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IV.

Nach Stanislaus und Christine wurde das kleine Lenchen geboren, und nach Lenchen kam noch der kleine Adam zur Welt. Es waren also schon vier Kinder, von denen das älteste sechs Jahre war. Gesund und lustig wurden sie im Hause des Schmiedes großgezogen, gerade zu jener Zeit, als die Einwohner von Sucha Dolina an den vier auseinanderstrebenden Wegen das Feuer aus Espenholz entfacht hatten. Auf dieses Feuer stieß Petrusia als erste – einem Nachtfalter ähnlich, der, durch den Glanz der Flammen angelockt, in sein eigenes Verderben fliegt. Sie war also jene unsaubere und bösartige Seele, die in etlichen Gehöften die Kühe verzauberte und ihnen die Milch nahm. Wenn an ihrer Stelle eine andere Frau dort zuerst hingekommen wäre, dann wäre die öffentliche Meinung des Dorfes ebenfalls stark beunruhigt worden, und man hätte auch gegen die andere Verdacht geschöpft. Solchem Verdacht hätten sich aber auch einige Zweifel hinzugesellen können. Um zur absoluten Sicherheit über die Unumstößlichkeit der Tatsache zu kommen, hätte man noch eine ganze Reihe Verdachtsmomente gebraucht. In diesem Falle konnte jedoch keiner leugnen, daß die Vergangenheit den gegenwärtigen Verdacht stark bekräftigte. Dieses unbekannte Kind war hier einst mit einem alten Weibe angekommen, von dem man nicht wußte, durch welche Macht es in der Welt herumgetrieben wurde – ob durch eine gute oder aber eine böse. Die Alte mußte ein großes Stück Welt gesehen haben und weit herumgekommen sein. Sie wußte mehr als alle Einwohnerinnen des Dorfes zusammengenommen. Woher hatte sie alle diese Kenntnisse? Dann wurde sie blind. War das nicht vielleicht Gottes Strafe für irgendwelche böse Taten, die sie büßte, für irgendein den anderen Menschen zugefügtes Unrecht? Oder auch für Beziehungen zu dem Bösen? Und jene gefährliche Liebe, die das arme Mädchen, eine Fremde, eine Zugewanderte, in einem der reichsten Bauern des Dorfes entfacht hatte? In Stefan Dziurdzia. Und ihre Heirat? Sie hat ja einen Burschen geheiratet, der sie sechs Jahre nicht gesehen und doch nicht vergessen hatte. Und das Auffinden des Diebes? Und alle die anderen Ratschläge, die sie erteilte, und die Arzneien, die sie gab? Ihrem Beispiel folgend, verbrannten auch alle anderen Mädchen des Dorfes einen Besen im Ofen, wenn sie Gäste ins Haus bekommen wollten; ihrer Warnung war es zuzuschreiben, daß es niemand wagen wollte, eine Litze vom Boden aufzuheben, in die eine Reihe von Knoten geflochten war, um nicht sofort Warzen zu bekommen. Es existierte zwar schon eine ganze Portion solcher Lebensweisheiten in Sucha Dolina und der ganzen Umgebung – ganz unabhängig von Petrusias Ratschlägen und schon vor ihrer Ankunft. Zwar war es schon seit Väter und Urgroßväter Zeiten so, daß keine der hiesigen Frauen in der Zeit zwischen Weihnachten und dem Dreikönigsfest auch nur ein einziges Mal den Spinnrocken gedreht hatte. Um nichts in der Welt hätte man das getan. Denn dadurch wäre das gesamte Geflügel des Hofes im Frühling an Geflügelpest gestorben. Am Tage der Kreuzeserhöhung ging keine einzige in den Wald, um Pilze oder Beeren zu sammeln, denn dadurch hätte sie alles Ungeziefer und alle Schlangen aus dem Walde in ihr Haus gelockt. Jede achtete bei der Getreideernte eifrig darauf, daß sie nicht durch Zufall mit der Sichel solche Ähren abschnitt, die in einer ganz bestimmten Art miteinander verflochten oder geknickt waren, denn so werden diese nur durch die Hände von Mißgünstigen ineinandergeflochten – zum Unglück dieser Schnitterin. Viele, viele solcher Hinweise und Kenntnisse besaß die Bevölkerung von Sucha Dolina schon seit Großvaters und Urgroßvaters Zeiten, doch Aksena und ihre Enkelin kannten bei weitem mehr. Und der gegenwärtige Reichtum des Schmiedes und seiner Frau? Die Hütte sah ja bald einem Häuschen auf irgendeinem Adelsgut ähnlich, der Wagen war beschlagen wie eine Reisekalesche. Eine tüchtige Stute zum Einspannen, Kühe, Schafe – alles war da. Und in der Hütte stand ein Samowar, da gab es glänzende Löffel und einige weiße Teller. Sind solche Reichtümer etwa nichts? Wo haben sie die Schmiedeleute eigentlich her? Schon seit langer Zeit wunderten sich Rosalka, die Frau Stefans, und mit ihr viele andere Frauen des Dorfes laut und vernehmlich darüber und posaunten es in der Welt herum, daß die Schmiedefrau wie eine Dame zu Hause Tee trinke, Kleider aus gekauftem Perkalstoff trage und manchmal sogar mit einem halbseidenen Tuch auf dem Kopfe in die Kirche komme. Und der Schmied selbst! Einen Spenzer hat er an, trägt Überröcke, Überzieher, hat herrliche Schuhe, hübsche Mützchen auf dem Kopfe, und den Bauernkittel oder die große Mütze aus Schafspelz, wie sie die anderen tragen, hat er ganz abgelegt. Rosalka bekam regelrechte Tobsuchtsanfälle, und die schlampige Paraska weinte heftig, wenn sie sich selbst oder ihren Nachbarinnen die Frage stellte: »Woher könnte bei dem Schmied und seiner Frau soviel Reichtum kommen?« Die Nachbarinnen, besonders die junge Labuda, die Petrusia sehr gut leiden konnte, redeten dies oder jenes oder erinnerten sich daran, daß Michael angeblich etwas Geld aus der großen Welt mitgebracht haben sollte, daß er durch sein Handwerk sehr gut verdient hatte, daß er auch jetzt immer fleißig und strebsam war und die Menschen von weither mit Aufträgen zu ihm kamen. Sie sagten, daß er ein gut Stück fruchtbaren Bodens sein eigen nenne und Petrusia eine gute Bäuerin und Hausfrau sei und so weiter. – Doch Rosalka und Paraska, mit ihnen auch viele andere Frauen, schüttelten nur verächtlich den Kopf und nickten mit bittenden Augen Jakob Schischko zu, der solchen Gesprächen meistens beiwohnte, sich dabei feierlich hochreckte und sprach:

»Der Teufel bringt der Hexe das Geld durch den Schornstein! So, daher kommt auch ihr Reichtum.« Und jetzt konnte der alte Schischko triumphieren:

»Na und?« sprach er, »wer kam denn zuerst auf das Feuer? Wer hat denn den Kühen die Milch genommen?«

Das Dorf war groß, und nicht alle interessierten sich für diese Angelegenheit. Doch in etlichen Hütten summte und surrte es an diesem Abend wie in den Bienenhäusern. Die Männer wunderten sich und empörten sich zugleich, zuckten mit den Schultern und ballten die Hände zu Fäusten. Doch wie immer, wenn ihnen der Schnaps nicht die Zunge löste, sprachen sie auch diesmal nur wenig. Die Zungen der Weiber dagegen gingen wie die Flügel einer Windmühle. Rosalka bewegte sich rasch wie ein Eichhörnchen und zischend wie eine Schlange geschäftig unter den Menschen. Sie war in verschiedenen Häusern und auch in verschiedenen Höfen zu sehen. Dazu war es schon sehr spät – eine Stunde vor Mitternacht, und die Hähne begannen zum ersten Male zu krähen. Mit dem Kind auf dem Arm kam Stefan in die leere Stube, machte Feuer im Ofen, steckte die Kienspäne an und befestigte sie in einer Ritze in der Wand. Er beugte dann sein faltiges und zorniges Gesicht über das Kind, das in seinen Armen eingeschlafen war. Gehörte dieser unförmige Kopf, von flachsblonden Haaren nur spärlich bedeckt, mit dem aufgeschwemmten Gesicht und den geschlossenen Lidern, deren Wimpern jetzt auf den wachsgelben Wangen lagen, tatsächlich einem lebendigen Kind? Beim Licht der Kienspäne blickte Stefan lange auf das Gesicht seines Kindes. Warum war sein Sohn ein so armseliges, elendes Ding, obwohl er selbst zu den stärksten und größten Bauern des Dorfes und der ganzen Umgebung gehörte? Die immer in Kummer verzogenen Lippen Stefans flüsterten dicht an dem Gesicht des Kindes:

»O du armes, armes Ding! Als du der Mutter noch unterm Herzen lagst, da hat dein Vater seine Frau geschlagen, weil er sie nicht leiden konnte … Und als du kaum vom Boden aufgewachsen bist, hat dich deine böse Mutter mit einer Schaufel auf den Kopf geschlagen …«

Langsam schwand aus seinem Gesicht der Ausdruck der Strenge und des Zornes und machte einem tiefen Schmerz Platz. Er küßte die Stirn des schlafenden Kindes, das in diesem Augenblick wach wurde und ihm beide Arme um den Nacken schlang: »Papa, essen!«

Mit einem Arm hielt er den Kleinen an seiner Brust fest, griff mit dem anderen in die tiefe Schlucht des Ofens und holte daraus einen Topf mit dem kaum lauwarmen Rest von Grützesuppe hervor. Dann nahm er einen Holzlöffel und gab damit dem Kinde die Suppe in den Mund. Ein Teil der Flüssigkeit ergoß sich dabei von dem Löffel und aus dem vollen Munde des Kleinen auf den Rand des Ofens. Der Kleine verschluckte sich öfters, würgte an der Suppe und lachte zugleich. Auch zwischen den unzähligen Fältchen in Stefans Gesicht begann sich jetzt ein Lächeln zu zeigen. Doch bald zog er zornig die Augenbrauen zusammen, und aus seinem Mund kam gepreßt ein leiser Fluch. Warum herrscht denn in seinem reichen Hause solch ein Elend, daß er jetzt sein Kind mit dem Rest einer kalten Grützesuppe füttern muß? Warum ist er selbst hungrig? Warum hat man ihm nichts zu essen bereitet? Die Speisekammer ist doch voll. Ja, aber das Haus ist leer. Und nur ein einziges Kind ist darin, seine Frau aber rennt in der Gegend herum und mahlt mit der Zunge.

»Hündin!« murmelte er und fluchte.

Dann sagte er nochmals zu dem Kind:

»Ach, wenn die andere deine Mutter wäre. Du würdest da ganz anders aussehen!«

Nach einer Weile schlief das Kind ein, das der Vater selbst auf den Strohsack gebettet hatte. Stefan holte sich aus der Kammer ein Stück Speck und Brot und stillte damit seinen Hunger. Dann setzte er sich auf eine an der Wand stehende Bank und schlummerte ein. Den ganzen Tag hatte er gepflügt und war jetzt so müde geworden, daß er schläfrig mit dem ganzen Körper hin und her pendelte. Trotzdem ging er aber nicht schlafen. Er wartete auf seine Frau. Sollte das etwa ein Ausdruck ehelicher Zuneigung sein? Das sollte Rosalka erfahren, als sie kurz vor Mitternacht nach Hause kam. Dabei war sie auch noch in einer ausgezeichneten Laune. Es beglückte sie tief, daß man heute Petrusia auf frischer Tat ertappt hatte, daß es nun klar geworden war, daß sie den Menschen Schaden zufügte. Bestimmt wird sie von jetzt ab nicht nur das ganze Dorf, sondern auch ihr Mann verabscheuen. Diese letzte Hoffnung erfüllte die Frau mit einer leidenschaftlichen Zufriedenheit. Sie hat ja Stefan aus Liebe geheiratet und nicht, weil man sie dazu gezwungen hätte, und auch nicht aus Habgier. Man hatte sie einmal gewarnt, daß er so jähzornig wäre.

»Mit dem komme ich schon zurecht«, hatte sie darauf gesagt, »auf Zorn muß man mit Zorn antworten, und man kann nicht wissen, wer der Stärkere sein wird. Er soll mich nur ruhig schlagen, wenn er mich nur lieb haben wird.«

Doch sie hatte die Erfahrung machen müssen, daß er sie nicht liebte und sie nur deswegen zur Frau genommen hatte, weil nach dem Tode der Mutter der Hof eine Bäuerin brauchte. Die andere aber hat er geliebt – und wie er sie geliebt hat! Ach, wenn sie nur keine Angst vor Gericht und Gefängnis gehabt hätte! Hundertmal hätte sie die andere schon umgebracht. Doch jetzt ist sie sowieso schon tot. Eine Hexe, die den Menschen Schlechtes tut und im Bunde mit dem Satan steht! Jetzt wird auch Stefan ihr ins Gesicht spucken, wenn er sie sieht. Diese Hoffnung hatte sie glücklich und dem Manne gegenüber sehr zärtlich gestimmt. Ganz leise schlich sie sich ins Haus hinein, und als sie Stefan sah, der immer noch auf der Bank saß, sprang sie wie ein Eichhörnchen an ihn heran, setzte sich neben ihn auf die Bank und legte einen Arm um seinen Hals. Ihre Augen glichen zwei schwarzen Flämmchen, zwischen den schmalen Lippen, die jetzt lächelten, glänzten zwei Reihen blendendweißer Zähne. Sie schlang den Arm fest um den Nacken des Mannes und wollte sich fest an ihn heranpressen, als er plötzlich die geballte Faust hob und sie so kräftig in den Rücken stieß, daß sie von der Bank auf den Boden rutschte und auf die Knie fiel. Zugleich begann Stefan zu schreien und zu schimpfen und wollte wissen, woher sie so spät nach Hause käme, warum sie das Abendbrot nicht gekocht hätte und warum sie das Kind so lange allein zu Hause ließe. Da loderte in ihr wieder der Zorn auf. Sie erhob sich von den Knien, stemmte die Fäuste in die Hüften, sprang dicht an ihn heran, lachte bösartig und rief ihm zu:

»Eine Hexe ist deine Petrusia! Eine Hexe ist deine Liebste! Eine Hexe ist dein Herzallerliebstes! Eine Hexe! Eine Hexe!«

Stefan sprang von der Bank auf, packte sie an den Haaren und warf sie wieder zu Boden. In diesem Augenblick wurde durch das Geschrei und das Poltern der kleine Junge wach. Er sah, wie mitten in der Stube sich die Eltern prügelten, schlüpfte schnell unter der Leinwanddecke hervor und kroch lautlos, mit erschrockenen Bewegungen, unter die Pritsche. Aus Erfahrung wußte er, daß nach jeder Schlägerei mit dem Mann die Mutter ihn am Haar oder am Hemd ergriff und wie einen jungen Hund aus dem Bett mitten in die Stube warf. Meistens nahm ihn dann der Vater auf den Arm, drückte ihn liebevoll an die Brust und trug ihn in der Stube hin und her. Doch manchmal kam es auch vor, wenn er allzu sehr erzürnt war, daß er dem Kleinen einen Fußtritt versetzte …

Inzwischen ging Petrusia für einige Augenblicke in die Schmiede hinein, unterhielt sich hier mit ihrem Mann und kehrte dann nach Hause zurück. Tagsüber hatte sie sich im Garten beim Jäten der Rüben und des Blumenkohls tüchtig müde gearbeitet und war dann eine Stunde vor Sonnenuntergang aufs Feld gegangen, um einige ihrer geliebten Kräuter zu sammeln. Sie wußte, daß sie noch rechtzeitig zurückkommen würde, um das Abendessen zu kochen.

Um Aksena, die von der Enkelin in den Garten hinausgeführt worden war, wo sie fast den ganzen Tag hindurch gesessen hatte, und die jetzt, wie immer, ihren alten Platz auf dem Ofen wieder eingenommen hatte, versammelten sich inzwischen die drei älteren Kinder. Das jüngste schlief noch in der Wiege. In der sommerlichen Abenddämmerung, die die Stube erfüllte und mit vielen Sternen durch die Fensterscheiben hereinblickte, zeichnete sich die aus vier menschlichen Wesen verschiedener Größe bestehende Gruppe wie ein Schattenbild in undeutlichen, dunklen Umrissen fast unter der Decke der dunklen Stube ab. In der Stille, die nur durch die entfernten Schläge des Schmiedehammers unterbrochen wurde, hörte man die heisere und lispelnde Stimme der alten Frau. Dazwischen ertönten die hellen Rufe der Kinder, dem Geläut einer silbernen Glocke ähnlich. In ernstem Tone erzählte Aksena den Kleinen irgendeine geheimnisvolle Geschichte. Von Zeit zu Zeit hörte man auch ihr klapperndes, trockenes Lachen. Die Kinder unterbrachen sie oft mit vielen staunenden Ausrufen und mit einer Fülle von Fragen. Am häufigsten und am mutigsten fragte aber der sechsjährige Stanislaus, der liebste und erstgeborene Sohn seines Vaters, der auch der Mutter bei der Pflege der jüngeren Kinder half, so gut er konnte. Auch für die Großmutter sorgte er schon. Manchmal fütterte er sie auf dem Ofen oder führte sie im Garten und auf der Landstraße an der Hand. Jetzt war er für irgend etwas besonders interessiert und überfiel die Großmutter ununterbrochen mit Fragen, die er im Tone eines verwöhnten Kindes stellte.

»Wo war er denn, Oma? Wo war denn der kleine Adam, bevor er zu uns ins Haus kam? Wo war er früher?«

Es ging ihm darum, zu erfahren, woher das jüngste Brüderchen gekommen war, das vor einem Monat plötzlich dagewesen war, und was es früher gemacht hatte, noch bevor es hierher kam. Die alte Frau lachte und sagte:

»Im Wald war der kleine Adam. Im Wald war dein liebes Brüderchen, bevor es hierher kam.«

»Und was hat er dort gemacht?« ertönte die Frage.

»Er hat im Walde die Häschen gefüttert«, antwortete ihm die Großmutter.

»Und wo war ich, bevor ich hierher kam?«

Schon ohne zu überlegen, antwortete die Greisin:

»Du hast auf einem hohen Baume gesessen und hast die Krähen in der Luft gefüttert …«

»Und ich? Und ich? Oma? Und ich?«

»Du, Christine, du hast in einem tiefen blauen Wasser gesessen und hast die Fischlein gefüttert.«

»Lenchen? Oma, und Lenchen?«

»Und ich, Oma? Und wo war ich?«

Anscheinend gab die Oma dem dreijährigen Lenchen einen Kuß, denn man hörte in der Stube ein lautes Schmatzen. Dann sagte sie lachend, wobei man in ihrem klappernden Lachen ganz klar die Freude heraushören konnte:

»Lenchen saß im dichten Gras und fütterte die Würmchen!«

In diesem Augenblick schlug die Tür zu, und in der Stube verbreitete sich ein starker Geruch von Kräutern.

»Bist du es, Petrusia?« fragte in der Dämmerung die heisere und lispelnde Stimme.

»Mama!« rief jetzt der Kinderchor.

»Seid ihr alle hier?« fragte die Angekommene.

»Alle!«

»Schläft denn der kleine Adam?«

»Ja!«

»Nun, Gott sei Dank! Ich will gleich Feuer machen und euch die Kartoffeln kochen, die ich heute im Garten geholt habe.«

»Ach! Ach! Es sind gute Kartoffeln … Ganz junge …«, lispelte mit deutlichem Vergnügen die Großmutter.

»Gute Kartoffeln, ach, gute Kartoffeln«, wiederholten die Kinder im Chor.

Ein starkes Feuer loderte jetzt im Ofen auf und erleuchtete die Stube, in der sich während der verflossenen Jahre einiges geändert hatte. Es waren aber durchaus positive Veränderungen. Man merkte jetzt einen noch größeren Wohlstand und noch mehr »Neuerungen«. Zwischen den Fenstern stand eine kleine Kommode, darauf zwei Kerzenhalter aus Messing und eine Lampe mit einem gläsernen Schirm. An den Fenstern hingen Gardinen aus buntem Perkalstoff und eine kräftige Geranie, die in roten Blüten fast ertrank. Hinter den verglasten Türen des Schrankes sah man weiße Teller, an der Wand hingen einige Bilder in glänzendem Rahmen. Alle diese Sachen hatte Michael ins Haus gebracht. Jedesmal, wenn er geschäftlich irgendwohin fuhr, brachte er etwas Schönes von der Reise mit und freute sich dann wie ein kleines Kind über jede Neuerung. Es machte ihm Spaß, daß auch seine Frau Freude daran empfand. Die hätte sich auch dann darüber gefreut, wenn er die Dinge nicht ausdrücklich in dieser Absicht gekauft hätte. Ihre Augen liebten die bunten Farben der Gardinen aus Perkalstoff und den goldenen Glanz der Messingleuchter. Nur eines bekümmerte sie: daß die blinde Großmutter alle diese Herrlichkeiten und Bequemlichkeiten, die sie jetzt ihr eigen nannte, nicht sehen konnte. Dafür erzählte sie ihr lang und breit und bis in die kleinste Einzelheit von diesen Neuerungen und gab ihr jede neue Erwerbung in die Hand, damit sie sie wenigstens betasten konnte. Im übrigen blieben die alten Sachen in der Stube genau wie früher: die Bänke und Tische, der Hausrat, die Stühle mit hölzernen Lehnen und Petrusias Webstuhl. In der Ecke lag ein Haufen Eisenzeug, und darüber hingen an der Wand einige neue, erst vor kurzem in der Schmiede hergestellte Äxte, Sägen, Haken und Zangen. Petrusia breitete über den Webstuhl ein großes Tuch aus grobem Leinen und schüttete darauf aus ihrer Schürze die gesammelten Kräuter. Dann bemühte sie sich um das Abendessen. Wie eine Vogelschar schwirrten die Kinder vom Ofen herunter und trippelten barfuß um die Mutter herum. Sie zwitscherten ihr nun alle die wunderbaren Dinge zu, von denen ihnen die Großmutter in der Abenddämmerung erzählt hatte.

»Mutti! Ich hab' ganz, ganz tief im blauen Wasser gesessen und hab' Würmchen gefüttert! …«

»Und ich hab' auf einem hohen, ganz hohen Baum gesessen und hab' die Krähen in der Luft gefüttert! …«

»Und der kleine Adam war im Walde und hat die Häschen gefüttert …«

Petrusia schüttete die Kartoffeln in einen Topf und neckte sich lustig mit den Kindern. Die alte Aksena, die auf dem Ofen saß, hielt sich vor Lachen die Seiten und freute sich, daß diese Dummerchen alles, aber auch alles glaubten, was sie ihnen erzählt hatte.

Eine halbe Stunde später kehrte der Schmied heim, und die Kinder flogen jetzt ihm entgegen.

»Papa, ich hab' im blauen Wasser …«

»Und ich, Papa, auf einem hohen Baum …«

»Und ich im dichten Gras …«

»Und der kleine Adam im Wald …«

Michael nahm eines nach dem anderen auf die Arme, hob sie hoch über seinen Kopf, so leicht, als ob sie gar kein Gewicht hätten, drückte jedem einen Kuß auf die Backe und stellte sie wieder auf den Boden herunter. Dabei fragte er die Kinder sehr eingehend und mit sichtlichem Wohlgefallen, was sie denn eigentlich im Wasser, im Gras und auf dem Baum getan hätten und wann das genau gewesen wäre. Michael war jetzt ein reifer Mann geworden. Seine Schultern waren durch die schwere Arbeit in der Schmiede in die Breite gegangen, sein Gesicht war sonnenverbrannt, fast braun, über dem gutmütigen Mund hing ein schwarzer Schnurrbart. Man merkte ihm die Kraft des Arbeiters und den Ernst eines Menschen an, der nur von seiner eigenen Arbeit abhing. Als er die Kinder küßte und sich in der gut ausgestatteten Stube umblickte, glühte in seinen Augen die Flamme des Glückes auf. Er setzte sich auf eine Bank und rief:

»Hör mal, Petrusia, du mein Kuckucksvogel. Ich hab' mich heute bei der Arbeit ganz müde gerüttelt. Die Hände wollen mir fast abfallen. Ich möchte essen!«

Fast niemals nannte er sie anders als beim Namen jenes willkommenen Vogels, der mit seinen Kuckucksrufen den blühenden Frühling verkündete.

»Gleich wird das Abendessen fertig sein«, antwortete lustig die Frau und stellte die Lampe mit dem großen Schirm auf den Tisch.

Schon seit einigen Jahren wollte Michael sein Abendessen nicht anders als nur beim Schein dieser Lampe einnehmen. Die Kienspanhölzer wurden nur im Winter angesteckt, um die Stube lustig und anheimelnd zu machen. Sofort waren die beiden kleinen Mädchen beim Vater auf den Knien, und der kleine Stanislaus setzte sich auf den Tisch. Alle drei redeten munter drauf los, doch keiner hörte ihrem Geplapper zu. Petrusia stellte auf den Tisch eine Schüssel mit dampfenden Kartoffeln, reichte dem Mann einen Laib Brot und ein Messer und holte dann aus dem Vorratsraum einen großen Topf mit saurer Milch.

Kurz nach dem Abendessen schliefen die Kleinen ein. Stanislaus unter einer bunten, wollenen Decke auf der Pritsche, Christine und Lenchen auf dem Ofen neben der Großmutter. Die blinde Greisin, die der Urenkel mit Milch und Kartoffeln gefüttert hatte, küßte die beiden kleinen Urenkelinnen herzlich, hörte eine Weile ihrem Zwitschern und ihren übermütigen Streichen zu. Dann machte sie sich fertig, um ihre alten Knochen auf dem Ofen auszustrecken. Da sagte Petrusia plötzlich beim Abwaschen des Geschirrs:

»Ach, ich hab' euch ja gar nicht erzählt, was mir heute passiert ist.« Den ganzen Abend hindurch war sie mit ihrem Mann, mit den Kindern und mit dem Abendessen beschäftigt gewesen und hatte alles vergessen, was nicht unmittelbar zu ihrer nächsten und liebsten Umgebung gehörte. Schließlich maß sie ihrem heutigen Abenteuer auch keine besondere Bedeutung bei und erzählte es lachend dem Mann und der Großmutter – so wie das eben eine junge Frau tut, die nur an ihre Liebe und an ihr eigenes glückliches Schicksal denkt und hinter dem, was ihr zustößt oder begegnet, gar nichts Übles zu ahnen vermag. Auch der Schmied lachte auf seine Weise – laut und herzlich. Er lachte über die Bauern, die ein Feuer machen, um die Hexe zu locken, aber auch über den Zufall, der ausgerechnet seine Frau als erste zu dem brennenden Holzhaufen kommen ließ. Doch die alte Aksena beunruhigte diese Erzählung sehr. Sie hatte sich schon in ihre Schlafdecke eingehüllt und über ihr Schlaflager gebeugt. Jetzt saß sie wieder kerzengerade und unbeweglich. Ihre fleischlosen Kiefer begannen sich rasch zu bewegen, als ob sie schwer an einem Bissen zu kauen hätte. Das war ein sicheres Zeichen dafür, daß sie sich ärgerte oder sich Kummer machte. Als Petrusia ihre Erzählung beendet hatte und damit beschäftigt war, das sauber gewaschene Geschirr und die Löffel auf ein Regal an der Wand zu legen, sagte die Alte mit einer Stimme, aus der eine tiefe Nachdenklichkeit herauszuhören war:

»Das ist nicht gut, ach, das ist nicht gut, daß gerade du, Petrusia, als erste zu dem Feuer gekommen bist …«

»Dummheit!« lachte der Schmied und winkte mit der Hand ab, doch Petrusia wandte ihr Gesicht zur Großmutter:

»Warum?« fragte sie.

Eine Weile dachte die alte Frau nach und sagte:

»Zuerst deswegen, weil es klar und jedem bekannt ist, daß auf so ein Feuer immer eine Hexe kommt. Das ist bekannt, und das muß schon so sein, denn auf diese Weise zeigt der liebe Gott dem Menschen den Bösen. Warum bist du, Petrusia, heute eigentlich zu dem Feuer hingekommen?«

Die Arme der jungen Frau fielen plötzlich tief und schlaff herab, und die Finger legten sich über dem Rock ineinander. Mit weit offenstehenden Augen blickte sie die Großmutter an:

»Wie soll ich denn das wissen, warum ich dort hinkam?« sagte sie leise. Verwunderung oder Schrecken beherrschten sie so sehr, daß sie mit offenem Munde dastand.

»Ach!« sagte verächtlich der Schmied, »sie war gerade unterwegs, und so kam sie zufällig auch in die Nähe des Feuers. Schade, daß man überhaupt ein Wort darüber verliert.«

Doch Aksena beachtete die skeptische Bemerkung Michaels nicht, und Petrusia hatte sie nicht einmal richtig gehört. Sie stand mit offenem Munde da und blickte mit großen Augen auf die Großmutter, die in ihrer Rede fortfuhr:

»Und zweitens ist es noch so, daß dir schlechte Menschen jetzt keine Ruhe mehr lassen werden. Jetzt werden sie dich bestimmt als Hexe verschreien und …«

Ihre Kiefer bewegten sich jetzt heftig. Erst nach einer Weile beendete sie den angefangenen Satz:

»… und der liebe Gott möge dich vor allem Unglück beschützen!«

Jetzt schlug sie mit ihrer gelben, wie aus einem vergilbten Knochen gemeißelten Hand einige Kreuzeszeichen in die Luft. Ihre blinden Augen leuchteten in dem gelben Gesicht ganz weiß – vielleicht, weil sie die Augenlider mit Anstrengung ganz hochgezogen hatte. Petrusia glitt an der Stelle, an der sie bis jetzt gestanden hatte, auf den Boden und saß nun mit offenem Mund und immer noch ineinandergeflochtenen Fingern in der Stube. Mit einer Stimme, die jetzt weit weniger verächtlich klang als vorher, murmelte Michael: »Ich werde sie schon vor allem Unglück schützen … Doch was für ein Unglück kann schon deswegen kommen? Gott behüte uns vor allem Unheil!«

Man konnte jedoch merken, daß die Worte der alten Großmutter trotz alledem einen gewissen Eindruck auf ihn gemacht hatten, obwohl er solchen Dingen weit geringeren Wert beimaß als die anderen. Die Großmutter schwieg eine Weile und begann schließlich wieder zu erzählen:

»Schon sehr, sehr lange lebe ich auf dieser Welt, habe auch schon ein großes Stück Welt gesehen, viele Leute gehört und auch mit solchen gesprochen, die mit ihren eigenen Augen alte, vergangene Zeiten gesehen haben. So weit liegen diese alten Zeiten zurück, daß sich die Menschen heutzutage gar nicht mehr an sie erinnern können. Als ich mit der kleinen Petrusia auf dem Arm in die fremde Welt gegangen bin, kam ich auch einmal in ein Dorf, in dem ein ganz, ganz alter Mann wohnte. Er war schon so alt, daß ihm im Gesicht das grüne Moos zu wachsen begann. Die Leute sagten, daß er bestimmt über hundert Jahre alt wäre. Als junger Mensch soll er bei den Soldaten gewesen sein, er soll auch auf verschiedenen Gutshöfen gedient haben. Auf jeden Fall hatte er viel von dieser Welt gesehen, und wenn er zu erzählen begann, dann erzählte er und erzählte so, daß alle vor Verwunderung die Mäuler aufsperren und ihm zuhören mußten. Alle, ganz gleich, wer es war. Manchmal kamen auch große Herren und sehr gelehrte Männer zu ihm und baten ihn, daß er ihnen verschiedenes erzählen möge. Auch ich habe ihn manchmal gebeten, mir zu erzählen, und habe ihm dann zugehört. Ei, ei, der alte Zacharias, der alte Zacharias! Seine Knochen sind jetzt ganz bestimmt schon verwest und auseinandergefallen – in seinem dunklen Grab. Seine Seele hat bestimmt schon vor dem Gericht des allmächtigen Herrgott gestanden. Doch das, was er erzählte und immer wieder erzählte, das lebt bis heute noch unter den Menschen. Schaut, ich bin blind, und doch steht all das, was er mir von jener Hexe erzählt hat, ganz klar vor meinen Augen, und ich kann mich noch ganz gut daran erinnern. Er hat das selbst von seinem Vater gehört, der die Hexe mit seinen eigenen Augen gesehen hat. Gerade jetzt steht das alles, was ich von ihm gehört habe, noch ganz lebendig vor meinen blinden Augen …«

Wieder unterbrach sie für einen kurzen Augenblick ihre Rede. Die Erinnerungen, die vor ihren erblindeten Augen auftauchten und sich wieder lebendig bewegten, rissen sie aus ihrer bisherigen Reglosigkeit heraus. Sie bewegte und wiegte ihren dünnen Körper vorwärts und rückwärts. Bevor sie weiter zu sprechen begann, seufzte sie einige Male tief und laut auf. Ihre weißen Augäpfel glänzten jetzt nicht mehr so hell wie früher in dem gelben Gesicht. Der Glanz des Feuers, das im Ofen langsam ausging und in die Stube nur ganz blasse, in der Dämmerung tanzende Lichtstreifen warf, beleuchtete sie nicht mehr. Einer dieser huschenden Lichtstreifen fiel auf Petrusia, die auf dem Boden saß. Ihr Mund war jetzt geschlossen. Mit beiden Armen hielt die Frau ihre hochgezogenen Knie umfaßt. Auf ihrem Gesicht malte sich Unruhe. An der anderen Wand konnte man die mächtige Gestalt des Schmiedes sehen. Er saß auf einer Bank und stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch. Die Lampe hatte er, wahrscheinlich aus Sparsamkeit, ausgelöscht, stützte jetzt den Kopf in die offene Handfläche und hörte aufmerksam den Erzählungen der Greisin zu. Schon immer hatte er ihren Märchen und Erzählungen gern und aufmerksam gelauscht und ihr dafür seine eigenen Erlebnisse aus der Zeit erzählt, als er noch weit und breit in der Welt herumgekommen war, all das, was er selbst gesehen und von anderen gehört hatte. Auf diese Weise hatten sie so manchen Sonntagnachmittag und so manchen langen Winterabend verbracht. Auch jetzt hörte er ihr aufmerksam zu, obwohl er schon etwas schläfrig war. In der Dämmerung, die den oberen Teil des Ofens langsam einzuhüllen begann, erzählte jetzt die blinde Greisin mit ihrer rauhen, lispelnden, doch immer noch ziemlich starken Stimme die folgende Geschichte:

»Es lebte einmal in einem großen und reichen Dorfe ein Mädchen, einer roten Himbeere gleich, schön gewachsen wie eine junge Pappel und so hübsch, daß alle Leute über ihre Schönheit staunen mußten. Junge Burschen waren direkt toll hinter ihr her, aber auch andere, große Herren, kamen manchmal zu ihr und sagten: ›Sieh mich doch wenigstens einmal an, Martina! Reich mir nur ein einziges Mal dein Händchen!‹ Doch Martina wollte von keinem etwas wissen, weder von einem Bauern noch von einem Herrn. Wenn sie manchmal zum Brunnen ging, schön und stolz wie eine Königstochter, in einem Rock, der mit vielen bunten Bändern verziert war, mit herrlichen Korallen und Bernsteinketten um den Hals, mit Blumen, die sie sich ins Haar gesteckt hatte, da lachte sie nur über alle und zeigte dabei ihre schönen weißen Zähne. Doch bald begannen sich die Leute über das Mädchen zu ärgern. Man gab Martina verschiedene Spitznamen, jeder gaffte sie an, wollte sie sich genau ansehen und wollte wissen, wie sie das eigentlich machte, daß sie die Menschen so anzog, wie der Geruch des süßen Honigs die Fliegen anzieht, daß sie aber selbst von niemandem etwas wissen wollte. So beobachteten die Menschen sie sehr, sehr aufmerksam und sahen dann, daß Martina nicht immer lachte, daß sie nicht immer mit den Dorfburschen und den feinen jungen Herren nur ihren Spaß trieb, sondern daß sie auch manchmal ein ganz finsteres Gesicht hatte und die Menschen böse von der Seite anblickte. Manchmal ging sie auch in den Wald und blieb dort einen Tag, manchmal auch zwei oder drei Tage. Wenn sie zurückkam, braute sie dann zu Hause verschiedene Kräuter zusammen, flüsterte bei dieser Beschäftigung geheimnisvolle Worte und machte irgendwelche Zeichen. Dann gab sie diesen Absud verschiedenen Leuten zu trinken. Er sollte gegen Schmerzen oder Stiche, gegen Langeweile und Kummer und gegen alles Übel, das es unter den Menschen gab, helfen. Es gab Leute, die von ihr diese Getränke kauften, sie dann überall lobten, ihre Dankbarkeit bezeigten und jedem erzählten, daß sie sehr, sehr wißbegierig wäre und deswegen so viele Dinge kennenlernen konnte. Manche sagten auch, daß sie nur dieser Wissensgier lebte und deswegen von der Liebe nichts wissen wollte. Die Kräuter im Wald waren ihr lieber als ein Bauer, der einen guten Acker hatte, lieber sogar als ein feiner junger Herr oder gar ein Gutsbesitzer. Martina hätte ganz ruhig leben und tun können, was sie wollte, es gab ja keinen, der sie zu irgend etwas zwingen konnte, und im Dorf gewöhnten sich die Menschen schon daran, daß sie eben anders war als alle die anderen jungen Mädchen. Deshalb sagte man auch manchmal von ihr: ›Sie ist schon mit einem anderen Herzen und mit anderen Gedanken zur Welt gekommen‹. Deshalb kümmerte man sich nicht allzu viel um sie und ließ sie in Ruhe. Aber siehe da! Das Unglück wollte, daß sich ein großer Herr in sie verliebte. Es soll ein Gouverneur oder ein Schreiber oder so etwas Ähnliches gewesen sein. Doch sie lachte auch diesen genau so aus, wie sie bis jetzt über jeden anderen gelacht hatte. Es kam vor, daß sie sich vor die Kirche hinstellte, gerade dort, wo auch dieser Herr stand. Schön war sie wie eine junge Prinzessin. Ihr Rock war mit bunten Bändern geschmückt, ihr Hemd dünn und fein. Korallen- und Bernsteinketten hingen ihr um den Hals. Sie lachte jetzt über diesen fremden Gouverneur und zeigte ihm ihre weißen Zähne. Lange hatte er so leiden müssen. Immer und immer wieder bat er sie, daß sie ihn heiraten sollte. Als er aber merkte, daß alles umsonst war und daß daraus nichts werden sollte, da wurde er fürchterlich böse, fuhr in die Stadt und machte bei den Priestern und den hohen Beamten eine Anzeige, daß Martina nichts anderes sei als eine Hexe. Da wurde das Dorf, in dem das Mädchen wohnte, zu einer Hölle. Von allen Seiten kamen die Geistlichen und die hohen Beamten hin und stellten eine große Untersuchung an, um zu erfahren, was mit Martina los war. Die Leute auf dem Dorf mußten sich versammeln und wurden jetzt gefragt: was Martina machte, warum sie so oft in den Wald liefe, was sie da murmelte, wenn sie die Kräuter kochte, was das überhaupt für Kräuter wären, ob manchmal der Teufel nicht zu ihr zu Gaste käme, woher sie so viele schöne Bänder hätte und so viele Korallen- und Bernsteinketten, auch woher sie die vielen schönen Kleider bekäme. Nachdem sie alles das ausgefragt hatten, fesselten sie Martina die Hände und die Beine, warfen sie auf einen Wagen und fuhren mit ihr in die Stadt. Hier in der Stadt wurde das Mädchen auf dem Marktplatz allen Menschen zur Schau gestellt, und man sagte, daß sie eine Hexe sei. ›So und so steht es mit ihr‹, sagten sie, ›und so und so verhält sich die Sache‹. Man behauptete, daß sie ihre christliche Seele dem Teufel verkauft habe, daß sie mit dem Teufel im Walde Gespräche geführt habe, daß der Teufel ihr durch die Esse die bunten Bänder, die Bernsteinketten und alle anderen Reichtümer gebracht habe. Das wurde von ihr gesagt.

Dann hat man auf dem Marktplatz des Städtchens eine große Menge Holz auf einen Haufen geworfen, und die Henker kamen in ihren roten Kleidern, packten Martina an den Haaren und warfen sie in die Flammen. Der Holzhaufen brannte so hoch, daß seine Flammen fast bis in den Himmel reichten, und Martina verbrannte darin wie ein trockenes Stück Holz. Sie jammerte dabei so fürchterlich, daß ihre klagende Stimme in der ganzen Welt zu hören war und wohl bis zum Himmel reichen mußte. Der Körper der brennenden Frau lag zwischen den lodernden Holzscheiten und verbreitete beim Verbrennen einen so großen Gestank, daß man den üblen Geruch in der ganzen Stadt spüren konnte. Die Geistlichen sangen zum Lobe des lieben Gottes, und der König, der dabei war und auf seinem Throne saß, freute sich sehr über dieses Schauspiel. Er befahl, daß sich auch alle anderen Menschen darüber freuen sollten, weil eine Hexe auf diese Weise bestraft wurde, die ihre christliche Seele dem Teufel verkauft hatte …«

So beendete Aksena ihre Erzählung, und ein tiefes Schweigen herrschte jetzt in der Stube. Dem Schmied vertrieb die Geschichte der Alten den Schlaf aus den Augen. Glaubte er nun an das Dasein von Teufel und Hexen, oder glaubte er nicht daran? Er wußte das selbst nicht. Es war so, daß ihn sein zur Lustigkeit neigendes Temperament und sein Sinn für das Praktische hinderten, daran zu glauben. Er nahm den Glauben an Hexen und Teufel nicht ernst und spottete lustig über derartige Mären. Doch solche Erzählungen wie die, die er eben gehört hatte, beeindruckten ihn doch, erschütterten heftig seinen Unglauben und machten ihn neugierig. So stand es mit Michael. Und Petrusia? Sie hörte mit einem blassen, angstverzerrten Gesicht, mit weitgeöffneten Augen den Erzählungen der alten Großmutter zu. Als die Rede davon war, daß das Feuer, in dem Martina verbrannt wurde, bis an den Himmel reichte, als sie hörte, daß der brennende Körper so entsetzlich stank, daß man es in der ganzen Stadt riechen konnte, da erzitterte sie heftig am ganzen Körper, und Angstschauer liefen ihr vom Kopf bis zur Sohle. Als die alte Frau schwieg, vergingen erst einige Minuten, bis sie es wagte, der Großmutter irgend etwas zu sagen. Ihre Stimme war dabei dünn und brüchig. So sprach sie sonst niemals.

»Großmütterchen, war sie denn wirklich eine Hexe, oder haben sich böse Menschen das nur so gegen sie ausgedacht?«

»Das weiß man nicht«, antwortete Aksena langsam und bedächtig, »das hat der alte Zacharias auch nicht mehr gewußt. Vielleicht war sie eine Hexe – vielleicht war sie es auch nicht. Wenn sie wirklich eine Hexe war, dann mußte sie auf dem Rücken ein rotes Zeichen haben – von dem Huf des Satans. Dieses Zeichen habe ich zwar niemals gesehen, und auch der alte Zacharias hat es nicht gesehen, doch er sagte, daß sein Großvater einst seinem Vater davon erzählt hätte und daß es ganz bestimmt so gewesen sein mußte.«

Eine Zeitlang blieb alles ruhig. Da begann sich die Gestalt der greisen Großmutter auf dem dunklen Ofen hin und her zu wiegen, und eine rauhe Stimme murmelte dumpf:

»Ach, alter Zacharias, alter Zacharias! Deine Knochen sind im Grabe schon längst zerfallen, und deine Seele steht schon längst vor Gottes Angesicht. Und doch ist alles das, was du erzählt und gesprochen hast, noch so lebendig geblieben …«

Jetzt erhob sich der Schmied von seiner Bank.

»Ach was«, rief er, »es ist ja alles Dummheit. Ich bin auch schon weit in der Welt herumgekommen. Auch ich hab' schon viel gesehen und gehört, doch nirgends habe ich gesehen oder gehört, daß man eine Hexe verbrannt hätte. Es ist ja auch jetzt nicht mehr erlaubt, so etwas zu tun. So was gibt's heute gar nicht mehr. Komm schlafen, mein Kuckuck!« Die Frau stand langsam und irgendwie schwer auf. In ihren sprechenden Augen malte sich Unruhe. Ihre Wangen waren leicht erblaßt und schienen nicht mehr so rund wie früher zu sein. Durch die Anspannung ihrer geistigen Kräfte schien das Gesicht Petrusias länger geworden zu sein. Nach einigen Minuten war es in der Stube völlig ruhig, und bald unterbrach die herrschende Stille nur das laute Schnarchen des Schmiedes. Fast gleichzeitig ertönte aber das Schlurfen menschlicher Schritte. Man konnte deutlich hören, daß jemand auf den Ofen kroch. Da flüsterte eine Stimme in der auf dem Ofen herrschenden Dunkelheit:

»Großmütterchen, schläfst du? Großmutter!«

Sie schlief schon, doch wie alle alten Leute schlief sie nicht allzu fest, und es war nicht schwer, sie zu wecken. Schließlich war sie auch daran gewöhnt, mitten in der Nacht durch die neben ihr schlafenden Urenkelinnen geweckt zu werden. Diesmal war es aber nicht die Urenkelin, die sie geweckt hatte, sondern eine erwachsene Frau, die sich neben sie hinlegte und mit ihrem heißen Arm den Körper der Alten umfaßte.

»Bist du's, Petrusia?«

»Ich bin's, doch sei ruhig, Großmutter, damit Michael und die Kinder nicht wach werden.«

»Und warum bist du hier hochgekrochen? Hast du etwa Stiche bekommen wie im letzten Jahre? Oder läßt dich der kleine Adam nicht schlafen?«

Eine ganze Weile blieb die Antwort aus. Dann kam die Frage – noch leiser als das erste Mal hingeflüstert:

»Großmutter, als ich geboren wurde …, haben mich Vater und Mutter in die Kirche zur heiligen Taufe gebracht?«

»Na klar, wie denn sonst?« antwortete die lispelnde, flüsternde Stimme der Greisin, »wie solltest du denn ohne die Taufe leben? Gewiß, sie haben dich in die Kirche gebracht!«

»Großmutter, als ich ganz klein war, hast du mich da zur Nacht immer bekreuzigt?«

»Wie soll es denn sonst gewesen sein? Jeden Abend hab' ich's getan!«

»Damit der Böse keinen Zutritt zu mir hatte?«

»Damit der Böse keinen Zutritt zu dir hatte und damit der liebe Gott ein armes Waisenkind in seine Obhut nehmen sollte.«

»Großmutter, mir scheint, daß ich vor dem lieben Gott bis jetzt keine großen Sünden begangen habe.«

Nach einem kurzen Schweigen antwortete die Greisin im Flüsterton:

»Ich glaube, daß du vor dem lieben Gott so unschuldig und so weiß bist wie jene Lilie, die in der Kirche vor dem Altar steht …«

Nach dieser Antwort konnte man einen tiefen Seufzer der Erleichterung vernehmen. Dann begann die junge Frau die Unterhaltung jedoch von neuem:

»Großmutter, wieso bin ich denn heute als erste zu dem Feuer gekommen?«

Die Antwort blieb lange aus. Die Frage enthielt ein Rätsel, das sehr schwer zu lösen war. Erst nach einer längeren Pause flüsterte Aksena zurück:

»Weil es vielleicht gar keine Hexe war, die den Kühen die Milch weggenommen hat.«

»Wer soll es denn sonst gewesen sein, wenn es nicht eine Hexe war?«

»Vielleicht eine Kröte?«

»Ach!«

Dieser letzte Ausruf klang wie ein Triumph.

»Wird wohl eine Kröte gewesen sein. Wenn die Kröten den Menschen böse werden, nehmen sie den Kühen genau so die Milch weg.«

»Ach!«

»Nun, es wird wohl eine Kröte gewesen sein.«

»Ja!«

»Ja, eine Kröte. Wenn es keine Kröte war, dann wäre die Hexe, nicht du zuerst zum Feuer gekommen!«

»Na, dann schlaft mit Gott, Großmutter!«

»Schlaf nur ruhig, mein Kind, schlaf!«

Der nächste Tag war ein Sonntag. Es ist bekannt, daß dem Bauern und der Bäuerin am Sonntag die ganze Welt schöner und heller erscheint als an einem anderen Tage, denn obwohl sie die oder jene Arbeit auch an diesem Tage verrichten müssen, so brauchen sie ja hinterher weder aufs Feld zur Arbeit zu gehen noch auf der Dreschtenne müde zu werden, brauchen sich nicht um den Waschtrog oder das auf den Webstuhl gespannte Garn zu kümmern. Mindestens einen halben Tag lang können sie sich die Sonne ansehen, den Himmel und alles das, was aus dem Boden sprießt. Sie können Spazierengehen, herumsitzen, lachen, reden und singen – wozu sie Lust haben. An diesem Sonntag herrschte ein herrliches Wetter. Petrusia stand früh auf, noch als über dem Birkenwäldchen die rosige Schärpe der Morgenröte stand und die ersten Sonnenstrahlen, die von unten nach oben schossen, die Blätter im Garten mit einem goldenen Schimmer überzogen. Sie holte Wasser aus dem Brunnen, machte im Ofen Feuer und lief dann an den Teich, um einen Strauß duftender Kalmuspflanzen zu holen, die sie auf den Boden der Stube streute. Diesen hatte sie vorher sauber gefegt und mit weißem Sand bestreut. Als der Schmied wach wurde, als die alte Großmutter sich auf ihrem Lager hochsetzte und die Kinder zu plaudern begannen, roch es in der Stube von der verstreuten Kalmuspflanze wie auf einer Wiese, und durch die beiden geöffneten Fenster ergoß sich ein strahlendes Sonnenlicht. Petrusia stand in einem weißen Hemd, das am Hals durch einen glänzenden Knopf zusammengehalten wurde, in einem buntgeblümten Rock aus Perkalstoff und einem roten Tuch auf dem Kopf vor dem Feuer und schälte Kartoffeln, die sie vorsichtig in ein kleines Faß warf, um den sonntäglich geputzten Fußboden nicht zu beschmutzen oder zu bespritzen. Der Schmied öffnete die verschlafenen Augen und sah sich in der Stube um. Als er seine Frau erblickte, streckte er über der groben leinenen Zudecke seine mächtigen Arme aus und rief ihr, immer noch herzhaft gähnend, zu:

»Ach du, mein Kuckucksvogel!«

Als Antwort lachte sie nur laut auf und warf geschickt eine Handvoll Kartoffelschalen so, daß sie sich auf seinem Gesicht und seiner Brust verstreuten. Fast bis zur Mittagsstunde war sie mit der Arbeit in der Stube beschäftigt. Sie mußte die ganze Familie sattfüttern, dann wusch und kämmte sie die älteren Kinder und die Großmutter, zog sie alle sauber an, stillte den kleinen Adam und wiegte ihn in ihren Armen. Da der Mann für den ganzen Tag ins benachbarte Städtchen mußte, versorgte sie ihn mit einem entsprechenden Mundvorrat und unterhielt sich mit ihm ernst und freundschaftlich über das, was er dort einzukaufen oder zu verkaufen hatte. Erst nach dem Mittagessen begleitete der kleine Stanislaus, der in ein sauberes, mit einem bunten Riemen zusammengehaltenes Hemd gekleidet war, die alte Großmutter in den Garten hinaus. Mit seinen kleinen Händchen hielt er die gelbe, knochige Hand der Greisin und waltete seines Amtes als Führer mit großem Ernst und großer Aufmerksamkeit, schweigsam und mit vorgestülpten Lippen. Aksena schritt hinter ihm, bekleidet mit einer selbstgewebten blauen Jacke, mit flachen Schuhen und einer Sonntagshaube, deren glänzende Borte im hellen Licht der Sonne um ihr weißes Haar leuchtete. Bei jedem Schritt berührte sie vorsichtig mit dem Stock die Erde. Erst unter dem wilden Apfelbaum setzte sie sich ins Gras – in der ihr eigentümlichen Haltung, kerzengerade und so steif, daß sie einer aus Holz oder Knochen gemeißelten Figur glich. Sie sah überhaupt nichts, doch sie spürte den warmen Windzug, der ihre Wangen und ihren Kopf streifte, hörte das Gezwitscher der Vögel und die Stimmen der Urenkel. Mit der Hand fühlte sie deutlich die frische Weichheit der Grashalme. So lächelten auch ihre schmalen und farblosen Lippen breit und zufrieden, und die weißen Augen schienen angestrengt und mit großer Freude in die herrliche Welt zu blicken. Petrusia brachte ein grobes Leinentuch heraus, auf welches sie gestern die gesammelten Kräuter ausgeschüttet hatte, und breitete es vor dem Hause aus. Sie setzte sich auf einen niedrigen Stein, der gerade vor der Schwelle des Hauses lag, und begann die Kräuter zu sortieren und in besondere Häufchen zu legen. Gesondert legte sie den Quendel, das Brunellenkraut, die Königskerzen, die Schafgarbe, den Thymian und noch andere Gräser und Kräuter. Bei dieser Beschäftigung sang sie von Zeit zu Zeit mit halblauter Stimme vor sich hin. Manchmal blickte sie auch von den Kräutern auf, und ihr Blick ging über die leeren Felder, auf denen kein Korn mehr zu sehen war und heute auch kein Mensch. Still und schlummernd lagen die Felder heute da, als ob sie unter der goldenen Decke der Sonne nach dem Beispiel der Menschen am Sonntag ausruhen wollten. Vom Dorfe her hörte man dagegen ein Gewirr menschlicher und tierischer Stimmen. Vor dem Gasthaus, das man von weitem sehen konnte und das abseits von den anderen Dorfgebäuden stand, bewegte sich summend eine Menschenmenge. Als Petrusia in Richtung des Dorfes blickte, wurde ihr etwas trübe zumute. Der schmale, gewundene Pfad, der zwischen Scheunen, Stallungen und Umzäunungen der Gärten aus dem Dorf bis zur Hütte des Schmiedes führte, war heute leer. Nur der im Garten zum Trocknen ausgebreitete Hanf steckte zwischen den Zaunlatten seine zerzausten Köpfe durch, und hier und da blickte die gelbe Blüte einer Bisamdistel herüber. Manchmal gackerte laut eine Henne, oder ein Hahn schlug mächtig mit den Flügeln und krähte. Doch auf dem Pfad war keine Menschenseele zu sehen. Dabei waren an den Sonntagen die Frauen aus Sucha Dolina bisher sehr zahlreich zu Petrusia gekommen, die einen, um sich einen Rat zu holen, andere nur so – um eine Plauderstunde bei ihr zu verbringen, oder einfach aus Freundschaft. Sonntags kam gewöhnlich die junge Labuda, die ihre Buben zu Stanislaus mitbrachte. Oft kam auch die Tochter von Maxim Budrak, die Petrusia einmal von einer schweren Erkrankung mit ihrem neuen Krautgetränk kuriert hatte, und viele, viele andere. Heute aber ließ sich keine einzige sehen, und der Frau des Schmiedes wurde es sehr traurig ums Herz.

Der Augusttag neigte sich dem Ende zu, die Sonne mußte bald untergehen. Gerade jetzt mußten auf dem Pfad, der sich an den Zäunen entlangschlängelte, die aus dem Dorfe kommenden Mädchen erscheinen. An Feiertagen kamen diese Mädchen zu Petrusia, um bei ihr zu singen, denn niemand im Dorfe hatte eine so starke und klare Stimme wie sie, niemand kannte so viele Lieder. Sie war gewöhnlich die Leiterin der Chöre, jener Chöre, die fast an jedem sommerlichen Sonntag in der Abenddämmerung vor dem Hause des Schmiedes, auf Steinen und im Gras sitzend, bis in die späten Abendstunden die Luft mit lautem Gesang erfüllten. Heute aber war niemand zu ihr gekommen. Die Sonne ging schon unter, als Petrusia doch eine einzelne weibliche Gestalt erblickte, die auf das Haus zukam. Von weitem erkannte sie Franziska, die Enkelin des Jakob Schischko. Zwar sonntäglich, doch arm angezogen, etwas untersetzt, mit einem unschönen, doch munteren Gesicht und leuchtenden hellblauen Augen, grüßte das Mädchen Petrusia mit einer irgendwie jammernd klingenden Stimme, und ohne die Erwiderung abzuwarten, setzte es sich neben sie vor das Haus. Die beiden Frauen kannten sich seit der frühesten Kindheit. Oft hatten sie während der Ernte auf demselben Acker gearbeitet oder auf derselben Wiese geharkt, oft hatten sie zusammen im Dorfgasthaus gesungen oder bei einem unter freiem Himmel stattfindenden Tanzvergnügen getanzt und getollt. Gestern, als die Schmiedefrau als erste am Feuer erschien, war Franziska nachdenklich geworden. Sie hatte über etwas so tief nachgedacht, daß sie sogar für einen Augenblick die Anwesenheit und die Nähe von Klemens vergaß. Aus ihrem Gesichtsausdruck hatte man da entnehmen können, daß sie sich irgendeine Sache überlegte, daß sie sich in Gedanken mit irgendwelchen Plänen und Hoffnungen beschäftigte. Mit diesen Hoffnungen und Plänen kam sie jetzt zu Petrusia. Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte, begann sie mit ihrer klagenden und jammernden Stimme:

»Ach du arme, arme Petrusia! Die Menschen reden jetzt ganz mächtig gegen dich. Sie schelten und schimpfen.«

Lebhaft wandte sich die Schmiedefrau an das Mädchen und überschüttete sie mit Fragen:

»Was reden sie? Wer redet? Ist Peter Dziurdzia auch erzürnt, und seine Frau, und die Labudas und die Budraks?«

Franziska wiederholte alles, was im Dorfe über Petrusia gesprochen wurde, und umschlang ihren Hals mit einem Arm. Dann schmeichelte sie ihr, so gut wie sie es nur vermochte, kniff die Augen zusammen, streichelte ihr mit der Hand übers Gesicht und begann:

»Ich bin zu dir, Petrusia, mit einer großen Bitte gekommen … Wenn du schon so eine Quacksalberin bist, daß du den Menschen Gutes und Böses tun kannst, dann hilf auch mir in meinem großen Kummer und meinen Sorgen …«

Lebhaft rückte Petrusia von ihr weg und wandte mit Unwillen ihr jetzt zorniges und trauriges Gesicht ab:

»Was soll ich denn für eine Quacksalberin sein?« schrie sie auf, »geh weg von mir, laß mich in Ruhe.« Doch Franziska rückte noch näher an sie heran und legte noch einmal die Arme um den Nacken der jungen Frau.

»Sei mir nicht böse, Petrusia. Sei nicht böse auf mich … Ich meine es ja gar nicht schlecht! Ach …, wenn du wüßtest, wie unglücklich ich bin … Eine Unglücklichere gibt es wohl kaum auf der Welt … Gewiß, ich bin eine Waise und sehr arm … und wohne so gut wie bei Fremden. Das Haus gehört ja meinem Onkel und nicht meinem Vater … Meine Onkel behandeln mich schlecht, genau so, wie mich ihre Frauen schlecht behandeln … Ich arbeite, schufte von früh bis abends wie ein Ochse im Joch, doch nicht ein einziges gutes Wort bekomme ich dafür … Wenn sie sich untereinander schlagen, dann schlagen sie auch auf mich ein … Und immer wieder wird mir das Brot vorgeworfen, das ich bei ihnen zu essen bekomme. Das Leben ist mir schon schwer geworden, viel zu schwer, und durch lauter Kummer und das viele Weinen vergeht mir die Lust zu allem.«

Sie verdeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, die wirklich abgearbeitet und rot waren, und fing heftig an zu weinen.

Da rückte Petrusia von selbst an sie heran und sagte mit einer traurigen Stimme:

»Ich weiß es! Ich weiß, daß du im Hause deines Onkels kein süßes Leben hast … Deine Onkel sind zänkisch, sie sind Säufer. Und ihre Frauen sind wirklich häßlich … Allzu reich seid ihr dazu auch nicht. Aber was kann ich dir in deinem Kummer helfen?«

»Ach, du kannst es, du kannst es schon, wenn du es nur wolltest«, stöhnte Franziska. Sie nahm die Hände vom Gesicht weg, schlang beide Arme um den Nacken ihrer Freundin und begann sie so heftig zu küssen, daß von ihren Tränen und Küssen die Wangen der anderen Frau ganz feucht wurden. Dann hing sie sich mit dem ganzen Gewicht ihres fülligen Körpers an ihren Arm und flüsterte ihr einige Minuten lang irgend etwas ins Ohr.

Petrusia bewegte sich lebhaft, und man merkte dieser Bewegung Widerwillen und Widerstreben an.

»Ich will es nicht«, rief sie, »ich werde niemandem mehr einen Rat geben, ganz gleich, wer es ist. Bei Gott, ich tu's nicht mehr.«

Franziska ließ ihren Nacken nicht aus der Umklammerung los und begann ihr wieder ins Ohr zu flüstern, halb lachend, halb weinend. Doch Petrusia wiederholte immer wieder:

»Ich will nicht! Ich gebe nichts mehr! Ich will niemanden beraten! Ich hab's mir geschworen, es nicht mehr zu tun.«

Doch Franziska begann ihr anscheinend leid zu tun, und die typisch weibliche Neugierde begann sich in ihr zu regen. Sie gab zwar ablehnende Antworten, doch sie hörte dem Geflüster des Mädchens neugierig und mitleidig zu.

»Hat er dich denn wenigstens etwas gern?« fragte sie.

Das Mädchen stützte die tränenfeuchte Wange in die abgearbeitete Hand, blickte mit ihren traurigen Augen die Freundin an und antwortete dann:

»Gott allein mag es wissen, doch mir scheint es, daß er mich doch ein klein wenig lieb hat. Es sind schon zwei Jahre vergangen, als er sich mir zum ersten Male näherte. Ganz jung war ich damals noch, und mich interessierten damals die Burschen noch gar nicht … Einmal war ich am Brunnen, als mir jemand so tüchtig auf den Nacken schlug, daß mir Hören und Sehen verging. Da hab' ich mich umgedreht – und sah, daß es Klemens war. Da hab' ich ihm einen Eimer Wasser direkt ins Gesicht geschüttet, und er …, er umfaßte mich und streichelte mir den Rücken. ›Du, Franziska‹, sagte er, ›du brauchst nicht mehr zu diesem Brunnen zu kommen, um Wasser zu holen. Komm doch zu dem anderen, der etwas näher an unserem Hause liegt‹. Und dann ging's immer wieder so. Sobald er mich nur gesehen hatte, war er gleich da. Im Winter hat er immer ein paar wilde Teigbirnen für mich mitgebracht und mir davon immer einige Handvoll in die Schürze geschüttet. Und vor zwei Wochen, siehst du, da hat er im Gasthaus nur mit mir getanzt, mit keiner anderen.«

»Das ist gut«, bemerkte Petrusia, »das ist ein Zeichen, daß er dich doch liebt.«

Das Mädchen bedeckte verschämt mit der Hand die Augen und antwortete leise:

»Andererseits ist es auch wieder so, daß er manchmal einen ganzen Monat lang, manchmal sogar zwei oder drei Monate nicht einen einzigen Blick auf mich wirft und mit anderen Mädchen herumschäkert. Und ich hab' dann zu Hause ein Leben, wie es sich keiner vorstellen kann. Was muß ich da alles hören! Der Großvater schimpft, die Onkel schimpfen, und ihre Frauen wollen mich aus dem Hause vertreiben. ›Geh doch irgendwo als Magd dienen‹, sagen sie. ›Wer wird denn dich schon nehmen, du dumme Gans‹, sagen sie. ›Klemens nimmt dich bestimmt nicht. Schon seit zwei Jahren führt er dich an der Nase herum und beschwindelt dich. Und du, Dumme, glaubst's ihm …‹«

Sie rang die Hände und begann wieder zu weinen.

»Ich weiß nicht, ob ich's glauben soll oder nicht«, sagte sie zwischen Tränen. »Sollte mir der liebe Gott wirklich solch ein Glück bescheiden, daß mich ein Bauernsohn zur Frau nimmt? … Ach, das wäre ein Glück für mich, ein so großes Glück, wie es kein größeres auf der Welt geben kann.«

Durch diese Enthüllungen wurde Petrusia sichtlich gerührt. Sie war jedem Menschen wohlgesinnt, außerdem erinnerten die Klagen und die Hoffnungen dieses jungen Mädchens sie allzu sehr an ihre eigene Vergangenheit. Jetzt begann Franziska ihr beide Hände zu küssen.

»Rette mich, Petrusia, rette mich! Hilf mir! …« stöhnte sie, »ich werde dir mein ganzes Leben lang dankbar sein.«

»Ja, wenn aber …«, begann jetzt die junge Frau mit einer Stimme, in der Unentschlossenheit mitklang, »wenn aber, wenn nur … Sein Vater wird es ihm nicht erlauben, dich zu heiraten … Er ist ein Bauernsohn …, reich und ein so hübscher Kerl … Ich hab' gehört, daß Peter noch in diesem Winter zu der jungen Budrak für ihn die Brautwerber schicken will …«

»Ach«, stöhnte Franziska, »wenn er nur wollte, wenn er nur selbst wollte! Mit dem Vater wird es dann nicht mehr allzuschwer sein. Er ist doch der Liebling seines Vaters, er bedeutet für ihn alles, er bedeutet für den Vater mehr als alles andere in der Welt …«

»Das stimmt«, bestätigte Petrusia. »Es ist so, als hätten die Eltern nur einen einzigen Sohn, denn an dem dummen Hans haben sie nicht allzuviel Freude …«

»Wenn er nur wollte. Wenn er mich nur wirklich lieben wollte«, seufzte Franziska und begann der Schmiedefrau wiederum die Hände zu küssen und ihre Wangen mit ihren feuchten Lippen und mit Tränen zu benetzen.

Petrusia überlegte immer noch, und bei diesem eifrigen Nachdenken verrutschte ihr das Kopftuch und saß ganz schief. Diese dringenden Bitten der Freundin kamen ihr sehr ungelegen, doch sie hatte kein Herz aus Stein. Es war auch wirklich so, daß sie an ihr eigenes Schicksal erinnert wurde. Das Glück des jungen Mädchens, wenn Klemens es heiratete, müßte ihrem eigenen Glück ähnlich werden, das sie nach der Heirat mit Michael empfand. Außerdem stimmte es, daß Peter seinen Sohn sehr gern hatte und sich dessen Wünschen vielleicht gar nicht widersetzt hätte, wenn er wirklich Franziska heiraten wollte.

»Nun gut«, sagte sie, »gut … Die Großmutter hat mir da einmal von so einem Kräuterchen erzählt … Bis jetzt hab' ich's noch niemandem gegeben … Doch dir … Was soll ich denn schon mit dir tun? Vielleicht bekommst du's von mir. Wenn ich's finden werde, sollst du es bekommen, doch ich weiß nicht, ob ich es finde. Komm doch morgen, um mal nachzufragen …«

Vor Freude rutschte Franziska bis auf den Boden herab, umfaßte die Knie der »Quacksalberin« und küßte sie. Dann sprang sie hoch, richtete sich gerade auf und stützte die Handflächen auf die Hüfte. Diese Haltung war ein Ausdruck des Triumphes. Freude und Triumph strahlten auch in ihrem roten, pausbackigen Gesicht und in ihren himmelblauen, glänzenden Augen. Es konnte scheinen, als ob sogar die Spitze ihrer kleinen, an der Stirn eingesunkenen Stupsnase noch höher gerutscht wäre. Sie stampfte mit dem Bein auf und klatschte in die Hände.

»Och, dann werde ich es ihnen schon zeigen! Ich werde es ihnen dann schon geben – den Onkels und ihren Frauen! Nicht über die Schwelle meines Hauses dürfen sie kommen! … Einen gekauften Rock ziehe ich an und werde darin vor ihren Augen prunken … Wenn ich merke, daß eine von ihnen rot wird, dann werde ich ihr in der einen Hand ein Stück Wurst zeigen und mit der anderen eine lange Nase machen …«

Petrusia lachte schallend über die grimmigen Drohungen und die triumphierende Miene Franziskas. Es war ersichtlich, daß das Mädchen weniger die Liebe des Burschen als das herrliche Schicksal ersehnte, das ihr die Ehe mit dem reichen Bauernsohn gebracht hätte. Doch auch diese Gefühle verstand und teilte die Schmiedefrau bis zu einem gewissen Grade. Auch sie, das ehemals durch das Schicksal benachteiligte Waisenkind, empfand es als angenehm, in einem gekauften Rock im Dorf umherzugehen und ihre ehemaligen Brotgeber in ihrem wohlhabenden Hause zu empfangen.

»Gut«, wiederholte sie, »was soll man schon machen? Wie soll man den Menschen nicht helfen …, wenn es möglich ist? Komm doch morgen wieder zu mir.«

Pfeilgeschwind lief Franziska ins Dorf zurück. Sie hatte es eilig, ins Gasthaus zu kommen, wo die Geige schon zu spielen begann und Klemens ganz bestimmt zu finden war.

Am nächsten Tage, zur Dämmerstunde, war sie wieder auf dem Heimweg von der Schmiedefrau. Diesmal ging sie aber langsam, war nachdenklich, vielleicht auch etwas verträumt. Von Zeit zu Zeit preßte sie mit der Hand irgend etwas, das sie unterm Hemd verborgen hatte, an die Brust. Dort, wo der Pfad zu Ende war, zwischen dichten Distelsträuchern, die zwischen dem Feldrand und dem hinter einem Zaun stehenden Apfelbaum wucherten, griff sie plötzlich jemand am Rock und hielt sie fest. Sie erschrak so heftig, daß sie laut aufschrie und das Kreuzeszeichen schlug. Da erkannte sie in der über den Zaun hängenden Gestalt Rosalka, die Frau von Stefan Dziurdzia. Geschickt sprang diese jetzt über den Zaun und begann mit einer zischenden, pfeifenden Stimme rasch zu fragen:

»Wo kommst du her, Franziska? Von der Schmiedefrau? Du bist auch gestern bei ihr gewesen. Brauchst keine Angst zu haben – ich sehe alles. Und was gibt's denn bei der Schmiedefrau? Braut sie Kräutergetränke, züchtet sie Kröten, oder spricht sie mit dem Teufel? Was?«

Franziska wollte zuerst gar nicht antworten und versuchte weiterzugehen, doch Rosalka hielt sie wieder am Rock fest.

»Warum rennst du davon?« fragte sie. »Hast du denn Sehnsucht nach den Schlägen deiner Onkel oder nach dem Geschimpfe deines Großvaters? Hier hast du was! Setz dich hin und iß! Wir wollen uns 'n bißchen unterhalten.«

Sie drückte ihr eine kühle, große grüne Gurke in die Hand, zog noch eine zweite hinter ihrem Hemd hervor und setzte sich auf einen kleinen Abhang zwischen die Distelsträucher. Der geschenkte Leckerbissen stimmte Franziska dieser Frau gegenüber schon etwas freundlicher. Schließlich hatte sie ja gar keine Ursache, ihr böse oder abgeneigt zu sein. Im Gegenteil: Rosalka war zu ihr sogar freundlich gewesen, und als man ihr einmal daheim allzu sehr das Leben zur Hölle gemacht hatte, war sie für sie eingetreten, so daß es zwischen ihr und Franziskas Tante zu einer mächtigen Schlägerei gekommen war. Es war auch im Grunde verständlich. Sie brauchte Franziska nicht zu beneiden, und das Schicksal des Waisenkindes tat ihr außerdem etwas leid. So setzten sie sich jetzt beide unter die buschigen Disteln und begannen, ab und zu in eine Gurke beißend, in der Abenddämmerung zu flüstern. Der Garten, in dessen Nähe sie saßen, war leer, und auf dem Pfad war kein Mensch zu sehen. Rosalka wollte aus dem Mädchen herausholen, warum es die Schmiedefrau besuchte, und Franziska, die beim Nachdenken über ihr eigenes Schicksal wieder etwas trübsinnig geworden war, fing an zu jammern:

»Ach, ich bin ja so unglücklich. Eine Unglücklichere gibt es wohl kaum auf der Welt. Das ist auch kein Wunder – ich bin ja eine Waise, arm und so gut wie bei Fremden, wie in einem fremden Haus …«

Und nun stöhnte sie und erzählte nochmals dasselbe, was sie vor einer Stunde Petrusia erzählt hatte. Mitleidig schüttelte Rosalka den Kopf und sagte dann:

»Und wozu bist du zur Schmiedefrau gelaufen?«

Doch Franziska erzählte weiter von ihrem Schicksal:

»Gott allein kann es wissen, ob er mich liebt oder nicht. Doch mir scheint es, daß er mich doch liebt. Schon vor zwei Jahren gab mir jemand am Brunnen eines so auf den Nacken, daß mir Hören und Sehen verging … Ich drehe mich um …, es ist der Klemens. Ich hab' ihm einen ganzen Eimer Wasser ins Gesicht geschüttet …«

Und so erzählte sie weiter bis zum Schluß, alles genau so und auf dieselbe Art und Weise, wie vor kurzem zu Petrusia. Rosalka widersprach nicht und unterbrach sie nicht, doch nach einer Weile stellte sie wieder dieselbe Frage:

»Und wozu bist du nun zur Schmiedefrau gelaufen?«

Doch Franziska war mit der Erzählung dessen, was sie wie ihr tägliches Gebet auswendig gelernt hatte, noch nicht ganz fertig geworden.

»Und ein anderes Mal«, stöhnte sie, »da sieht er mich einen Monat, ja manchmal sogar zwei oder drei Monate nicht an und schäkert mit anderen Mädchen …«

»Wozu bist du zur Schmiedefrau gelaufen?«

»Ich weiß nicht, ob ich's glauben soll oder nicht, ob mir der allmächtige Gott ein so großes Glück vergönnt …«

»Wozu bist du zur Schmiedefrau gelaufen?«

Trotz aller Diplomatie, die Rosalka in diesem Falle anwenden wollte, war ihre Geduld doch bald zu Ende. Ohne zu wissen, warum und wieso, küßte Franziska ihr die Hand. Dann wischte sie sich mit den Fingern die Tränen von den Augen und begann:

»Rette mich, Tante, hilf mir, ich will dir mein ganzes Leben lang dankbar sein …«

»Aha«, sagte Stefans Frau und dehnte den Ausruf in die Länge, dabei blitzten ihre Augen in der Dämmerung wie zwei helle Feuerchen.

»Du wolltest dir also von der Schmiedefrau Rat holen …?«

»Ja.«

»Hat sie dir denn einen Rat gegeben?«

»Ja, und der liebe Gott möge es ihr mit allem Guten vergelten …«

Mit dem ganzen, schmiegsamen Körper hing sich Rosalka jetzt an den Hals des Mädchens und begann im Flüsterton, ihr fast ins Ohr sprechend, schnell, eifrig, leidenschaftlich zu fragen. Franziska wehrte sich einen Augenblick und wandte beschämt und ängstlich das Gesicht von ihr weg. Sie schämte sich und hatte Angst um ihr Geheimnis. Doch Rosalka umarmte sie mit der einen Hand, und mit der anderen stopfte sie ihr den Rest der angebissenen Gurke in den Mund. Von einem Gefühl der Zuneigung übermannt, drückte sie das Mädchen so sehr nach hinten, daß beide beinahe im Gras lagen. Dabei überschüttete sie die Jüngere mit Kosenamen, nannte sie Täubchen, Kuckucksvögelchen, Würmchen oder Fischchen. Derartige Liebkosungen kannte Franziska aus ihrem harten, unfreundlichen Waisendasein nicht. Es schmeichelte ihr, daß eine ältere Frau, eine wohlhabende Bäuerin, so liebevoll zu ihr war. So gab sie Rosalka wieder einen Handkuß, nannte sie Tante und begann wieder zu klagen und zu jammern. Rosalka tröstete sie, doch zwischen die Worte des Trostes flocht sie immer wieder Fragen ein, und als sich beide nach einer halben Stunde vom Boden erhoben, glänzten in den Augen der Älteren trotz der Dämmerung Freude und Triumph. Sie hatte aus dem Mädchen alles herausgeholt, was sie wissen wollte. Plötzlich ließ sie es mitten zwischen den Distelsträuchern allein stehen und lief mit der Schnelligkeit eines Pfeiles in Richtung des Dorfes. Fast atemlos lief sie die inzwischen ruhig gewordene Dorfstraße entlang und blieb erst vor dem Hause Peters stehen. Es war klar, daß sie zuerst wie ein Unwetter in das Haus hineinstürzen und dort alles, was sie soeben erfahren hatte, berichten wollte. Doch sie schien sich anders zu besinnen. Jetzt wollte sie keinem Menschen auch nur ein einziges Wort davon verraten. Mit ihrem Wissen wollte sie erst dann in Erscheinung treten, wenn im Hause Peters das Gewitter losbrach, wenn Klemens unbedingt darauf bestehen würde, Franziska zu heiraten, und der Vater sich diesem Wunsche widersetzen würde, wenn zwischen Sohn und Vater Zank und Streit ausbräche. Dann wollte sie zu ihnen kommen und ihnen erzählen, wer an allem die Schuld hätte. Es ist doch interessant, was Peter dazu sagen wird! Niemals wird er doch seine Erlaubnis dazu geben, daß sein Sohn ein solches Mädchen heiratet, dazu noch ein Mädchen, das aus einer Diebesfamilie kommt. Er selbst hat im Leben nie gestohlen und wird auch niemals die Enkelin eines Diebes zur Schwiegertochter haben wollen. Es wird schon in dieser Hütte genug Zank und auch allerhand Ärgernis geben! Ganz bestimmt! Und die Schmiedefrau wird dann von Peter und allen anderen ordentlichen Leuten ihr Teil abbekommen! Die werden es ihr dann schon geben, werden's ihr schon geben – ihr, der Frau, die ihr eigenes Leben zugrunde gerichtet hatte, um derentwillen sie der Mann nicht lieben wollte und derentwegen sie jetzt so viele blaue Flecke auf dem ganzen Körper hat, wie es Sterne am Himmel gibt! Er könnte sie ruhig schlagen – wenn er sie nur lieben wollte! Doch er liebt sie nicht und schlägt sie nur um so kräftiger. Und alles wegen dieser Frau …

So stand sie jetzt vor Peters Haus, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wischte mit der Schürze darüber und ging langsam weiter. Warum sollte sie sich auch beeilen? Sie wußte im voraus, was sie zu Hause erwartete. Am Morgen war das Kind krank geworden, und es war ihr klar, daß nach der Erkrankung des Kleinen Stefans ganze Trauer zum Zorn werden würde, als ob sie schuldig daran wäre, daß das Kind so schwächlich zur Welt gekommen war. Als es zwei Jahre alt war, hatte sie es zwar mit der Schaufel einmal so kräftig auf den Kopf geschlagen, daß ihm der Verstand vergangen und der Kleine einige Wochen stumm geblieben war. Ist es aber deswegen etwa schwächlich und nicht gescheit? Woher denn? Es ist ihm eben ein solches Schicksal schon bestimmt gewesen – und das ist alles.


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