Dann sagte die junge Frau wieder:

»Franziska will ich bitten, daß sie morgen auf das Haus und auf die Kinder aufpaßt, das Essen kocht, und ich selbst werde gleich im Morgengrauen in die Stadt gehen.«

»Vielleicht geht Michael auch mit?«

»Der wird wohl nicht mitgehen. Er muß auf das Gut, wo er die große Arbeit bekommen soll.«

»Gut wäre es, wenn er mitginge. Ihr könntet dann zusammen beten und beichten, damit die alte gute Zeit wiederkommt …«

Wieder schwiegen sie, tief in Gedanken versunken. Die Kinder begannen in der Ecke miteinander zu flüstern und mit lautem Knacken an einer süßen Rübe herumzubeißen, die der kleine Stanislaus irgendwo im Vorraum aufgestöbert hatte. Niemand hörte die schweren männlichen Schritte, die hinter der geschlossenen Tür ertönten. Der Schmied trat in die Stube ein, und erst in diesem Augenblick hob Petrusia den Kopf von den Knien der Großmutter. Das Gesicht Michaels war nicht mehr so lustig wie früher, so frei von Kummer und Schatten. Unzufriedenheit und Unruhe verschleierten den Glanz seiner schwarzen Augen, die Lippen unter dem dunklen Schnurrbart zeugten davon, daß er zu Vorwürfen und Zorn leicht geneigt war. Er streichelte die Kinder, die zu ihm hingelaufen kamen, über die Köpfe, blickte sich in der Stube um und rief verwundert:

»Was soll denn das heißen? Da ist das Abendessen noch nicht fertig, und im Ofen ist gar kein Feuer?«

Tatsächlich: Nur der Kienspan warf ein schwaches, zitterndes Licht auf die Stube; in der schwarzen, weiten Öffnung des Ofens brannte noch kein Feuer.

»O Jesus!« rief Petrusia, als sie vom Ofen sprang, »ich hab' ja das Abendessen vergessen, ganz und gar vergessen!«

Und sie begann jetzt mit solcher Eile, daß die Hände zitterten, das Feuer anzufachen und Wasser in die Töpfe zu gießen. Zum ersten Male in ihrem Leben war es geschehen, daß sie ihre Pflichten als Hausfrau vergessen hatte. Die Gründe für ihre heutige Vergeßlichkeit konnte sie aber dem Manne nicht sagen. Er fragte auch nicht danach, sondern setzte sich auf eine Bank und sagte nur:

»Jetzt vergißt du, gottlob, schon, deinem Manne das Essen zu machen, und die Kinder dürfen sich mit Rüben sattessen …, als ob ihr Vater ein Bettler wäre …«

Er hob Stanislaus auf seine Knie, nahm ihm die rohe Rübe aus der Hand und warf sie in eine Ecke der Stube. Der Vorwurf, den er seiner Frau gemacht hatte, war nicht scharf, doch der Frau wäre es vielleicht lieber gewesen, wenn er zornig geworden wäre und sie dann später wieder freundlich angesprochen hätte. Doch er sagte kein Wort mehr zu ihr und sprach nur von Zeit zu Zeit mit den Kindern. Sie beeilte sich mit der Zubereitung des Abendessens, warf Graupen in einen Topf, holte einige Eier aus der Kammer und begann eine Eierspeise mit Speck zu braten, um dem Manne schnellstens etwas zum Essen vorsetzen zu können. Aksena sprach den Mann ihrer Enkelin einige Male an: Was er heute in der Schmiede getan hätte? Wen er gesehen hätte? Ob er morgen zum Feste gehen würde? Er gab ihr nur knappe Antworten, mit denen sie sich zufrieden geben mußte, obwohl in seinen Worten weder etwas Unartiges noch etwa Freundlichkeit mitklang. Wenn er etwas sagte, dann nur so, um eben zu antworten, zerstreut und mürrisch. Petrusia bewegte sich beim Anzünden der Lampe, beim Zubereiten und Auftischen der Abendmahlzeit durchaus rasch und gewandt und machte trotzdem den Eindruck eines leblosen Wesens. Sie sprach kein Wort, ihre Schritte waren leise, ängstlich; wenn sie vor dem Manne stand, senkte sie die Augenlider. Man merkte, daß sie vor Angst erschauerte, wenn er sie anblickte, obwohl sie genau wußte, daß er sie weder schlagen, geschweige denn beschimpfen würde. Weshalb ängstigte sie sich also? Vielleicht war der Blick, mit dem er sie ansah, seltsam durchdringend, bald zornig und bald wieder so traurig, daß sie nur mit Gewalt ihre Tränen zurückhalten konnte. Etwas war zwischen ihnen, das sie wie eine Mauer trennte. Sie wußte ganz genau, was es war. Michael war ein sehr geachteter Handwerker, verkehrte mit vielen Menschen, sah und sprach viele, war überall dort, wo auch sie hingingen, hörte auch alles, wovon sie sprachen. Neugierig und gern zur Unterhaltung bereit, wußte er über so vieles gut Bescheid, daß manche lachend von ihm behaupteten, er höre das Gras wachsen. Um so mehr hörte er das, was seine Frau betraf und sein Haus. Einmal kam es zur Schlägerei und mehrere Male zu ernstem Streit wegen dieses Geredes der anderen über Petrusia. Dann gab er es auf, sich mit den Leuten herumzuzanken, und stellte sich taub. Doch was in seinem Herzen dabei vorging, verrieten seine beredten Gesichtszüge, davon sprachen seine offenen Augen, die Geheimniskrämerei nicht gewohnt waren. Er war ehrgeizig. Hauptsächlich vom Ehrgeiz getrieben, arbeitete er so angestrengt, schmückte er sein Häuschen und füllte es mit allerhand Wertgegenständen und träumte davon, Stanislaus in die Schule zu schicken. Und jetzt mußte er eine solche Schande erleben! Außerdem – man konnte nicht wissen, welche Erinnerungen und welche Zweifel in ihm noch aufgetaucht waren; zwar glaubte er nicht daran, daß es wahr sei, was die Menschen von seiner Frau erzählten; doch er blickte sie so an, als ob er sie ganz und gar durchschauen wollte. Jede Annäherung an sie vermied er, als ob ihn ein Instinkt von ihr abstieße. Manchmal stieg ihm jedoch die Rührung vom Herzen in Hals und Augen, und er wurde in solchen Augenblicken so traurig, als ob er am Grabe seines Vaters stände. Niemals wollte er aber zeigen, wie es dabei in seinem Inneren aussah, und je nach Zeit legte er sich entweder früh schlafen oder ging aus dem Hause.

Jetzt stellte Petrusia die Eierspeise auf den Tisch, stand mit gesenkten Augen ihm gegenüber und wartete, bis er zugelangt hätte, um den Rest an die Großmutter und die Kinder zu verteilen. Als Michael den Zinklöffel in die Eierspeise steckte, blickte er sie durchdringend und zugleich etwas traurig an.

»Ach, Petrusia, Petrusia«, begann er, mit dem Kopf schüttelnd. »Was ist mit dir geschehen? Wie siehst du denn jetzt aus? Dein Haar ist zerzaust, als ob du dich mit jemandem geschlagen hättest, und die Augen sind vom Weinen ganz geschwollen? Warum hast du geweint, was?«

Ohne zu antworten, drehte sie sich schnell um und blieb am Feuer stehen, den Rücken ihm zugekehrt. Dieses Schweigen, mit dem sie seine freundlich gemeinte Frage beantwortete, beleidigte ihn anscheinend, denn als kein Brot mehr in Reichweite war, schrie er sie mit lauter, erhobener Stimme an:

»Gib mir Brot! Hörst du? Was stehst du denn mit herabhängenden Armen herum wie eine Dame?«

Als sie ihm das Gewünschte gereicht hatte, schrie er wieder:

»Gib den Kindern zu essen! Sie sind keine Bettler und brauchen wegen – der Teufel weiß was für einer – Mutter nicht bis Mitternacht hungrig zu sein!«

Es war eine Beleidigung, die schmerzte, denn sie war gegen das Herz der Mutter gerichtet. Doch auch darauf antwortete sie nicht, gab der Großmutter und den Kindern das Essen, wusch das bei der Abendmahlzeit benutzte Geschirr ab und stellte es auf einem Regal auf. Sie wischte den Tisch ab, verlöschte den Kienspan und die Lampe, dann setzte sie sich auf die Pritsche, beugte sich über das Wiegenbettchen des kleinen Adam, der wach geworden war, und stillte ihn mit der Brust. In dem Ofen brannte das Feuer nur noch ganz schwach, und in der Stube herrschte zitternde Halbdämmerung. Hoch auf dem Ofen lag Aksena unbeweglich auf ihrem Strohsack. Ob sie schlief oder wach war, konnte man nicht unterscheiden, denn sie lag schweigsam und unbeweglich. Die Kinder schliefen gleich nach dem Abendessen ein. Michael hatte sich noch nicht hingelegt. Bei der Abendmahlzeit aß er viel, stützte sich mit breitgespreizten Ellbogen auf den Tisch und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Einige Male pfiff er sogar leise eine Melodie. Anscheinend fehlte ihm also nichts. Doch er dachte gar nicht daran, sich schlafen zu legen. Ununterbrochen rauchte er Zigaretten, stützte den Kopf auf die flache Hand und sann über etwas nach. Petrusia begann die Wiege des kleinen Kindes zu schaukeln und ihm ein Schlummerlied zu summen. Sie sang nicht, sie summte nur mit halblauter Stimme eine eintönige, langgezogene Melodie, die in der absoluten Stille und der zitternden Halbdämmerung wie eine traurige, schüchterne Welle sich ergoß, und wiegte dabei. Der Säugling schlief ein, die Frau stand von der Pritsche auf und kam leise, mit bloßen Füßen, zu ihrem Mann heran. Ganz leise sagte sie auch:

»Michael!«

»Was denn?« fragte er, hob den Kopf von der Handfläche und schaute sie an.

»Ich werde morgen bei Sonnenaufgang in die Stadt gehen … In die Kirche, zum Ablaßgottesdienst. Ich werde Franziska bitten, daß sie auf das Haus und die Kinder aufpaßt.«

Immer noch blickte er sie an, doch sie konnte den Ausdruck seiner Augen in dem Dämmerlicht nicht sehen.

»Wie bist du denn plötzlich auf den Gedanken gekommen, in die Kirche zu gehen?« fragte er.

Nach einem Augenblick des Schweigens kam die Antwort:

»Ich will beichten und das Heilige Abendmahl nehmen. Möge mir der liebe Gott selbst vor den Menschen ein gutes Zeugnis geben!«

Mit Mühe hielt sie das Schluchzen zurück und wischte die Tränen, die wie Perlen über ihre Wangen rollten, mit der Schürze ab.

»Du weinst schon wieder«, bemerkte Michael, »ach, du weinst jetzt ziemlich oft …, bist nicht mehr so, wie du früher warst …«

»Bin nicht mehr so«, wiederholte die Frau, und nach einer kurzen Pause fügte sie schüchtern hinzu:

»Auch du bist nicht mehr so wie früher …«

»Bin ich auch nicht«, bestätigte der Mann.

In diesen kurzen Worten, mit welchen sie gemeinsam die Zerstörung ihres früheren Glückes zugegeben hatten, tönte ein Klang bitterer Traurigkeit mit. Immer noch sah er sie aufmerksam an.

»Willst du morgen wirklich beichten und zum Heiligen Abendmahl gehen?«

»Gewiß«, antwortete sie und machte eine Bewegung, als ob sie weggehen wollte, doch er rief:

»Petrusia!«

»Was denn?«

»Setz dich mal neben mich, wir wollen mal reden.«

Verwundert und schüchtern setzte sie sich neben ihn an den Rand der Bank. Er begann zu sprechen:

»Höre zu, Petrusia. Wollen wir denn immer so miteinander leben wie zwei stumme Geschöpfe? Es fehlt nur noch, daß wir uns so lächerlich machen, so zum Gespött der Menschen werden und Ärgernis verursachen wie Stefan Dziurdzia und seine Frau! … So darf es nicht sein, Petrusia. So darf es nicht kommen! Du bist eine Mutter, hast Kinder, und ich muß Achtung vor dir haben …«

Sie hörte ihm gierig zu, als wäre jedes seiner Worte ein Urteil über sie, und als er schwieg, verschränkte sie die Arme über der Schürze und flüsterte:

»Ja, was soll ich denn machen, Michael, wenn du mich nicht mehr liebst? …«

Als sie das gesagt hatte, wartete sie auf die Antwort und atmete schnell und aufgeregt. Doch der Schmied antwortete nicht, schnaubte laut, seufzte, warf den Rest seiner nicht zu Ende gerauchten Zigarette mitten in die Stube, stützte den Kopf auf die flache Hand und schwieg … Da sank die Frau, die umsonst darauf gewartet hatte, daß er das, was sie ihm sagte, bestreiten sollte, mit einem unterdrückten Stöhnen auf den Boden und begann in leidenschaftlichem Flüsterton auf ihn einzureden.

»Michael, mein Liebster, schon seit langer Zeit merke ich, daß du mich nicht mehr liebst, daß du mich nicht mehr magst, daß ich dir zur Last geworden bin – so wie ein schwerer Sack auf der Schulter oder ein Stein, den man einem ans Bein gebunden hat … Weg ist dein Frohsinn! … Weg ist die Unterhaltung mit dir, weg ist dein Lachen. Manchmal bist du so traurig, daß ich am liebsten schon in der Erde liegen möchte, wenn ich es sehe … Du tust mir mehr leid als mein eigenes Leben, und ich will nicht, daß du meinetwegen zugrunde gehst … Wenn du mich nicht mehr lieb hast, will ich das Haus verlassen, fortgehen, fort von dir, in die weite Welt, wohin mich die Augen führen werden … Nur die Großmutter sollst du bis zum Tode bei dir behalten … Lange Zeit wird ihr zum Leben auf dieser Welt nicht mehr übrigbleiben, und ein Kind mußt du mir erlauben mitzunehmen zum Andenken an dich …, als ein einziges Andenken. Wie die Großmutter einmal mit mir durch die Welt wanderte und für uns beide gearbeitet hat, so werde auch ich mit meinem Kindchen durch die Welt wandern und werde für uns beide arbeiten und verdienen … Und wenn ich irgendwo weit weg von hier bin, ganz, ganz weit weg, am Ende der Welt, dann wird man von mir nichts mehr hören, die Menschen werden glauben, daß ich unter den Lebenden nicht mehr zu suchen bin, und du wirst dir eine andere Frau nehmen können, eine andere Hausfrau, und wirst alles so machen können, wie du es möchtest … Liebster, Michael, ich werde von dir fortgehen, werde dieses Haus verlassen, bis ans Ende der Welt gehen mit einem einzigen Kindchen von mir …, wenn du mich nicht mehr haben willst … Ich gehe …«

Während sie es sprach, umarmte sie seine Knie, neigte die Stirn und küßte sie. Doch wenn sie manchmal den Kopf hob, war auf ihrem Gesicht trotz einer unendlichen Traurigkeit soviel Offenheit und Kraft zu lesen, daß es scheinen konnte, sie würde jeden Augenblick aufspringen, eines von ihren Kindern auf den Arm nehmen und aus dem Hause fortlaufen … Sie sprang jedoch nicht allein auf, sondern wurde von zwei starken Männerarmen hochgehoben und auf die Bank gesetzt. Wie in einer eisernen Zange hielt der Schmied ihren Arm in seiner riesigen Hand und begann zu sprechen, wobei er sich sichtlich zu einem Lachen zwang:

»Was redest du da? Was erzählst du da für Sachen? Ei, wie ist sie denn? Ganz verrückt! Aus dem Haus will sie fortgehen! Bis ans Ende der Welt wird sie fortgehen! Meinst du denn, ich würde dich aus dem Hause gehen lassen? Nein, eher würde ich mich von meinem eigenen Leben trennen! …«

Im selben Augenblick hing sie an seinem Halse.

»Dann bin ich dir wohl gar nicht so unlieb?«

»Ich hab' dich genau so lieb wie früher …«

Ein weißer Lichtstreifen fiel auf beide, als sie sich, Gesicht an Gesicht, in die Augen blickten. Sie sah darin, daß es wahr war, was er ihr sagte, und ihre Augen wurden trocken, glänzten auf, wurden wieder genau so lustig, offen, beredt wie früher.

»Ha, du, du Schwätzer! Denkst du etwa, ich bin irgendein Spitzbube oder Räuber, daß ich auf einmal alles vergessen haben und jetzt im Herzen anders empfinden sollte. Hast du denn, als du dich bei fremden Leuten abgerackert hast und sechs Jahre erdulden mußtest, daß man über dich lachte und spottete, nicht auf mich gewartet und einen reichen Bauern meinetwegen abgelehnt?«

»Ja!« flüsterte die Frau.

»Warst du denn besudelt, als ich dich zur Frau nahm, oder etwa zurückgesetzt? Rein warst du, ohne einen einzigen Flecken, wie ein Glas, das im kristallklaren Wasser gespült wurde, munter warst du und lustig wie ein Vogel, der unter den Wolken fliegt …«

»Ja!«

»Sieben Jahre habe ich mit dir gelebt, und bis diese unglücklichen Zeiten über uns gekommen sind, habe ich keinen traurigen Tag erlebt, keinen Zorn auf deinem Gesicht gesehen, kein böses Wort von dir gehört …«

»Ja!«

»Vier Kinder hast du mir geboren und unermüdlich gepflegt, auf die Wirtschaft aufgepaßt, die Hände nie müßig in den Schoß gelegt und viel Neues für uns angeschafft …«

»Ja!«

»Nun, siehst du also! Warum sollte ich dich denn nicht mehr lieben? Ach, du Törichte! Aus dem Hause wolltest du gehen, fort von mir …, und ich wäre dir nachgegangen, hätte dich eingeholt und hätte dir dann eine Tracht Prügel gegeben … Bei Gott, dann, ja dann wäre es Feierabend mit dir gewesen! Ich hätte dir die Prügel gegeben, dich kehrt machen lassen und wieder ins Haus gebracht. Sitz, Weib, wenn es dir gut geht! So!«

Mit dem letzten Wort ertönte in der Stube ein lauter Kuß. Direkt auf den Mund hatte er sie geküßt, umarmt und gefragt:

»Nun, jetzt rede mal, warum du heute so sehr geweint hast, daß du dicke Augen bekommen hast? Wer hat dir denn wieder etwas Böses getan, was?«

Obwohl sie nun sicher war, daß er sie genau so liebe wie früher, mit Augen, in denen das Glück strahlte, zögerte sie noch einen Augenblick, ihm alles zu gestehen. Aber die alte Gewohnheit, ihm alles zu sagen, gewann endlich die Oberhand. Das Gesicht vor Scham mit den Händen zudeckend, doch ohne zu weinen, erzählte sie ihm das schreckliche, ihr heute zugefügte Unrecht.

Michael sprang auf und donnerte mit der Faust auf den Tisch.

»Ich schlage sie tot«, rief er, »ich schlage sie tot, diese Lumpenkerle! Was wollen sie denn von dir, diese Halunken, diese Flegel …«

Er nannte die Bauern Flegel, als wäre er selber kein Bauer … Tatsächlich hatte er in sich schon etwas, das ihn über den Kreis, dem er durch Geburt angehörte, hinaushob. Petrusia fiel ihm in den Arm und flehte ihn an, daß er niemanden schlagen und nicht einmal zur Rede stellen solle. Auf Michaels Stirn schwoll die Zornesader, die Augen blitzten. Er setzte sich auf die Bank, atmete schwer und steckte sich mit eckigen, nervösen Bewegungen eine Zigarette an. Dann blies er dicke Rauchwolken in die Luft und knurrte immer noch:

»Dämliche Bauernflegel! – Glauben noch an solche Dummheiten! Ich glaube nicht daran … Bei Gott, ich glaube nicht, daß es auf der Welt irgendwelche Hexen gibt … Manchmal ging so etwas auch mir durch den Sinn, daß es wahr sein könnte … Ist doch klar …, zwischen Dummen wird auch der klügste Mensch mit der Zeit dumm … Doch ich weiß genau und begreife, daß es alles Märchen sind. Ein dummes, ungebildetes Volk ist das, das ist alles. Ja, aber trotzdem ist es eine Not für uns, und schämen muß ich mich; schämen wie ein Säufer oder Lumpenkerl, mich in den Wirtshäusern und auf den Straßen herumzuprügeln. Aber auch das wird nichts helfen … Dummköpfen wirst du die Dummheit nicht herausprügeln können, da kann man schlagen wie man will … Was kann man da nur machen?«

»Morgen werde ich vor allen Menschen beichten und zum Heiligen Abendmahl gehen«, flüsterte Petrusia.

Michael winkte mit der Hand ab.

»Was wird das helfen? Einer wird es sehen, und der andere in dem Gedränge beim Gottesdienst nicht einmal bemerken. Wer dich haßt, Groll und Neid gegen dich empfindet, der wird auch so bleiben. Man wird dir zusetzen, bis du zugrunde gehst, und wenn sie dir nochmal so ein Unrecht zufügen wie heute … Gott soll es verhüten!«

Er rieb sich mit der Hand kräftig übers Kinn und fuhr sich einige Male durch das Haar.

»Wird wohl so weit kommen, daß man das Haus lassen und in die Welt wird gehen müssen.«

»Das Haus und die Wirtschaft verlassen?« schrie Petrusia.

»Na und? Was ist denn schon dabei?« antwortete er.

Trotzdem sah er sich wehmütig in der Stube um. Er liebte dieses Haus, das warm, das gut erhalten war, in dem alles so schön zurechtgemacht und ausgeschmückt war, das er durch so lange Zeit wie ein Vogel, der sein Nest zurechtmacht, eingerichtet hatte. Er liebte dieses Stück vom Vater geerbten Landes, auf dem er sich nach dem langen, wechselvollen Soldatenleben mit Freude im Herzen niedergelassen hatte. Nach längerem Schweigen umarmte er seine Frau und begann:

»Wenn das Leben hier für mich zu schwer geworden wäre, wärest du mit mir anderswohin gegangen?«

»Selbstverständlich«, rief Petrusia.

»Nun, dann werde auch ich mit dir anderswohin gehen, wenn es dir hier schlecht geht. Das Land werde ich verpachten, so wie damals, als ich zum Militär ging, und als Handwerker kann ich um die ganze Welt wandern, und Brot für uns und unsere Kinder soll uns dabei nicht fehlen … Werde mich in irgendeiner Stadt niederlassen und weiter schmieden, aber dir laß ich kein Unrecht antun, geschweige denn, dich schlagen!«

Die Frau neigte den Kopf und küßte voller Dankbarkeit seine Hände.

»Wie gut bist du, ach, wie gut bist du … Einen Besseren gibt es wohl auf der ganzen Welt nicht … Ich hab' in deinem Gesicht gelesen, hab' aus deinen Worten gehört und an deinem ganzen Wesen erkannt, daß du gut bist … Deshalb hab' ich dich auch so lieb gewonnen, für immer, bis zum Tode, so wie ich noch gar keinen Menschen geliebt habe. Deine Liebe würde mir fehlen wie die lieben Sonnenstrahlen und das Wasser zum Trinken …«

Er richtete die gebückte Frau auf und umarmte sie:

»Geh morgen in die Stadt, höre dir die Heilige Messe an, beichte und geh nach dem Gottesdienst zu meiner Schwester, zu Hanula, die dort mit einem Feldscher verheiratet ist, und frage bei ihr nach, ob es für mich gut wäre, wenn ich mich in der Stadt niederlassen würde …, das heißt, wenn ich mich dort niederlassen und mein Handwerk betreiben würde …, ob sie dort einen Schmied brauchen … Und wenn dort keiner gebraucht wird, dann könnte ich mir vielleicht eine Stellung auf jenem Gut suchen, wo ich morgen wegen der Arbeit hingehen will … Das Gut ist groß, es ist sehr viel Land dabei … Immer schon hatten sie dort einen Schmied, und jetzt ist keiner da … Vielleicht nehmen sie mich? Gern wäre ich mit dir morgen zum Gottesdienst gefahren, aber ich muß auf dieses Gut hinaus … Geh du nur morgen deine Wege, und ich geh' den meinen. Und dann wollen wir, ohne viel zu säumen, die Großmutter und die Kinder auf den Wagen setzen, und weg geht's. Das ist es ja, was du selbst tun wolltest. Wirst in die Welt gehen und ein besseres Los unter den Menschen suchen, doch nicht allein, sondern mit mir, mit der Großmutter, mit allen Kindern und auch mit meiner Arbeitskraft, die uns allen schon ein Stückchen Brot einbringen wird …«

»Ich danke dir, Michael, danke für deine große Güte … Wenn ich könnte, würde ich ganz zu Dankbarkeit werden!«


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