Balder Olden
Kilimandscharo
Balder Olden

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O Nacht und Afrika!

Meine Kompagnie ist saniert!« empfand Hüssen, den Weiße und Schwarze »Bwana mkuba msafi« nannten, den »sauberen Kommandeur«.

Ein paar Wochen lang war er keine Stunde des Tages allein gewesen – der Augiasstall, den sein Vorgänger ihm hinterlassen, hatte zu viele Seitengelasse und Nischen, die zu reinigen waren. Unbändig stark war jetzt der Wunsch in ihm: ein paar Stunden wenigstens, ein Schock Atemzüge lang, ganz frei von der Atmosphäre anderer Menschen zu sein – nichts gefragt zu werden, nicht kommandieren zu müssen.

War es nicht lächerlich, daß er immer wissen mußte, was andere zu tun hatten? Im Grunde war es doch Lotterie, ob er das Richtige fand – oft vor Entscheidungen gestellt, die sein Boy, die irgendein Last-Kuli besser treffen konnte. Wenn er Herrn Wehrhahn, dem feierlichen Graubart, der sein Wachtmeister geworden, erklärte: »Das müssen Sie besser verstehn als ich« – zuckte der die Achseln: »Herr Oberleutnant haben das Kommando«. Ein Mann, 113 der in seinem Betrieb zehnmal so viel Menschen dirigiert hatte wie die Kompagnie an Weißen und Schwarzen zählte, der zehnmal mehr von der Welt gesehen hatte als Hüssen, der älter und reifer und seiner selbst sicherer war!

Es mußte gemacht, es mußte entschieden werden: wo man eine englische Bahn sprengte, wie man einen Ochsen unter die schwarzen Soldaten und Träger verteilte, wem man das Kommando über eine »haarig« gewagte Aufklärungs-Patrouille gab, wo man Mehl bestellte, wieviel Hiebe ein aufsässiger Boy bekam, wieviel Tage Urlaub ein weißer Unteroffizier, der irgendwo Frau und Kinder und einen großen, wichtigen Betrieb hatte – der wie ein Hans Ohnesorg gegen den Feind ritt, sich immer neu auszeichnete, kostbare Monate im dienstlich gefärbten Schlendrian des Lagerlebens hindröselte und weiße Haare bekam, wenn er daran dachte: daheim! Auf Patrouillen, bei großen Unternehmungen war dieser Mann, der das Land kannte, in tiefer Nacht nach Mond und Sternen jeden Weg fand, im Gefecht Führer sein konnte, unentbehrlich. Aber warum schickte man ihn nicht von einer Aktion zur andern nach Hause? Seine Kameraden nannten ihn »alter Stock« – er war kantig und sehnig, von einem langen Leben voll Arbeit durchgeknetet, bekam Melancholie, wenn er nicht schaffen durfte. Und saß hier im Grashaus, spielte Skat, – raffiniert, mit allen Schikanen, – verlor, wurde giftig, bös, dachte an seine Kinder, die irgendwo verkamen, während er ein Null-Ouvert rum brachte, das unverlierbar schien.

»Wenn der alte Stock schon wieder Urlaub 114 bekommt, hätten noch zwölf Europäer denselben Anspruch. Vor allem . . .«

Hüssen mußte dem alten Stock sagen: »Lieber, Guter – sehen Sie, ich kann jetzt noch nicht, darf nicht, Krieg ist Krieg – gedulden Sie sich – trinken Sie heute abend einen Schnaps bei mir –«

Und der alte Stock biß sich in den roten Schnurrbart, zerbiß einen Fluch, machte aus seinem wuchtigen Skelett die dienstlich-leblose Karikatur, die er vor zwanzig Jahren bei der Garde geübt hatte. »Wenn Herr Oberleutnant glauben . . .«

Ah, er glaubte gar nicht, er glaubte das Gegenteil, er mußte nur so daherreden – da kam schon ein anderer, dem er auch so etwas drauflos erklären mußte, was er auch nicht glaubte. Den ganzen Tag über, beim Zechgelage – denn Hüssen lag, wie irgendeiner und trotz allem, mit »seinen Leuten« an der Flasche – oft, jede Nacht ein paarmal, aus dem Schlaf heraus, mußte er entscheiden, bestimmen, befehlen, was sinnlos und gegen seine Ueberzeugung war.

Er lag auf seinem Feldbett, eine Petroleumlampe erhellte das Innere des Gras-Châteaus, strahlte über ein paar Bündel lächerlicher Kompagnie-Akten, die Wind oder Feuer vernichten konnten, ohne daß ein atmendes Wesen um ein Gran Zukunft betrogen wurde – und die doch seinen halben Tag Gegenwart weggefressen hatten. Neben ihm ein Buch: »Clarissa, aus den dunklen Häusern Belgiens.« Einer der siebzehn Bände Kompagnie-Bibliothek, Lesefutter von fünfzig und mehr weißen Männern, ihrem einzigen Lesefutter, ihrer geistigen Nahrung – 115 zerfetzt die Ränder, eine Enzyklopädie für Daktyloskopieologen, ein Denkmal von Kriegselend! Und draußen schnoberten Pferde, schilderte ein Posten – es war bald Morgen, aber aus irgendeiner Urwaldecke kam noch das Geräusch von Schwatzen und Zechen.

Der »saubere Hauptmann« konnte nicht schlafen. Wie ein Karussellpferd drehte er sich im Kreis der Dinge, die seinen Tag bedrängt hatten, dieser Eintagssorgen, banalen Verantwortlichkeiten, in diesem Gestrüpp, das alle Aussicht auf die wirklichen Dinge versperrte.

Wo steckte er denn selbst, wer war er, mit wem hatte er es zu tun, wenn er in den Spiegel sah, den halb zersprungenen und verklexten Rasierspiegel dort unter den Akten?

Eins nur stand fest: Bwana mkuba war er, der große Herr, der einzige hier, der sich selbst Befehle geben durfte. Wenn er für ein paar Tage verschwand, nur einen Wisch von Erklärung, ein paar Zeilen Mitteilung hinterließ, – war es nicht Dienstversäumnis, Fahnenflucht, Kriminalfall wie bei jedem anderen! Er ging Posten revidieren. Einen der weit entlegenen Posten, die zu seinem Kompagnierevier gehörten. Er machte Aufklärung, kontrollierte die Massai-Späher, ging einer heimlichen Fährte nach – irgend etwas!

Und damit 'raus! Aus dem Bett, in die Khaki-Uniform, ein paar Zeilen aufs Papier geworfen. Revolver, Seitengewehr, Karabiner, die stets paraten Satteltaschen mit Patrouillenvorrat, Pfeife . . . Dann – in den Stall geschlichen, gesattelt . . . das 116 kleine, zähe Beest von Leibesel wollte wiehern, er schlug ihm auf die Schnauze, der Posten wollte salutieren, die Parole brüllen, er zischte ihn an:

»Laß den Lärm, Buschneger!« –

Zog seinen Bock an der Trense hinter sich her, schlich die Gasse aus Grashütten hin, stolperte, fluchte, merkte erst jetzt, daß kein Mond schien, Wind fauchte, daß es aus allen Buden schnarchte.

»Wer bist du?« brüllte ein zweiter Posten am Lagerausgang.

»Maul halten!«

Der Schwarze kannte seine Stimme.

»Antreten . . .!«

»Maul halten!«

Parole, Feldgeschrei . . . Ehe der Wachthabende aus seinem Halbschlaf kam, mit schweren Lidern, schweren Knien, hatte Hüssen den Eingang zum Dornverhau durchschritten.

Da lag die Steppe! Tief unter ihm harfte es aus den gelben Halmen, es weinten von ganz fern die Jammer-Akazien. Für Sekunden brach ein Mondstrahl durch Wolken: die weiße Kuppel des Kilimandscharo gleißte auf, tausend Meilen weit dehnte die Welt sich, ein einziges Geheimnis, ein einziges Glück für den, der sich ihr gab. Alles lag da draußen, lag vor ihm, zu seinen Füßen: Nacht und Angst und Alleinsein, Schauer der Kreatur, der keine Wehr gebaut ist zwischen sich und Tod und Wirklichkeit. Da draußen geisterte Wild und geisterte Licht, wurde gebissen, geliebt und gefressen, schrie eine Maus in Todesnot, knurrte eine Löwin in bösem Hunger, begattete ein Eulerich seine Eulin. Da draußen war 117 alles wahrhaft, wurde nicht gefragt und befohlen und geschriebifaxt, lebte man sich aus in süßem Mord und hart erkämpfter Paarung, brauchte keinen Schnaps, kein Buch aus den dunklen Häusern Belgiens und konnte atmen, daß die Lungen pfiffen! War Fresser und Fraß, fürchtete sich sehr und war fürchterlich. Da draußen, im Becken der weiten Steppe, die leise sang wie ein See im Nachtwind, auf diesem Boden eines Meeres, das die Aequatorsonne weggesengt und in sich gesaugt hatte, lag unter allem Grundgequader der Schöpfung auch ein kleines, armes Ding von Kreatur verschüttet, das den flüchtigen, leeren, verödeten Bwana msafi anging: er selbst!

Hufklappernd ging's jetzt eine Schlucht hinab. Der Maulesel schnoberte sich die Fährte aus, stolperte manchmal, kam wieder auf die Viere. Ein Hügelrücken sperrte quer die Welt ab, wurde überstolpert und überwunden. Dann war er drin im feuchten, grasigen Steppenduft, der kleine Hüssen, kletterte in den Sattel, trieb an, weinte fast: Oh Nacht und Afrika!

* * *

Hüssens Ziel war der »Eukissai«, eine Felsnase des nördlichen Kilimandscharo, die knapp an der alten Grenze zwischen deutschem und britischem Afrika fast senkrecht in die Steppe fiel.

Von Nord her durch diesen Steilhang beschützt, an einer weiten Halde, die schäumend-weißes Bergwasser grün und saftig hielt, war bis zum Ausbruch des Krieges gefarmt worden. Auf fast eintausend 118 Stück mit europäischem Blut hochgekreuzten Zebuviehs hatte es die Eukissai-Herde in wenig Jahren gebracht, als mit Beginn der Feindseligkeiten ein breiter Streifen Grenzlandes von den Siedlern geräumt werden mußte.

Das Vieh war in breiter Kolonne abgetrieben, auf andere Farmen verteilt oder geschlachtet worden, der Farmer selbst war schleunigst eingegangen. Ein Jahrzehnt voll harter Dienste im Küstenland hatte ihm das Grundkapital für einen Farmbetrieb, aber von Malaria zersetztes Blut, wunde Lebern und geschwollene Nieren eingetragen, so viel Gebrechen, daß er nur noch dort oben zwischen Urwald und Steppe alt werden und schaffen konnte. Der Abschied vom »Eukissai«, für dessen Besitz er ganz bewußt Gesundheit und Jugend eingetauscht, war ihm allzu schwer geworden – jetzt lag er nicht sehr fern von dieser Heimat seines Herzens in guter Luft begraben. Reste seiner Herde weideten ihm übers Grab.

Seine Frau war Oberschwester in einem Spital, berechnete in wachen Nächten den Wert ihrer versprengten Zebukühe und Zuchtrinder, Kälber, Füllen und Schweine nebst Zins und Zinseszins, dessen Rückvergütung der Frieden ihr bringen mußte. In jeder Nacht fiel ihr ein vergessener Gockel, ein krepiertes Lamm ein, wurde zum Tages-Marktwert in die große Faktura hineinaddiert.

Wegen des Rentenwertes ihres Heimgegangenen – daß dieser Anspruch sich nicht kapitalisieren ließ, war ihr schmerzlich bewußt – bat sie jeden, der irgendwie sachverständig sein mochte, um gütige 119 Schätzung. Je öfter sie hörte, der Gesundheitszustand des Verblichenen sei für die Taxierung maßgebend, um so kräftiger und blühender ließ sie ihn werden. »Infolge des Krieges« war er gestorben – das stand fest. Aber schon ein Jahr nach seinem Tode hatte ihm eigentlich gar nichts gefehlt, war seine Erwerbskraft unbegrenzt gewesen; ach, die trauernde Witwe berechnete nun die Summen, die ihr Gatte gerade während des Krieges hinter der Front verdient hätte, wenn eben der Krieg nicht gekommen, diesen Baum von Kraft und Jugend nicht gefällt hätte. Man nahm an, daß die körperlich rüstige Dame bei guten Jahren und im Bewußtsein glänzender Vermögensverhältnisse überschnappen würde, wie Blindspieler beim Schach. Denn aus reiner Zartheit gegen den Gefällten nahm sie all' die anstrengenden Additions- und Zinseszinsberechnungen ausschließlich im Kopf vor. Selten nur erlaubte sie sich, die Schlußsumme verstohlen auf die Rückseite eines Rezeptes zu notieren.

Auf dem Farmland des Eukissai aber war ein Vorposten errichtet, den Hüssens Kompagnie besetzte. Ein Kommandant und ein Unteroffizier mit ihrem Trupp Askari hausten dort seit Monaten, hatten nie um Ablösung gebeten, drängten die Abteilung nicht um Schnaps oder Tabak und Konserven, barmten nie um Arzt, um Urlaub, um Medizin, riefen nicht einmal das Kriegsgericht gegeneinander an. Früh morgens und spät nachts ging täglich ihr Morsebrief in der Telegraphenzentrale »Säufer-Genesungsheim« ein, meldete gelegentlich von Aufklärungsritten ins Britische, von feindlichen 120 Streifpatrouillen, die meist bis zu einer bestimmten Wasserstelle vorgedrungen waren, gekocht, genächtigt und sich – scharf beobachtet – wieder heimwärts begeben hatten. Von Heldentaten war aus diesem letzten Winkel des Kampfgebietes noch nichts bekannt. Soweit Hüssen sich aus den Akten seiner »Elften« erinnerte, hatte der Eukissai bisher keinen Schuß gemeldet.

Hüssen wußte nicht einmal, ob der militärische Posten im alten Farmhaus einquartiert war oder irgendwo verborgen im Urwald lag. Er verließ sich auf sein gutes Glück und seinen Afrikanerinstinkt, der sich im Gang einsamer Steppenjahre gezüchtet hatte – er würde das Idyll aufstöbern und mit den friedlichen Herren da oben einen stillen Tag verleben.

Einstweilen war's Nacht. Er hatte kein Licht und keinen Kompaß, der schneebedeckte Kilimandscharogipfel, der sich manchmal, sekundenlang weißblühend, enthüllte, war einziger Orientierungspunkt. Westlich davon mußte man sich halten, am Fuße des Berges hinstreichen, später – weil doch feindliche Patrouillen die Gegend unsicher machten – auf gut Glück den urwaldbestandenen Berghang anreiten. Von oben, von irgendeinem Auslug her würde das Gelände dann plötzlich wie eine Landkarte vor ihm liegen, schräge Halde, gischtendes Wasser, das Farmhaus mit Hürden, Koppel und Viehkraal.

Das Maultier Suse hatte lange Wochen Stallruhe hinter sich. Es war mit ganzer Lust bei dieser plötzlichen Expedition, beim pfadlosen Eindringen 121 in die nächtliche Steppe. Zwischen seinen Schenkeln spürte der Reiter, wie kraftvoll und freudig dies alte Beest, das ihn auf ungezählten Reisen, über Zehntausende von Meilen, getragen hatte, auszog, wie mühelos es unter seinem Jockeigewicht ging. Es biß klirrend auf die Trense, im Takt mit seinen Schritten und einem Negertanz, den sein Reiter klanglos durch die Lippen blies.

Nach einem Stundenritt, der ein halbes Dutzend Kilometer zwischen Hüssen und seine Depressionsbasis gelegt hatte, umlagerte mehr und mehr schwarzes Gewölk das Kibohaupt. Dann legte sich der Wind, der diesen Wolkengürtel zuweilen auseinandergesetzt – jetzt blieb schwarz und undurchdringlich, was der Horizont abgrenzte. Die wippenden Pferdeohren seiner Suse, formlose Schatten von Büschen oder Bäumen, an die er auf Greifweite herankam – das war alles, was Hüssen zu sehen bekam, und nur ganz blaß noch war ihm die Richtung bewußt, in der Eukissai liegen mochte. Gerade das machte die Reise schön! Die Lungen voll von tauiger Nacht und allem Duft, den die Steppe zu geben hatte, von der sicher schreitenden Suse fast gewiegt, ganz im Bewußtsein einer Befreiung, horchte er ins Dunkel hinaus, hörte manchmal ein verschlafenes Vogelzirpen, das Rascheln von Gras unter den Füßen eines Tieres, das gleich einsam die Nacht durchzog, manchmal auch ein Rauschen großer Schwingenpaare. Mehr und mehr, als seine Nerven sich an die Stille gewöhnten, wurden die Stimmen der Nacht. Da war tiefes Atmen irgendwo von einem Rudel schlafenden Wildes, ein Pfiff des 122 Wachtieres, das ihn, den harmlos gesinnten Fremden, anzeigte. Da schrie der Weckvogel auf, gab hundert Meter weit Kunde von seinem Kommen, fand Antwort, – jetzt erst bemerkte der Reiter, daß in der Richtung seines Marsches, vorwärts nach rechts und links, ein eifriger Signaldienst im Gang war und jeden Schritt verriet.

Manchmal störte er schwer schlafende Perlhühner, ganze Züge, die mit klirrenden Flügeln emporsurrten: dann ärgerte sich Suse, zuckte, schnoberte laut und boxte mit stumpfer Schnauze durch die Luft.

Plötzlich war man nicht mehr in der freien Steppe, war in eine breite Partie Dornbusch geraten, vielleicht in die Fährte eines Rhinos. Hier wurde es lebendig, die fliegenden Nachtwächter weckten und riefen, überall schlich, kratzte, gackelte es im Dickicht, knarrte es von brechendem Geäst, schwelte das grünliche Licht von faulendem Holz. Die Fährte zog sich zusammen, wurde schmaler und schwieriger; torkelig, hilflos konnte man sich hier dem Lager eines schlafenden Rhinos nähern, das aufspringen, anrasen würde – blind bei Nacht wie bei Tag, blind und bös – um das bißchen Bwana mkuba mit seinem Eselein Suse zu Brei, einem großen häßlichen Klex, zu zertrampeln.

Der Nachtreiter mußte umkehren, aus dem Busch heraus, ihn zu umgehen suchen. Dann zog er am Rande des Dickichts hin, die Hufe seiner Suse wieder im weichen Steppenboden, kam auf Geröll, in Hügelland. Der Marsch ging aufwärts, steiler mit jedem Schritt. 123

So herrlich schwer waren die Augenlider geworden! Ohne Richtung, ohne Angst und Eile – warum nicht schlafen, wo immer sich Platz bot, die Knochen strecken?

Er stieg ab, führte tastend ein Stück weit, da war eine Böschung im Geröll, da ragte ein Felsstück, an das man Suse binden konnte! Im Augenblick war abgesattelt, die Trense aus Susens Maul, ihr Halfter um die Felsnase geschlungen. Den Sattel unterm Kopf, fest in den Woilach gewickelt, ach, war das herrlich, so ungefähr längelang auf dem Aequator zu liegen, eine tief poetische, letzte Zigarette im Munde, das Schnobern des Maultiers im Genick – und um sich, über sein heißes Gesicht hin, den Atem der kühlen, zärtlichen Nacht! Die Zigarette war nicht halb geraucht, Susens Kopf hing dösend zwischen ihren Knien, da war Hüssens Tag zu Ende! Bis in den Schlaf hinein hatte er das Bewußtsein, wie schön dieser Schlaf war.

Vom ersten schweflichweißen Dämmer an den Rändern des Horizontes, über Phosphor-Gelb und prunkvoll tiefes Karmoisin der Wolken im Osten, wird es am Aequator gedankenschnell Morgen. Dann ist ganz rasch brennende Sonne da, Berge sind wirklich geworden, Bäume, Fels und Stauden haben scharfe Kanten und heftige Formen bekommen.

Dies jähe Werden erlebte Hüssen nicht. Er schlief noch, als Suse schon murrend und scharrend zum Frühstück hinunter verlangte, als seinen Körper junge Wärme ganz durchrann.

Wie voll von Traum war diese Nacht gewesen! 124 Als Hüssen die Augen aufschlug, wußte er noch von jedem Bild, das ihn umgeben hatte – er wollte es behalten, legte die Hände vor sein Gesicht, grübelte sich zurück in die Visionen dieser kurzen Rast. Wie lang, seit ihm zum letztenmal Deutschland im Traum erschienen war! Heute nacht war er daheim gewesen. Hatte er da nicht ein tapeziertes, wirkliches Zimmer erlebt, das vertraute Gesicht eines Mannes, der ihn angesehn, zu ihm gesprochen? Wie klangen diese traurig-gefaßten Worte doch? »Mich siehst du zum letztenmal, mein Junge! So ist es gut, daß du gekommen bist . . .!« Ein Zimmer, in dem er jedes Bett und jeden Stuhl kannte – und doch ein fremder Raum! Mein Gott, wer aber war der Mann?

Dann war er eine Linden-Allee hinuntergerast, spät nachts, eine richtige deutsche Allee – es mußte Sommer sein, reich war der Wind vom Duft der süßen Blüten! Angstvoll und albern hatte er im Laufschritt gebetet: Lieber Gott, mach, daß sie noch nicht schläft, lieber Gott, mach, daß sie mich noch lieb hat! . . .

Das war – ja, diesmal fand sich die Spur! Er mußte sie nur festhalten, sich nur ganz unentwegt an das Bild im Mondstrahl leuchtender Blütentrauben klammern. Dann erschien eine niedrige weiße Villa, in Gärten natürlich, ein schläfrig singender Springbrunnen, dann war er Gymnasiast, liebte eine junge Frau . . . Ihr Mann – war der schon tot? Oder war er selbst nicht mehr Gymnasiast, nur so bubenhaft dumm verliebt, daß er alles an dies Abenteuer setzte, seine Liebe nicht mehr 125 verbarg? – Das war doch Anlaß für seine Afrikafahrt geworden! Es war lange her, seit er zum letztenmal von dieser verrucht süßen Hettie geträumt hatte, ohne die er doch nicht hier auf dem Aequator läge, mit heißen Wangen.

Wovon brannten seine Augen? Hatte er im Schlaf geweint? Natürlich war es Onkel Adolf Karl gewesen, der von ihm Abschied nahm . . . »Onkel A. K.« hieß er überall. Daß er das nicht gleich gewußt hatte! In der Kinderzeit »Onkel«, später der Vertraute letzter Geheimnisse, zuletzt Freund, ein viel inniger empfundener Freund als alle Kameraden vom Pennal und Regiment. Der mußte sterben? Wie alt konnte er sein – dreiundvierzig, höchstens fünfundvierzig –? Und war umgezogen, lebte in seinen Möbeln, aber in einem fremden Hause. Lebte da und starb da, vielleicht gerade jetzt, in dieser Stunde. Es war alles so deutlich, es war nicht einmal traurig, daß Onkel Adolf Karl starb. Ein Adieu, ein Händedruck über den halben Globus hin – man würde sich vielleicht – vielleicht – wiederfinden, dort über dem Kibogipfel, klarer und besser, als man sich je gesehen.

Seine Augen aber brannten nicht von diesem Traum und diesem Abschied. Es kam ein anderes Bild: nackte Kinder in praller Sonne, die fasernackten Baronessenkinder! Selbst dies Bild war aufgetaucht wie aus tiefer Verschüttung. Und es war doch erst ein paar Wochen her, seit er dort auf Mikatera gerastet, mit Herrn von Isonsky kluge Dinge gesprochen, der Baronin Hand und Mund, der kleinen Mädchen Wangen geküßt hatte. Und 126 dann abgeritten war, waffenklirrend, lachend, mit dem Versprechen, zurückzukommen. Lebendig! – keinesfalls als Gespenst. Denn sie hatte Angst vor solchem Wiedersehen.

»Und warum hab' ich Esel geheult?« fragte er sich. Irgendwie Trauriges war doch auf Mikatera geschehn – oder es geschah jetzt! Warum ging ihn das an? Warum wußte er nicht einmal den Vornamen der Baronin, wenn er sie liebte, von ihr träumte, mit ihr weinte? Die Kinder hießen Beatrice und – ja so ein komischer Städtename aus Indien, ein heiliger Zahn des Propheten wurde dort in einem buddhistischen Kloster verwahrt, einen botanischen Garten gab's, allerlei, das zur Bildung gehörte . . . Richtig: Kandy! Kandy hieß dies Seelchen, das strahlendnackend in der Sonne tanzte, flimmernde Regenbogen um sich warf. Lisa hieß die schöne Frau, die unglücklich war, die er geküßt. Nun hatte ein Traum ihm verraten, daß er ihr Bild in sich trug.

Dieser drollige, kleine Bwana msafi! Da war im heißen Pori ein Felshügel ohne Busch, ohne Schatten, auf dem saß er, den Tropenhelm im Genick, die Beine noch in den Woilach gewickelt. Neben ihm stand die Suse, hungerte sehr, witterte in die Steppe hinab. Er aber hatte keine Zeit für sie, starrte durch sein Monokel auf den Boden. Wie ein Anachoret saß er da, die Augen verheult, das Herz voll Sehnsucht – und begriff es langsam, daß er im Traum, in einer Linden-Allee, im Duft einer deutschen Mainacht, wie ein Schulkind gebetet hatte: »Lieber Gott, mach, daß ich 127 Lisa wiedersehe! Diese Lisa, die ich – nach der ich mich sehne – die mich nötig hat. Lieber Gott, mach's doch, mach's doch, du kannst's doch . . .«

* * *

Sorglos und pfadlos treckte Kurt Hüssen bis zum Nachmittag dieses traumumsponnenen Tages durch Gras- und Hügelland der Massai-Steppe Seringeti. So endlos dehnte sich dies Land, so winzig waren Mann und Tier, daß ihm schien, eine ganze Armee ausgeschwärmter Pori-Indianer könnte ihn niemals erspähn. Im Geröll der ersten Hügelkette, das er bei Antritt seiner Reise sorglich ausgenützt hatte, mußte Susens leichte Spur verloren sein. Selbst ein Feind, der seine Fährte vom Tage zuvor ausgemacht hätte, konnte sie nur nach stundenlangem Suchen wieder aufnehmen. Und so schützte der einmal gewonnene Vorsprung ihn vor jeder Verfolgung – gefahrloser reiste es sich in keinem Lande und zu keiner Zeit! Ganz weit weg war der Krieg, unwirklich und komisch, solange er auf den starken Beinen seines Maultieres durch die gelbgrüne Einsamkeit lief, in seinem Khaki fast einer Farbe mit dem aufgeschossenen Steppengras, das die Spitze seines Tropenhelms kaum überragte.

Wann mochte durch diese Breite zum letztenmal ein Mensch – gar ein berittener Weißer – gezogen sein? Hüssen legte seine Spur weitab von der kürzesten Verbindungslinie zwischen Kompagnie-Lager und Eukissai, die von Verpflegungszügen und Askariablösungen sonst begangen wurde, Stunden weit ab auch von den vorgeschobenen Farmen mit 128 ihren Drahtzäunen und breiten Straßen –. Es war vielleicht noch jungfräulicher Boden, den die Hufe seines Maultieres traten. Kein Massai-Kraal, kein Tschagga-Dorf weit und breit!

Wie einen Fremdling, der Glück bringt, von dem alles Gute sich hoffen läßt, begrüßten ihn die Einwohner dieser paradiesischen Steppe! Hier, wo nie eine Ader des Menschenverkehrs gelegen, hatte bisher nur ein Gesetz gegolten und Kraft gehabt: das Gesetz des Friedens! »Wild-Reservat« stand auf allen Karten Ost-Afrikas über diesem Streifen Land. Heimat der Antilopen und Gnus und Schlangen und Hasen, Zebras und Löwen und Hühner bedeutete das, Heimat und Freistatt, die nie der Knall einer Patrone stören durfte, Freistatt des Wildes, in der Waid kein frohes Spiel, kein ritterlicher Sport war, sondern: Mord hieß, Mord an Geschöpfen, die unter Schutz aller hohen Gewalten des Landes standen.

Ein paar Wilderer mochten dann und wann in dies Friedensgehege eingedrungen sein, vielleicht, vielleicht hatte im Laufe der Jahre einmal auch hier, unheilig, voll schlechten Gewissens ein gieriger Bursche seinen Karabiner freveln lassen. Aber der einzelne Schuß hätte die Tempelstille dieses Gartens nur für Sekunden stören können. Daß der Mensch sein Feind sei, daß von vierbeinigen Stiefgeschwistern ihrer Art Todfeinde ihrer Art sich tragen ließen, daß ein Blitz aus einem Holzarm des seltsam aufrecht hockenden Tieres mit Knall und Schall in sein Herz zucken konnte – davon wußte dies Steppenvolk nichts, hatte keine Erfahrung und kein Instinkt es unterrichtet. 129

»Ein Wundertier! Ein Wundertier!«

Wie durch ein Dorf die Kunde von Seiltänzern und dressierten Bären klingt, so ungefähr mußte jetzt über Halm und Blatt der Ruf gehen: ein Wundertier! Denn auf zwanzig, auf zehn, auf fünf Schritte drängte sich herein, was im weiten Pori Goldaugen und Neugier im Hirn und ein wundersüchtiges Herz hatte. Da standen Kongoni-Gazellen, die zart gefärbten, kaum wehrhaften, aneinander gedrängt, zitternd vor Erregung – hold bescheiden und mit sich kämpfend: darf man so neugierig sein? Sind wir nicht zudringlich? Ach, – herrlich und seltsam ist dies Wundertier!

Und ganz große Hartbeest-Antilopen kamen an, stark wie junge Pferde, mächtig bewehrt, mit vielendigem Geweih, die ihre Köpfe wiegten, die Ohren spitzten, ihre Augen, die alle Sonne in sich getrunken, staunend rollten. Sie wollten mit Suse Freundschaft schließen, sie pfiffen, sie riefen ihr zu: »Erzähl' doch! Was bedeutet das – das kleine Tier auf deinem Rücken, die nackten Lianen um deinen Kopf, – wo kommt ihr her, was bringt ihr?«

Da kam einer herangebraust, wirbelte Staub auf unter galoppierenden Hufen, stampfte durch eine breite Furche Gras, zeigte heldisch grimmige Mienen. Der hatte ein wildes, buschiges Haupt, schwarzlodernde Augen, zeigte große Angst, er möchte zu spät kommen. Das war ein Gnu-Bulle, breit und knochig wie ein schwerer Gaul, den Nacken bemähnt, den Schweif, der muskelstark seine Flanken peitschte, mit einem köstlichen Wedel schwarzer Locken geziert. Er hatte Amtspflichten hier, kam 130 nicht nur so aus Wißbegier – deshalb trommelte er furchtbar mit den Vorderhufen, deshalb blieb er auf wenig Schritte jählings stehn, daß eine Wolke Staub sich um ihn löste, senkte den Kopf und präsentierte die Waffen: Gut Freund oder Gegner? Man ist bereit!

In seinem Rücken dröhnte die Erde, sein Volk galoppierte dem Gnu-Schulzen nach, ein paar schwächere Bullen, Kühe mit vollen Zitzen, alle Jugend des Stammes! Sie machten auf Sichtweite halt, da pfiff der Alte, der sich verantwortlich hielt: »nur heran –« und wieder ging es los »truppe-trupp« – wie von einer Kürassier-Schwadron – und nun stand die Herde Spalier, dreißig dieser buschigen Häupter mit wildirrenden Augen, dreißig Schweife, die um sich peitschen, dreißig mähnige Nacken!

Die Zebras aber, die Zebras kamen nicht im Dutzend, sondern in Hundertschaften herangetrabt. Die hatten noch weniger Angst als Antilope und Gnu, denn sie kannten ja Suse gleich als nahe Verwandte, wollten nicht glauben, daß so eng im Rahmen der Familie Tücke und Verrat leben könne. Neugierig waren sie auch, aber ohne Fieber – zwischen einem Blick und dem andern schlugen sie ihre Zähne ins Gras, das noch leicht betaut war, und nun riß auch Suse an der Trense, brockte sich rechts und links ein Maul voll Frühkost, Gräser und Blumen zugleich, die wie ein Begrüßungs-Bukett aus ihrem Mundwinkel wippten, Biß um Biß im Munde der wackeren Alten verschwanden. Dann wurde ein neues Sträußlein gepflückt – es 131 machte ganz den Eindruck, als betonte die alte Suse: »na ja, man gibt sich da zum Schleppen her, trägt das komische Tier so durch die Welt –. Aber man ist doch kein Sklave, man greift zu und frühstückt nach Gefallen, es speist sich so nett im Wandern, das fremde Tier wiegt ja nicht viel . . .«

Plötzlich bekam Suse Schenkeldruck, einen deutlichen Puff rechts und links in die Weichen, und notgedrungen, dem Drang ererbten und eingedrillten Zwanges folgend, setzte sie sich in Trab, gerade in dem Augenblick, als sie demonstrieren wollte, sie sei mehr Freund als Diener des fremden Tiers.

Das war ein Erstaunen unter dem Landvolk! Alle Köpfe drehten sich, alle Lichter spielten, ein paar junge Antilopen, fast alle Gnus machten unwillkürlich mit, machten längs der Fährte, die Suse zog, in gleich langen Sätzen den gleichen Trab! Bis sie allmählich erkannten: auch dieses Wunder hatte sich erschöpft. Das fremde Tier brachte weder Segen noch Fluch, war vielleicht ein Gott, aber sicher keiner, der heute morgen in der Laune war, Wunder zu tun. Er zog nur so durch ihre Welt hin, vielleicht prüfend, vielleicht um dem höchsten Gott hinter den schroffen Bergen Bericht zu geben von seiner Kreatur. Es mochte klüger und vielleicht sogar dem Gott gefälliger sein, wenn man seine Gaben würdigte durch Raufen, Käuen, Wiederkäuen.

So blieb endlich jedes Tier stehn, wo es stand, und pries den Herrn: äsend, schweifwirbelnd, in Häuflein glitzernder schwarzer Kugeln der Steppe dankbar seine Losung gebend. Gegen jeden Fremdling, 132 der weniger gütig als Hüssen dieses Weges zog, hielten langhalsige Strauße Wacht: zuweilen stieg ein Reiher, den man gastlich auf seinen Schultern duldete wie die Zebrabase ihr Wundertier, senkrecht empor und überspähte das Rund.

An Hüssens Straße aber sammelte sich neues Volk, hinter jedem Hügel, jeder Graswelle kam es zu Hunderten von Köpfen hervor. Sein ganzer Marsch zum Fuße des Gebirges ging so durch ein einziges Spalier ehrerbietig dienenden, sanft-neugierigen Wildvolkes hin.

Hüssen war Jäger bis in die Nerven, ein sicherer Schütze, Büffeljäger, Löwenjäger, fanatischer Sammler von Jagdtrophäen. An diesem Morgen aber empfand er sich wie eine Monstranz, wie ein Götterbild, durch eine volkreiche Stadt andachtvoll Gläubiger getragen. Und der Gedanke auch nur: den Karabiner, der quer vor ihm im Sattel lag, zu ergreifen, zu entsichern, den Finger krumm zu machen – er hätte ja, ohne anzulegen, nicht einen Blattschuß fehlen können! – dieser schreckliche Gedanke kam ihm nicht. Selbst dann nicht, als er im Schatten dornigen Gestrüppes, am Fuße eines Felshügels kleine Katzen mit sonnegebadeten Augen sah, sich liebkosen, balgen, niederwerfen und einander im Grase wälzen. Schwarzpelzige Kätzchen von holdester Lebendigkeit, Pantherjunge, deren Mutter auf Jagd war, die den glückhaften Morgen ihres Lebens wie ein großes Fest der Unschuld zu feiern wußten. Auch an ihnen durfte kein Mord geschehen! Zwischen Panther und Antilope ging der Bluthandel, ging das Fliehen und Jagen, hatte der Fluch dieser 133 Schöpfung selbst hier, selbst an diesem Frühtag voll Weihe, seine Kraft nicht verloren. Er aber, der Mensch, der selbst im Kampfe stand, fressen mußte, um nicht Fraß zu werden, der – vielleicht heute noch! – sicher morgen Menschen, weiße und schwarze Menschen, morden mußte, um nicht von ihren Tatzen gewürgt zu werden – er hatte hier und heute kein Teil zu nehmen an Qual und Wut und Gier. Er war Kampfmensch, Kriegsknecht auf Urlaub, ein feiertäglich entwaffneter Held, trug den Frieden dieser Nacht, das Sonnenlicht dieses Tages in entgiftetem Herzen, und seine Hände wollten Frieden streun. Der Tote, der im letzten Dunkel dieser Nacht Abschied von ihm genommen, die sanfte Frau, die traurig an ihn dachte, Gesichte einer Kindheit ohne Not, von Liebe umgeben – alles wurde eins mit den zärtlich äugenden Pilgern an seinem Pfade, dem Atem der Steppe, der ihm in dieser Nacht unbewußt weinende Augen gekühlt hatte.

Lisa war die Frau eines anderen Mannes, dem sie Kinder geboren hatte, Beatrice und Kandy, zwei kleine Mädchen, die wie Gnu-Kälber oder junge Katzen im Grase spielten. Sonnedurchglüht, nährten sie sich mitten im Staunen über das Neue, das jeder Tag gab, mit Ernst und Freudigkeit. Die hatte sie an ihrer Brust gesäugt, sie hatten im Schoß der Mutter noch heut ihre letzte, sicherste Heimstatt. Kinder, die mit den eben erst gewordenen, runden Schnauzen zärtlicher Tiere stumpfe, weiche Küsse gaben.

Lisa war Mutter dieses lieblichen Wildes, hatte es empfangen, getragen, genährt, lang eh' er sie, 134 eh' sie ihn kannte. Sie gehörte einem andern, der sie verteidigen würde, der schwächer, bedürftiger und berechtigter war als er. – Aber was tat das alles! Durfte er nicht Sehnsucht haben und wissen, daß er ersehnt war? Durfte er sich nicht an diesem Morgen, der wie der reinsten Schöpfung erster Tag voll war vom Atem eines guten Gottes, erinnern, daß sie ihn geküßt hatte? Daß alles zwischen diesem Kuß und dieser Stunde des Wiedererlebens dummes, gleichgültig leeres Vegetieren war?

Onkel »A. K« war hinübergegangen. Zwischen seinen Büchern und Bildern, all seinem ererbten Biedermeiergerät, aus seiner Arbeit heraus war er gestorben! Onkel »A. K.« war tot – die erste Stunde seit langem, in der Kurt Hüssens Seele sich selbst vernehmen durfte, war diesem Abschied geweiht. Er war gar nicht traurig, daß dieser Freund nicht mehr lebte. Er atmete nur nicht mehr unter den guten Leutchen in Europa, unter den Büchern, den Sträuchern seines Gartens, saß nicht mehr an seinem Schreibtisch, zechte nicht mehr, der wackere Hagestolz, von seinem roten Wein, den er geliebt. Aber weit fort war er nicht.

Denn er selbst – Kurt Hüssen – lebte er? Lebte, wer – wie auf einem fremden Stern – geschieden von seiner Jugend, seiner Heimat, sich selbst, ein lächerliches Handwerk trieb, bei Tag und Nacht sich selbst nicht mehr gehörte?

Früher – da hatte bisweilen die Post, die schwitzend und nackt ein schwarzer Kerl vom Tanganjika- zum Kiwu-See brachte, das Bewußtsein, daß man selbst war, hergestellt. Ein Paket Briefe, ein 135 Bündel Zeitungen, eine Last europäischer Gaben hatte von Monat zu Monat der Dampfer an die Küste gebracht, vom Dampfschiff zur Bahn, von der See zum See, über Land, über schwitzende Schädel und nackte Buckel, auf langer, wunderlicher Fahrt, hatte Monat um Monat Europa ihn erreicht.

Das war seit mehr als Jahresfrist vorüber. Man war einmal Kind gewesen und hatte eine Mutter gehabt, Geschwister, eine Jugend voll lieber Gestalten. War Mann geworden, ein frecher, kaltschnäuzig frivoler Kerl, so manches Mal vielleicht mehr Bub als Mann – hatte sentimental und heiß und dann lasziv geliebt, Unheil in Menge angerichtet, war in die eigenen Schlingen getreten. Die Pistole in der Hand – oder das Champagnerglas, im Taumel herrschsüchtiger Jugend oder in hilfloser Not – wann war er's selbst gewesen? . . . War er der Beter am Kiwu-See oder der Würger in der großen Schlacht bei Tanga, im Gemetzel, als sein Maschinengewehr in die armen, vorwärts gepeitschten Hindus mähte – wer war er heute, wo blieb man selbst zwischen einer Station des Lebens und der nächsten? Der Tod war kein so überraschend weiter Schritt, nichts Endgültigeres vom Abschied als zehn andere Abschiede, die eine Jugend brachte!

* * *

Als die Steppe in Mittagsglut schwelte, kam Hüssen zum Urwaldrand. Der letzte Hang war steil, über moosige Felsplatten und glitschiges Schilf rieselte Bergwasser, das die Sonne jetzt eben erst, sechstausend Meter hoch droben, aus den 136 Schneefeldern des Kibo gebraut hatte. Frostkalt brach es aus Urwalddickichten hervor, sickerte durch glühheiß beschienenes Geröll – und erreichte kein Ziel. Die Sonne, die es geweckt, verzehrte es auch, Tropfen um Tropfen, küßte und fraß die Feuchtigkeit der Erde weg, ehe das Wiesenland im Tal nur einen Hauch der Frische gekostet hatte.

Kein Haar an Suse, das nicht von Schweiß dampfte, kein trockener Faden an Hüssens Leib. Sie kamen wie aus Dampf gezogen – als der Wald sich auftat, der jungfräuliche Wald, hochstämmig, feierlich, ein endlos weit gestreckter Dom. Gigantische Bäume stießen mit Kronen und Aesten ineinander, umschlangen sich mit den gierigen Armen mannsdicker, laubumrieselter Lianen, waren gehüllt von der Wurzel bis zum Haupt in einen dichten Mantel kletternder Schmarotzerpflanzen. Ganz kleine, blaue Sonnenflecken spielten durch diese vielfache Wölbung um Blatt und Blättchen, flatterten über den Moosboden hin wie das Licht geweihter Kerzen, wenn ein Windhauch die Kronen streichelte. Hier konnte man beten, in diesem Rauschen, das wie der Sang einer ganz fernen Orgel klang, in dieser erhabenen Kühle, die sich neben der glutenden Steppe auftat, – in diesem Edelstein-Grün, das Dom an Dom, Grotte an Grotte leuchtend umschloß.

Als Hüssen sein Tier in diese Hallen zog, herrschte solche Stille, daß beide zusammenschraken, wenn unter ihren Füßen ein Ast brach. Bis des Urwalds abertausend lauernde Augen sich an den frechen Eindringlingen satt gesehen . . . Dann war hier plötzlich kein Dom mehr, in dessen letztem, verborgenen 137 Schiff, tief abgedämpft, ein einsamer Mönch die Orgel rauschen ließ. Welch ein Gesindel herbergte dieser Riesenbau in smaragdenen Wänden!

»Lumpenpack! Einbrecher! Friedenstörer!« schimpfte es aus den Wipfeln, den Zweigen und Büschen. Fruchtknollen und dürres Holz prasselten Roß wie Reiter um die Ohren, von fauchender Wut geschüttelt, bebten Krone und Pilaster der heiligen Baumsäulen. Es war ein anderes Volk, das hier hauste, dies kampflustige Bergvolk, als die friedvoll neugierigen Dörfler der Steppe. Hundsaffen mit furchtbar gefletschten Zähnen, die durchs Blättergrün blitzten, ganz zart gefärbte, duftige Kolobusäffchen, die es den bellenden, zornentbrannten Großaffen gleichtun wollten, Papageien mit grell schnarrenden Stimmen und von phantastischer Unverschämtheit.

»Raus hier, raus hier!« brüllten und kreischten die Gebirgler.

Dann hatte Hüssen die ganz verschüchterte Suse von Sattel und Trense befreit, rieb mit großen Lianenblättern ihren dampfenden Rücken, halfterte sie an.

»Was tut dies fremde Beest?« keifte der Urwald. – Drunten in der Steppe war er ein Gott der Tiere gewesen! Nur minutenlang hatte rasende Neugier die Stimmen aller zum Schweigen gebracht.

Nun prasselte aus rasch gegriffenem Holz ein Feuer, verpestete Rauch den Urwaldduft, mischte ekler Dampf aus einer kleinen Pfeife sich mit dem Qualm des feuchten Holzes. Da kreischte eine alte Hundsäffin: »Er will uns vergiften . . .!« Es trabte über 138 den Moosboden, schwirrte und huschte durch alle Aeste, turnte, tobte durch das Blattgewölbe – Flucht! Flucht! Was klettern und krabbeln, rennen und fliegen konnte, machte sich fort, floh weit aus Qualm und Feuerschein.

Als Reisig und Tabak verkohlt waren, kein fremder Laut mehr die Stille zerriß, kam wieder hundertfüßig herangehuscht und getrippelt, was hier wohnte und Hausherrnrechte besaß. Man hatte wenig Grund mehr zur Beschwerde: der vierbeinige Eindringling hielt den Kopf gesenkt: wenn er nicht mit den Ohren zuckte, war er bewegungslos wie ein morscher Stamm. Das zweibeinige Beest lag auf dem Rücken, rührte gar kein Glied und atmete tief. Im Grunde genommen hatte man sich unnütz erregt: die beiden taten kein Unheil, das Geschrei von Gift und Mord erwies sich als dumme Uebertreibung. – Sie waren als harmloser Besuch anzusprechen, wohl wert, stundenlang und mit höchster Aufmerksamkeit beäugt zu werden. Wenn man ein Stück Holz, ja nur ein Blatt oder ein Klexlein feuchter Losung auf sie fallen ließ, quittierten beide mit verschlafenen Gesten des Unwillens. Sonst war einfach nichts über sie zu sagen, so nahe man kam, so scharf man spähte und horchte.

Nur ein alter, sehr erfahrener Elefantenbulle, der seine Familie und Freundschaft eigentlich hier längs führen wollte – einen Weg, den er fast täglich zu dieser Stunde ging –, änderte die Richtung, als man ihm von den Fremdlingen erzählte. Er blieb ganz bedächtig, ohne Spur von Nervosität, brummte nur etwas wie »besser ist besser«. Aber da 139 man seine Klugheit schätzte, gab das Verhalten doch Anlaß zum Nachdenken. Als die Gäste – »Eindringlinge« war vielleicht doch ein übertriebener Ausdruck, der sich auf die Dauer nicht rechtfertigen ließ – mit abnehmender Sonne stillfröhlich die Gegend räumten und, wieder am Waldrand hin, welteinwärts zogen, löste sich trotz allem eine leichte Beklemmung in den abertausend Affen-, Papageien-, Erdferkel-, Eidechsen- und Mauseherzen.

* * *

Wo konnte der Posten Eukissai verkrochen liegen? Nirgends war eine Fährte, nirgends stieg Rauch auf, deutete ein Laut auf das Dasein von Kriegsvolk, von Bewaffneten und ihrem Troß, Dienern, Trägern und Reittieren. Kein Wunder, daß der Eukissai von Heldentaten nie berichtete – nur einen Büchsenschuß weit konnte er hier abliegen und war doch unauffindbar. Hüssen hatte an diesem Abend Lust auf eine »Kitanda«, das afrikanische Feldbett, auf eine Wachtfeuer-Unterhaltung, ein Mahl, das nicht er selbst, sondern ein geübter Negerkoch bereitet. Er fühlte vor allem die Pflicht, durch Vermittlung des Leiters der Telegraphenzentrale »Säufer-Genesungsheim«, des abstinenten Herrn Pfisch, mit seiner Kompagnie in Verbindung zu treten. Seit bald vierundzwanzig Stunden lebte er so tief und gründlich mit sich selbst, seiner Suse, den Tieren und Bäumen und Gräsern der Wildnis, daß er gern irgendwie ausgesprochen hätte, welcher Art Erlebnis das alles war.

Oder belog er sich? Glaubte – oder wußte er, 140 daß die Azetylenlampe mit Strichen und Punkten einen Brief an ihn geben würde, sobald er sich meldete – ihn vielleicht schon gegeben hatte, daß wahrscheinlich ein langes, wichtiges, unendlich belangreiches Telegramm auf ihn wartete . . . Seit er Mikatera verlassen, war zwischen ihm und Isonskys kein Gruß gewechselt worden. Was würde gerade Frau Lisa ihm mitzuteilen haben? Sie konnte, nach Konvenienz und Lage, selbst dann nicht an ihn schreiben, wenn sie wirklich . . . Und trotzdem! Auf dem Eukissai lag ein Brief, ein Telegramm, irgendein Ruf von Lisa für ihn! Seit dem ersten Morgenlicht saß ihm dieser Gedanke im Nacken, wie mit Krallen verhakt, ließ ihn nicht los! Trotzdem schwand das Licht, ging der Tag hinüber in die Nacht – er fand und fand den Tisch nicht, diesen aus Aesten und einem Kistendeckel gezimmerten Altar von Tisch, auf dem sein Heiligtum, sein Brief lag.

Dann: es nickten zwei Köpfe gegen den Wolkenhimmel voll Abendglut! Zwei Gestalten standen als Silhouette im Purpurrot, begegneten, trennten sich, trafen einander wieder . . . endlich! Der Eukissai hatte einen Doppelposten ausgestellt, gleich würde er den Ruf hören: »Wer bist du?« Er würde die Parole brüllen – zwei Neger rissen die Knochen zusammen: »Jambo, großer Herr!« – Und zwanzig Schritt in ihrem Rücken lag ein Grashaus mit gelbleuchtenden Fenstern . . .

Es fragte niemand: »Wer bist du?«, so eifrig die beiden Köpfe nach ihm spähten. Ob das Lumpenpack seinen Dienst nicht verstand? Da mußte 141 er hineinfahren! Oder hielten sie ihn für einen Feind? Wollten ihn, ohne Anruf, abknallen, sobald er auf Schußweite herankam? Aber schließlich – auf einen einzelnen Mann schoß doch kein noch so furchtsamer Soldat. Ohne Anruf! Auf dem Eukissai waren nur alte Askari, die viele Jahre Dienst und ein gutes Jahr Krieg hinter sich hatten.

Auf Steinwurfweite ließ der Doppelposten Hüssen herankommen – dann verwandelte er sich vor seinem drohenden Griff nach dem Karabiner in zwei Giraffen, die lässig einhundert Meter weit zuckelten, stehen blieben, ihre langen Hälse, neugierigen Nasen, Stehohren und lächerlichen Schneider-Physiognomien wieder nach ihm wandten.

Das Purpurrot, von dem ihr Profil sich düster zeichnete, verblaßte rasch, verschmolz in duftiges Karmoisin, zog gelb-tintige Ränder, ward von goldgrünen Schlangenlinien durchrieselt. Minutenlang war der Himmel ein tolles Abenteuer: Schneehügel, Gletscherfelder, über denen die Sonne lag, gleißend weiß und blumig rot! – Dann vergingen Schnee und Licht im Farbentrubel schmelzender Metalle – es kam das Grau, dann schnell die Nacht, rauh, wie vor wenig Stunden der Morgen gekommen war.

Hüssen hatte Pfähle und ein zerfetztes Drahtgitter passiert, war auf dem Farmgebiet des Eukissai. Vielleicht lag die Besatzung im Farmhaus? Mindestens ein Posten würde dort stehn? Jetzt gab er Suse den Kopf frei – sie mußte sich durchs Dunkel finden.

In der letzten Nacht war sie keck und sicher 142 gegangen. Heut zuckte sie bei jedem Laut, jedem Rascheln, warf den Kopf und setzte zur Flucht an wie vor Löwenwitterung. Häufig knickte sie in den Vorderbeinen, stolperte, kam zitternd wieder auf – Aber sie fand das Farmhaus, als ein blauer, schmaler Mond am Himmel erschien.

Hier war kein Lager, stand kein Posten. Hüssen umschlich das Haus, tastete sich, Suse am Zügel, einem schmalen Eingang zu – da war eine zerbrochene Tür, davor Spuren eines Feuers. Vor höchstens vierundzwanzig Stunden hatte man hier gekocht, genächtigt – unter der Asche lag ein Rest bläßlicher Glut.

Er durchschritt die zertrümmerte Pforte, Suse bockte und fürchtete sich. Aber drinnen – sein Streichholz beleuchtete sekundenlang einen Raum mit kahlen Lehmmauern, nacktem Boden – lagen Maisreste, abgenagte Kolben, zerstreute Körner. Als das Streichholz ausgegangen, kniete Hüssen nieder, ließ eine Handvoll Körner durch seine Hand gleiten und klappernd auf den Boden fallen. Da gab Suse einen Freudenlaut und zwängte sich durch den schmalen Eingang. Gleich darauf lagen Sattel und Bügel in einer Ecke, hatte sich Hüssen den feuchten Woilach zum Lager gebreitet. Schon schroteten Suses Zähne die trockenen Körner, strahlte des Reiters Zigarette einen kleinen, freundlichen Lichthof. Nun konnte die Nacht beginnen.

Es wurde keine Nacht wie die im Duft der freien Steppe. War dies einsame Haus behext, hatte Beelzebub hier sein Quartier? Hüssen fand die Ruhe nicht, ein kleines Mahl zu halten, das seine 143 Vorräte noch ergeben hätten. Ein Rest Tee aus der Zweiliterflasche, eine Kante vertrockneten Brotes – er fand kein Behagen, hatte noch das schreckhafte Zucken des Maultiers während der letzten halben Reitstunde in den Nerven. Seltsam krachte es im Gebälk, knisterte und huschte feindselig unter dem Boden, durch Ecken und Wände hin. Trotzalledem schlief er endlich – nein, fiel er wider Willen in kurzen, peinvollen Schlaf voll wüster Gesichte, aus dem er plötzlich auffuhr. Drei-, viermal wiederholte sich dies Absinken in Schlummer und Emporzucken in Nervenangst, dann gab er den Kampf auf, lehnte sich an die Wand, horchte und starrte ins Düster. Auch Suse wachte! Hüssens Augen waren jetzt geschärft, das Mondviertel schwelte in diesen Raum, der so etwas wie ein Gefängnis oder eine Totenkammer darstellte. Suse stand, fraß nicht mehr, hatte die Ohren gespitzt und weit offene Lichter!

Als Hüssen die Schritte vernahm – einen Gang, dem man es anhörte, daß er zielfest war, nicht von Verwirrten oder ängstlich Suchenden kam –, rutschte er geräuschlos zu seinem Tier. Ob Feind oder Freund – ein Laut, der ihn verriet, mußte Verhängnis werden. In schwarzer Nacht, vor dem Bollwerk des Farmhauses, so recht in der eigentlichen Kampfzone drin – würde kein Soldat nach Partei und Person fragen. Da schoß man erst und fragte dann – griff an und tötete aus reinster Furcht.

Wenn er zum Ausgang tastete, ins Freie schlich? Aber ehe noch die Schwelle überschritten war, konnte Suse trompeten: es genügte vielleicht zum 144 Alarm, wenn sie einen Huf gegen die Mauer schlug. Dann stopfte man ihn mit Blei, ehe er die Schultern aus diesem Käfig gedrängt hatte.

Und Hüssen wollte nicht, wollte in dieser Nacht nicht abgewürgt werden! Seit zwanzig Stunden hakte er am Leben, erwartete etwas, war einem Zweck untertan! Bisher: bei Tag oder Nacht in den Kampf, heisuru! Im Dunkel angekratzt und abgetan, sei's denn. Wie oft hatte er dem Tod so gegenübergestanden, zum Salutieren nah, aus den Abstand zweier ganz Vertrauter. Bisher hatte er jedesmal gleichgültig und herablassend, aus der Seele heraus wurschtig, die Möglichkeit ganz nahen Endes hingenommen. Hatte Dienst getan, kommandiert, gezielt und geschossen, alles automatisch, auswendig gelernt, ganz ohne Sensation.

Diesmal kniete er vor seiner Suse, hatte ihre Schnauze in mächtigem Griff, der es dem Tier unmöglich machte, zu verraten. Diese Hand aber zitterte, der ganze, kleine Kerl zitterte, und durch sein Khaki drang der Schweiß.

Die Schritte kamen näher, er hörte Bruchstücke eines englischen Soldatengesprächs:

»Blutig dumme Nacht heut . . . Kein blutiger Nigger weit und breit . . . Elender Dienst.«

»Häng den Dienst!«

»Zur blutigen Hölle der Krieg! Statt beim Mädel zu liegen, da übern Aequator schleichen . . .«

Daneben Hüssen: »Ich will, ich will nicht! Gefangen? – lieber tot! Aber ich will heut nicht – tot sein!«

»Schlechter Mond heut!« 145

»Häng den Mond!«

Damit verzog sich, spuckend und fluchend, der Feind.

* * *

Wenn man nach ein paar Stunden voll elender Todesangst – denn selbst unter Helden leugnen nur Dummköpfe, daß sie Furcht kennen –, wenn man in Schweiß und Zittern gewacht, aber, endlich beruhigt, dennoch Schlaf gefunden hat, das ist ein Schlaf, wie ihn alles gute Gewissen nicht gibt. Und wenn nach solchem Schlaf die Sonne aufgeht, in eine kahlelende Ratzenfalle wie Hüssens Versteck dringt, braungrüne Steppe bronzen färbt und köstlich durch die Glieder rinnt, wenn bei Vogelschlag ein altes treues Beest wie Hüssens Suse backfischjung wird, das ist Erwachen!

Hüssen und seine Alte traten in den Tag hinaus wie in ein Bad für geschundene Nerven. Ihr schmeckte das tauige Gras, Licht und Steppe mischten Gold in Gold. Wie waren alle Dinge simpel, die nachts so unentwirrbar schienen!

Da war ja unverkennbar der Weg zum Eukissaiposten! Kletterte als schmale Reitspur den Hang hinauf, zu vielen Malen von Reitern begangen. Gute, zuverlässige Pferde hatten ihre Spuren eingedrückt, in bequemen Abständen Pferdeäpfel als Wegweiser niedergelegt. Diesen Spuren und Weisern ritt man nach, dann erreichte man bald ein Menschennest, in den Urwald gerodet. Saß mit weißen Wirten am grasgeflochtenen Tisch, hörte seine Vierbeiner malmen und sah in die ehrenwerten, 146 plattnasigen Bantu-Visagen einer schwarzen Hausgenossenschaft.

Heißen, schwarzen Kaffee würde man trinken, denn man lebte ja noch! Antilopenfilet oder Giraffen-Niere kam auf den Tisch, vielleicht Straußen-Omelette. Oder man würde trocknes, schwarzes Brot mit langen Backzähnen schroten. Auch das in der himmlischen Ueberzeugung: lebendig!

Hüssen mußte seine Alte wie eine Karre Dung hinter sich herziehn. Sie hätte zu gern schon hier unter Gräsern und Blumen andächtig ihren Morgen verbracht, wies ihm mit schiefem Kopf und bockigen Lichtern den buntgrünen Geburtstagsstrauß in ihrem Maul. Sie hatte auch ihre Nacht voll ehrlicher Angst hinter sich, den Busen voll Sehnsucht nach ein wenig heiterer Ruhe. Drunten aber, traumhafter, je höher der Pfad ging, goldete das Weideland des Eukissai, Heimat und Tafel für dreißigtausend Stück Kühe, sanfte Zebu-Stiere, Fettschwanzlämmer, Schafe und Fohlen. Wo sie stehen sollten, ästen Kongoni-Rudel, die weißen Spiegel blitzten wie Gefieder. Aesten Gnu-Sippen, jedes in seiner Massigkeit ein einziger kohlschwarzer Klecks in dieser goldenen Schöpfung. Reiher und Strauße taten ihren Wachdienst, eine Zebra-Abteilung marschierte lässig zur Tränke, der Giraffen-Doppelposten vom Abend zuvor war auf seiner Wacht. Dies alles hatte dem leberkranken weiland Lehmann gehört: mit allem drum und drauf, mit einer immer wachsenden Zebuherde, Hennen und Hunden und schaumigem Wasser sein Eigentum und Werk! Kein Wunder, daß dem beim Adieusagen eine Ader zersprungen oder eine morsche Niere 147 geplatzt war! Kein Wunder, daß Witwe Lehmann nun erklärte: dieser ganze Krieg ist eine Verschwörung gegen uns; der Krieg an sich hat meinen Mann getötet, sechsstellig begehr ich Entschädigung!

Schon war das Haus, in dem Hüssen genächtigt, klein wie ein Felsstück. Dort hatten Lehmann und Frau so zufrieden gelebt! In der Regenzeit ihre fünf gebundenen Jahrgänge »Fliegende Blätter« vor der Nase, in beiden Köpfen nur ein Gedanke: draußen rauscht es wie Brandung und Flut! Die Wolke tut ihre Pflicht, gibt dem Vieh seine Weide und uns ein sorgloses Alter.

Brannte die Sonne wirklich einmal durch Schindeln und Schädel, dann hatten sie die Seildroschke beordert. Eine breite Gurte im Rücken, ließen sie sich von einem Ochsen oder ein paar Niggern behaglich den Hang hinaufschleppen, droben im Urwaldschatten ihre Glieder langzustrecken. Im Dom des Urwalds, den Hüssen und Suse nun tropfnaß erreichten.

Hier mußte der Posten sein. Ganz plötzlich, wie erwartet, kam aus Blättern und Gerank ein rauher Anruf: »Wer bist du!«

»Zahn des Propheten,« mußte Hüssen sagen, dann erwarteten ihn Schatten, Freundschaft und Labe, dann hatte er den Brief erreicht, um den es so lange schon ging.

Ein Fußpfad war messerscharf in die Wildnis aus Stämmen und Lianen hineingeschnitten, so kunstvoll maskiert, daß selbst ein alter Afrikaner den Eingang zum Postenlager, trotz all der Spuren, nicht gefunden hätte. Der Askari schrie seine 148 Meldung, ein heller Ruf gab sie weiter, ein Befehl klang verschleiert nach: näher der Fremde!

Dann kam ellenlang, herzlich und sächselnd, ein europäischer Graubart den Pfad hinab, zeigte beim Lachen vier quittengelbe, vereinsamte Stockzähne und tat kein bißchen dienstlich untergeben.

»Nun, da sind Sie endlich, Herr Hauptmann!«

Eigentlich konnte es Hüssen nicht vertragen, wenn im Urwald gesächselt wurde, aber diesmal freute ihn die gute Stimme: »Wir wollten schon suchen gehn! Aber dann haben wir gedacht, es wird wohl auch so gehn, und dann ist es auch so gegangen.«

Nur ein paar hundert Meter weit zog sich vom Posteneingang zum Lager der schmale Fußsteig. Aber während dieses kurzen Wegs erfuhr Hüssen so viel aus Vergangenheit und Gegenwart, von den Meinungen und Taten des hochstämmigen Dresdners vom Eukissai, daß er selbst nicht Zeit fand, eine Frage zu stellen, ein Ja oder Nein zu sagen. Es war, als wollte Herr Pirnstiel die Notwendigkeit seiner Existenz in Krieg und Frieden nicht nur für diesen Posten, nein für ganz Afrika, ja vielleicht für die ganze Menschheit, in einem großen Zuge dartun.

»Hier oben kam es mir darauf an, ein militärisches Musterinstitut zu schaffen, ein Modell gewissermaßen für die ganze Truppe, für diesen wie für kommende Kriege. Sie werden sich rasch genug überzeugen, mein verehrtester Herr – – –«

Sechzehnjährig nach Kapstadt verschlagen, hatte der Tapfere sein ganzes Leben in Afrika verbracht, kannte den Weltteil in seinen letzten Verstecken, in den schwärzesten Geheimnissen seiner Bewohner. 149

»Einen Kenner der Eingeborenen-Psyche wie mich treffen Sie nicht wieder zwischen Kap und Mittelmeer . . .«

Er hatte den Burenkrieg mitgemacht, war unter dem »Läw'n Gronje« Kommandant irgendeiner Abteilung geworden. Die Schutztruppe hatte ihn auf diese Qualifikation hin als Offizier ohne bestimmten Rang eingestellt, wenigstens behauptete er es und nannte sich schlicht: Kommandant.

»Kommandant Pirnstiel, den kennen Weiße und Schwarze, den kenn'se bei uns und drüben!« Dabei wies er, drohendes Geheimnis in den Mienen, dorthin, wo die Engländer saßen, und sprach ein paar Sekunden lang im Flüsterton: »Fünftausend Pfund haben sie drüben ausgesetzt für meine Person. Tot oder lebendig! Zwischen denen und mir ist nicht nur Krieg, zwischen uns steht Blutrache! Zuviel englisches Blut hab ich im Burenkrieg vergossen! Meine Spione haben mir alles berichtet! Aber die fünftausend Pfund werden sie nicht los, die Brüder, solang eine Patrone in meinem Magazin steckt. Das können Sie mir glauben, mein Gutester!«

»Ich würde dir vielleicht glauben, wenn du deine Person mit hartem B aussprechen könntest,« dachte Hüssen. Aber noch kam er zu keiner Entgegnung, denn je mehr er von sich erzählte, um so vertrauter fühlte Kommandant Pirnstiel sich dem Fremden. Schon hatte er seinen Arm unter den Hüssens geschoben, wechselte schon vom »Gutesten« zum »Alten Freund«, und Hüssen erwartete das erste herzliche »Du«, als der Laubengang mit scharfer Biegung in eine weite Rodung mündete. 150

Ein Städtegründer, der für sein Denkmal Modell steht, in fast erhabener Würde, wies der Kommandant mit pathetischer Geste um sich.

»Was sagen Sie nun, Alterchen?«

Jetzt hatte der sonst so redegewandte Hüssen zum ersten Mal Gelegenheit, sich zu äußern, ja Pirnstiel war sichtbar gestimmt, ein einziges Mal Zuhörer zu sein. Noch einmal gab er das Stichwort:

»Das ist mein Werk, haben Sie Töne?«

Tatsächlich verschlug eine Art Verzücken Hüssen die Rede. Da lag ein ganzes Dorf, so blank, so bunt und sauber, wie er kaum im friedlichsten Inneren Afrikas je eines gesehen. Rings um einen riesigen Honigbaum, der sorgsam ausgebaut, mit tiefhängenden Zweigen, Luftwurzeln und Lianenwänden eine phantastisch kostbare Laube darstellte, war grüngoldener, englischer Luxusrasen gesät, Blumenbeete darin, ein paar prangende Gemüsekulturen.

An der Peripherie dieses Gartens, an den Urwald wie gegen eine Mauer gelehnt, standen Häuser und Häuschen, jedes ein Musterwerk afrikanischer Gras-Architektur. Kein anderes Material war verwendet als junge Baumstämme, Lianen, Steppengras und ein wenig Wellblech. Aus gleichem Material und in fast gleichem Stil hatte man Menschenbehausungen in allen Lagern der weiten afrikanischen Front errichtet. Hier aber war alles neu und anders! Haus und Hütte fügten sich zum Wald, zum Garten in so harmonischen Formen, so sorgsam hatte man gemessen, so rein waren die Proportionen, daß etwas wie eine verzauberte 151 Stadt, wie die Vision eines afrikanischen Märchendichters entstanden.

Gegenüber dem Einschnitt des Pfades, den ein Naturtor, eine Art Triumphbogen aus Urwald und Ranken abschloß, von der Fahne überweht, ein Prachtbau: die Villa des Kommandanten, hochgiebelig und luftig. Vor seiner ganzen Front zog sich eine Veranda mit gotischen Fensterbogen. Rote Kattungardinen schmückten die Fenster zwischen dem eigentlichen Haus und diesem Vorbau, die Tür deckte eine fröhlich helle Draperie. Zwei Diener in wirklich weißen Kanzus, auf die jede Hausfrau stolz gewiesen hätte, standen grüßend bereit. Rechts und links der Kommando-Villa lagen Küche und Boyhäuser. Dann kamen Askarihütten, ein Schuppen für Gerät und Proviant. In den Scheitelpunkten der elliptischen Rodung waren zwei andere europäische Villen errichtet, beide sichtbar um eine Schattierung bescheidener, um ein paar Meter Front schmäler als der Palast, über dem die Fahne flatterte. Beide aber noch stattlicher und reicher in der Ausstattung, viel sorgfältiger gefügt als irgendeine Grasbude im Lager der Truppen: das Heim des Unteroffiziers und das Rasthaus für weiße Gäste. Die verlassene Farm, in der Hüssen die letzte Nacht durchlebt, hatte gewiß an Wellblech, Decken und Tuchfetzen, Handwerkszeug und Mobiliar reiche Beute für den kundigen Erbauer dieses Walddorfs ergeben. Aber ganz zweifellos war hier ein eminent künstlerischer, das Material beherrschender und pedantisch-eifriger Architekt am Werk gewesen.

»Haben Sie Worte, Alterchen?« erkundigte sich 152 Pirnstiel zum zweiten Male, und Hüssen fand endlich Atem:

»Der Springbrunnen! In einem anständigen Urwaldlager kann man doch schließlich einen Springbrunnen erwarten!« Er fuhr auf den Alten los: »Eine Fontäne mit tanzenden Glaskugeln kann ich doch wohl verlangen!«

Der Kommandant lachte, daß seine vier Backzähne braungelb paradierten, befreit und kindlich, denn er hatte bisher in einem Atem und bis zur Höchstleistung seiner Phantasie aufgeschnitten. Jetzt freute er sich selbst der Entspannung. »Immer gemütlich,« bat er, »wenn Sie übers Jahr wiederkommen, bis dahin ist die ganze Einrichtung so einigermaßen auf der Höhe von dem, was ich erwarte. Blaue Wunder sollen Sie noch erleben! Blaue, aber trotzdem solide Wunder. Pirnstiel baut keine Potemkinschen Dörfer.«

Es war kein Telegramm für Hüssen gekommen.

Im Wohnzimmer des Kommandanten – denn seine Villa enthielt außer der Veranda, die als Speise- und Siesta-Raum diente, ein Wohnzimmer, Schlafzimmer und Kommandantur, in der das tägliche Heliogramm zur Säufer-Heilanstalt verfaßt wurde – hing die große Eisenbahnfahrkarte des Deutschen Reichs-Kursbuches, auf Kistenholz geklebt, als wichtigster Schmuck an der Wand, daneben eine Karte von Deutsch-Ostafrika; sonst waren da nur ein paar Amateur-Aufnahmen afrikanischer Schönheiten, über das Landesübliche hinaus trachtenlos, und ein altes Gruppenbild der sächsischen Königsfamilie. Auf dem »Arbeitstisch« lagen Kursbücher gestapelt. 153

Als die beiden an einer richtig gehobelten, wirklich weiß gedeckten Tischplatte saßen, als der ganz Afrika versächselnde Ur-Afrikaner voll Herzlichkeit seinen Gast mit Steppen- und Urwalddelikatessen, Zebra-Bouillon, Perlhuhn-Brust, Antilopen-Filet traktierte, fragte Hüssen nach dem seltsamen Wandschmuck der Kommandantur.

»Ich bin Verkehrsreformer,« erklärte Kommandant Pirnstiel, »Sie wissen – ich wenigstens zweifle nicht daran, daß Sie es aus eigenem Erleben wissen –, irgend etwas Höheres muß der Mensch nu mal haben! Was ich auch im Laufe von fünfzig Jahren hier draußen im Affenland getrieben hab' – Goldgräberei und Viehhandel, Leute-Anwerber bin ich gewesen, Jagdführer, königliche Prinzen habe ich zum Schuß an den Löwen gebracht, gepflanzt und gefarmt hab' ich –, mein Ideal hab' ich immer hochgehalten! Und Verkehrsreform ist ein so hohes Ideal, wie irgendeins, mit dem die sogenannten Gottbegnadeten ihre Zeit totschlagen!« Er wies mit dem Finger feindselig und verächtlich in irgendeine Richtung des Lagers, als hockte dort, aufgeblasen, ein Gottbegnadeter, den er nur aus Mitleid duldete.

»Seit vielen Jahren, ich glaube seit 1908 etwa, hab' ich es mir zur Aufgabe gemacht, die Schnellzugsverbindung zwischen dem nördlichsten und dem südlichsten Eisenbahnpunkt von Europa um zwei Stunden zu verbessern. Der Lappland-Expreß fuhr früher um 7.36 in Narvik ab, war am zweiten Tage abends um 11.17 in Stockholm, und erst dreißig Minuten später konnte man Anschluß nach 154 Helsingborg bekommen. Da waren zunächst schon dreißig Minuten verloren . . .« Er war aufgesprungen, packte den kleinen Hüssen leidenschaftlich am Arm, zerrte ihn in die Kommandantur, vor die große Eisenbahnkarte. –

»Hier seh'n Sie! Hier fehlt einfach ein Verbindungsglied. Lumpige sieben Kilometer, aber mit sofortigem Anschluß und D‑Zug-Maschine! Und dann haben wir wieder in Niederschlesien vor einer ganz erbärmlichen kleinen Station einen Zeitverlust von einundzwanzig Minuten, schon in Konstantinopel sind unwiederbringlich fünfzig Minuten verloren gegangen! . . . Aber so oft ich eine Lösung gefunden hatte oder wenigstens der Lösung ganz nahe war, brachte das neue Reichs-Kursbuch irgendeine kleine Verschiebung, und ich mußte von neuem an die Arbeit.«

Hüssen sah erst jetzt, daß der Alte eine sehr rote Nase hatte, mit seinen buschigen Brauen, dem grauen Bart vielmehr einem langgewachsenen Urwald-Gnom als einem deutschen Kommandanten glich. Der ganze Kerl hatte etwas Verzaubertes – wie ein Anachoret stand er da, die Arme gebreitet, mit blitzenden Augen, und ließ unendliche Zahlenreihen, Hunderte und Aberhunderte von Minutenziffern in lächerlich pathetischem Tonfall aus seinem zahnlosen Mund sprudeln. In sein Sächsisch mischte sich bei jedem dritten oder vierten Wort ein Ausdruck in Kisuaheli oder englischer Sprache, sogar französische, spanische, russische Vokabeln flogen ihm mühelos zu, wenn er die Anschlußzüge von Madrid nach Pirna oder die zwischen 155 Dresden und Petersburg erörterte. Aber jedes der zahlreichen Idiome hatte er zu privatem Gebrauch in den Dialekt seiner Heimat übersetzt, die er vor mehr als vierzig Jahren verlassen und nicht wieder gesehen. Zweifellos hatte er seit Jahrzehnten kein anderes Buch gelesen, als Kursbücher der ganzen Welt. Jetzt war er ein fanatischer Prophet der kürzesten Verbindung, der wie mit Zungen sprach, einer Welt voll Unglauben seine Schnellzugs-Reform predigte. Ganz unerwartet, mitten in die feurigen Zungen hinein, die ihn umrauschten, klopfte Hüssen erst mit dem Stiefel, dann mit dem Seitengewehr auf den Fußboden der Kommandantur. Der Prophet unterbrach sich, starrte ihn an.

»Was haben Sie nur, mein Gutester! Interessieren Sie sich nicht für das Lebenswerk eines ideal gesinnten Menschen?«

»Irgendwo liegt hier ein Schatz vergraben,« behauptete Hüssen, »oder es fließt eine Wunderquelle! Echt schottischer White Star oder Red Star, vielleicht nur King George! Unser Kolonial-Whisky, Marke ›Heldentod‹ oder Marke ›Stacheldraht‹, hat diese Begeisterung nicht genährt, mein verehrlicher Gönner!«

»Donnerschlag, Sie sind helle!« Dann legte Pirnstiel die Finger an die Lippen: »Kein Tropfen, solang die Sonne am Himmel steht! Warten Sie, bis es dämmert!«

Gleich darauf klangen ein paar militärische Kommandos, Pferde scharrten, Gewehre klirrten. In die Kommandantur trat, militärisch straff, ein junger Mensch in sauberem Khaki, ein starker, 156 breitschultriger Bursche mit verdächtig sentimentalen Augen, flockigem Bart und dunklem Haar. Er stand stramm, wie man es in Afrika nicht gewöhnt war, zumindest nicht in diesem Zaubergarten, über einer Whisky-Quelle, erwarten durfte, meldete dem Kommandanten, daß er von Patrouille zurück sei, auf dem Farmgebiet des Eukissai Spuren von Reitern gefunden hätte, sonst nichts Verdächtiges. Schweiß rann ihm über Stirn und Hände, aber trotz des militärischen Halts in seinen Gliedern zitterte er in den Knien und war sichtbar in einer verzweifelt ernsten Erregung, die sich weder aus seinem Bericht, noch aus der Anstrengung des Aufstiegs erklärte.

»Mein Adjutant,« stellte Pirnstiel vor. »Herr Kriegsfreiwilliger Bergner.« Hüssen schüttelte dem sympathischen Jungen die Hand, wischte mit einem Blick und einem Wort die dienstliche Haltung beiseite.

»Lassen Sie sich nicht stören, Herr Bergner. Bei der Abendtränke seh'n wir uns!«

»Eine Bitte, Herr Oberleutnant, eine Bitte! Ich muß Herrn Oberleutnant unter vier Augen sprechen. Es ist nur für mich wichtig, es geht nur mich an . . . aber trotzdem, ich bitte darum.«

Der arme Kerl, der seine Meldung vorher auswendig gelernt hatte, jetzt aber nur noch mit Stammeln und Silbenhacken vorwärts kam, schien einem Nervenschock nahe. Er sah, wie Pirnstiel ihn zu beruhigen versuchte, merkte vielleicht, daß der alte Gnom ihm die Schulter klopfte, aber er wies all den Trost mit verzweifeltem Kopfschütteln zurück, flehte Hüssen mit nassen Hundeaugen an. 157

»Aber selbstverständlich! Solang Sie wollen! Erzählen Sie mir, was Sie drückt.«

Jetzt liefen echte Kindertränen über das beinah schwarz gebrannte Bubengesicht.

»Danke gehorsamst,« brachte er mühsam heraus. Dann riß er sich herum und stürmte formlos aus der Kommandantur.

»Da haben wir's,« erklärte Pirnstiel, »so sind die Gottbegnadeten! Das heißt, gottbegnadet, das glaubt er nur selber, ich nenn's durchgedreht. Da werden Sie was zu hören kriegen, wenn der loslegt! Seine Last hat man schon mit diesem Menschen. Noch dazu: Verkehrsreform kapiert er einfach nicht! Keine Spur von Kapé. Seit einem Jahr sitzen wir hier zusammen, aber ich glaub', er weiß heute noch nicht, wie lang' der Mittags-D‑Zug von Hamburg nach Berlin braucht. Er weiß nicht einmal, wie viel Züge wöchentlich zwischen Tanga und Moschi verkehren! Alles Traum, alles Wolkenkuckucks-Heim und Erotik . . . Auf den Knien kann der Gott für meine Geduld danken. Aber selbstverständlich, im übrigen ein kreuzbraver Bursche, anständig bis in die Fingerspitzen. Da nimmt man alles andere in Kauf.«

»Wer von Ihnen beiden hat das angelegt? Den Garten? Die Häuser?«

»Wie ich Ihnen sagte, mein Werk. Das heißt natürlich, mein Gedankenwerk! Hier!« rief Pirnstiel und schlug mit der flachen Hand auf seine Stirn, »hier ist das alles entstanden und gewachsen, das ganze Lager, die Verteidigungsstellen, die Beobachtungspunkte, die Telegraphenstation, alles, was 158 ich Ihnen noch zeigen werde! Selbstverständlich, die technische Ausführung, die manuelle Arbeit, dazu braucht man Hände!«

»Und wer reitet die Patrouillen? Wer kommandiert die Askari, sorgt für Verpflegung?«

»Soll ich als Kommandant das auch noch machen?« fragte Pirnstiel und war plötzlich ungehalten bis zur Grobheit, »mein lieber Freund, Sie vergessen zweierlei: erstens, daß ich als Kommandant wahrscheinlich Ihr militärischer Vorgesetzter bin, obwohl ich keinen Gebrauch davon mache, und zweitens . . .« Jetzt klopfte er mit dem Lineal auf den nackten Waldboden, unter dem Hüssen den schottischen Kriegsschatz vermutet hatte.

»Um Gottes willen, lassen Sie mich nicht in Ungnade fallen! Schließlich bin ich Ihr Gast, ob Vorgesetzter oder Untergebener.«

Dann schüttelten die Beiden sich die Hände.

Der Eukissai-Posten, den Hüssen nun gründlich besichtigte, war ein raffiniert angelegter Fuchsbau, der seinen Bewohnern alles Behagen einer Heimat bot und nie zu ihrer Falle werden konnte. Zufahrten und Ausschlupfe mit maskierten Eingängen, die tief in den Urwald führten, auf alte Elefantenspuren mündeten und in kilometerweiten Umwegen das Lager umzogen, ganz unkontrollierbar, wo sie die offene Steppe wieder erreichten, machten es unmöglich, daß auch ein starker Feind jemals dies Nest aushob. Rings um das Lager waren kunstvoll falsche Spuren gezogen und frisch gehalten, die den besten Fährtenleser an Zugang und Posten vorbei in irgendein Dickicht locken mußten. 159

Es war kein Wunder, daß Hüssen abends zuvor in die Irre geritten war, er hätte auch an diesem und manchem folgenden Tage ohne Anruf des Postens sein Ziel kaum gefunden. Schützenlöcher und Gräben machten einen gewaltsamen Angriff auf den Eukissai trotz seiner schwachen Bemannung zum gefährlichen Unternehmen. Doch gab Pirnstiel unverblümt zu verstehen, daß er diese Schanzwehr mehr der Vollständigkeit halber angelegt hatte. – »Es handelt sich ausschließlich darum, für kommende Generationen ein Modell von Kriegslager zu errichten, nach höchsten ästhetischen und strategischen Gesichtspunkten!« Aus dem Eukissai ein Thermopylae zu machen, lag nicht in seinen Ideen. »Das gäbe ein gräßliches Gemetzel ohne strategischen Wert,« erklärte er. »Für Blutbäder ist hier oben einfach keine Verwendung. Mir genügt es, wenn ich sagen darf: es kommt keine Maus ungesehen zwischen dem Eukissai und dem Longido vorbei! Dafür bürge ich Ihnen – Kommandant Pirnstiel, Burengeneral außer Diensten!«

Noch immer kein Telegramm! Hüssen saß jetzt selbst auf der Telegraphenstation, hoch am Waldrand, in einer dreieckigen Schneise, in deren Scheitelpunkt der Helio-Apparat stand. Mit wundervoller Genauigkeit war hier so vermessen und gerodet worden, daß die Lichtstrahlen aus geschliffenen Spiegeln unmittelbar in den Apparat der Telegraphenzentrale des Herrn Pfisch fielen, alles unnötige Seitenlicht aber sich im Schatten des Urwaldes verlor. Späher, die Tag und Nacht hier Wache hielten, ein Askari und ein junger Massai, waren so 160 postiert, daß sie auch auf zehn Schritt Abstand nicht entdeckt werden konnten. Hier, wo der Eukissai Tag und Nacht sein Auge offen hielt, durch Spiegel und Lampen sprach oder hörte, seine Verbindung mit der Welt behauptete, war der Natur ihr jungfräuliches Aussehen fast ganz erhalten, konnte kein Bild noch Laut Verräter werden.

Braungolden, wie vertuscht, an den Rändern des Horizontes bläulich verschimmernd, lag die Steppe da unten, still und grenzenlos. Silbrig umdunstete Wolkenhügel waren von hier die Bergstöcke des Longido und Erok, die beiden Grenzfesten, um deren Besitz so viel Leben versickert war. Als zarte Schatten, mit bloßem Auge kaum kenntlich, zeichneten sich von hier all' die kahlen Zuckerhut-Muckel im Pori, die jeder einzeln Feste und Ausguck waren, in ihrer Gesamtheit, mit dem Eukissai und einem Habichtsnest in den Ausläufern des Meru, eine Talsperre über den Hunderte von Meilen breiten Einmarsch, den jede feindliche Armee nehmen mußte. Kein Wesen, kaum eine Zebraherde oder ein Gnurudel war von hier oben kenntlich. Aber jedes Geschöpf, das sich in der Sohle dieses goldbraun vertuschten Steppen-Ozeans bewegte, ließ ein Fähnchen aus blauem Staub über sich flattern, und das trainierte Auge des Spähers erkannte sofort, welcher Art Geschöpf diese Fahne über sich trug, ob ein Windstoß, Wild oder Reiter die Staubschwade weckten.

Pirnstiel stellte alles vor, als hätte er selbst den Kilimandscharo erbaut, die Steppe gefärbt, ihre seltsamen optischen Gesetze erlassen. »Der richtige Mann auf dem richtigen Posten! Das ist das ganze 161 Geheimnis aller Kriegsführung,« erklärte er und deutete auf seine Brust.

Aus einem Dickicht, das es ganz verborgen, kroch jetzt plötzlich ein Negerkind, ein acht- oder neunjähriges Menschen-Beginnsel mit lebendig-klugen Augen, wies mit seinen stockdürren Aermchen ins sonnenüberschwelte Pori:

»Ein Brief, hoher Herr!«

Ueber dem Wolkenschatten des Hügels, auf dem Herr Pfisch seines vielfältigen Amtes waltete, zuckte ein weißes Flämmchen, ein winziges bengalisches Licht, zuckte auf und verlöschte in immer neuen Intervallen.

»Brief! Brief!« schrie das Negerkind, eilte mit den eckigen Fluchten eines jungen Tieres zum Heliographen. Mit leisem Knurren und asthmatischem Schnaufen löste sich dort, aus dem Tor einer Grasbude, die Hüssen erst jetzt bemerkte, ein weißbärtiger, weißhäuptiger Neger in Khaki, klapperdürr, mit lebendigen Augen wie das Junge. Im Augenblick hockte er an seinem Apparat, ließ ein paar Schrauben spielen, drehte die Spiegel, zückte seinen Bleistift. Es hatte nur Sekunden gedauert, da war das Gespräch mit der Säufer-Heilanstalt in vollem Gang, jagten sich drüben die kurzen und langen Flackerzeichen der Telegraphenzentrale Pfisch, krähte hüben das hochgelehrte Negerkind sein Diktat.

Hüssen hatte sich neben dem Alten ins Gras geworfen, die erregte Hand auf seiner Schulter, folgte, Zeichen um Zeichen, den ungefügten Lettern, die er malte.

Die Aufschrift war nicht für ihn, aber es konnte 162 ja alles noch kommen! Nichts Neues zu melden, die Lage ruhig, der Nachtbericht des Eukissai eingegangen . . . Oberleutnant Hüssen hatte sofort von seinem Eintreffen auf dem Eukissai Kenntnis zu geben. Ein paar Nachrichten aus Europa: Unterschrift des Abteilungsführers.

»Schluß?« Hüssen rüttelte die Schulter des Alten. »Ist der Brief zu Ende? Kommt nichts mehr?«

Natürlich war es Irrsinn, grad heute, grad hier einen Ruf von Lisa zu erwarten! Sie wußte nichts von dem Erlebnis seiner Einsamkeit. Sie konnte nicht wissen, daß er plötzlich zu ihr gefunden, ihr Bild in sich entdeckt, daß auf einmal Flammen der Sehnsucht in ihm entzündet, die Urwald und Alleinsein nicht löschten.

Oder müßte sie es dennoch wissen? Wenn zwei lächerliche, runde Glasdinger, zwei alte Rasierspiegel, die man meilenfern aus zwei gleichgültigen Winkeln der Welt zueinander kehrte – wenn die zwischen Menschen, die sich fremd waren wie Stock und Stein, Gedanken trugen, Nachrichten und Grüße brachten – dann sollten ein Schrei und eine Sehnsucht, wie sie in ihm waren, ganz ungehört und spurlos verhallen?

So war es nicht! Er wußte es doch, wußte es und zweifelte nicht, daß Lisa in diesen Tagen, diesen Nächten litt, daß sie in Not war und Hilfe brauchte! Ganz ebenso mußte sie es wissen, daß er auf ihren Ruf nur wartete, um mit allem, was Jugend und Bereitschaft in ihm war, zu ihr zu eilen.

»Noch ein Brief!« quiekste das Negerkind, sein Händchen über die Augen gelegt, in Jubeltönen. 163 Das war noch neu auf der Welt, fühlte seine Intelligenz und seine Kunst wie ein Geschenk und war jedesmal von neuem beglückt, wenn es sie betätigen durfte.

Buchstabe um Buchstabe nahm Bwana msafi gierig auf, bis er erkennen mußte, daß er auch diesmal vergeblich gehofft hatte.

»Kommandant Pirnstiel, streng privat. Erbitte besagte Medizin . . .« Geheimnisse wollte Hüssen nicht ausspionieren. Außerdem genügten die wenigen Worte. – Der arme Herr Pfisch wurde seiner Entziehungskur nicht froh! Jene schottische Wunderquelle, die hier im Märchen-Dorfwinkel rann, war kein so streng behütetes Geheimnis!

Jussuf ben Ali, der Weißkopf am Heliographen, war der älteste Soldat der schwarzen Truppe, Vater und Lehrer all' der flinken, kleinen Signalkinder, die von Berg zu Berg, von Lager zu Lager, Kopf und Glied des endlos gespannten afrikanischen Truppenkörpers miteinander verbanden. Vom Kongo zur Küste, vom Tanganjika zum Kilimandscharo, an der Peripherie des Landes hin, in den Diagonalen, quer über Ströme und Sümpfe, jagten sie in ein paar Stunden das »lang kurz, kurz lang« ihrer Morsemeldungen und Briefe. Ein paar hundert Buben, ein paar Dutzend kaum gereifter junger Soldaten, in ihrer Gesamtheit, mit Jussuf ben Ali an der Spitze, eine Art geistige Elite der schwarzen Menschheit.

Der Askari bis zum schlachterprobten Veteranen, Dorfschulzen und Bürgermeister sogar, ja selbst jene alten Askari-Megären, Troßmütter, die Krieg und 164 Kriegskunst besser zu kennen glaubten als ein weißer General, die als eine Art Feldpolizei hinter der Front wirkten und wüteten – vor den Signaljungen zeigte auch Respekt, wer selbst Anspruch machte, weltkundig zu sein. Die konnten nicht nur lesen und schreiben, kannten die geheimnisvolle Sprache der Sonnenflämmchen, der Glühlichter im Grauen der Nacht – nein, sie standen der Seele des weißen Mannes so nahe, daß sie seine Sprache, seine Gebete vernahmen, seine Geheimnisse wußten.

Das bedingte, daß auch der Europäer dem Signaljungen mit Zurückhaltung, ja fast mit herablassendem Respekt gegenübertrat. Er war ihm gefährlich wie Napoleon sein Kammerdiener, leistete auf einem fast wissenschaftlichen Gebiet: dem Zählen von Punkten und Strichen, der Behandlung einer Maschine und häufig im Rätselraten über verstümmelte Telegramme, was mancher Europäer nicht vermochte. Dazu kam, daß die kleine Truppe der Signalkinder von einem militärischen Ehrgeiz beseelt war, wie die Junkerabteilung irgendeines mittelalterlichen Heeres. Im Kugelregen zu telegraphieren, bei höchster Gefahr Dienst zu tun und diese Gefahr einfach zu negieren, war der Stolz dieser Knirpse, und jede solche Leistung wurde besprochen, von Kompagnie zu Kompagnie weitergetragen, so daß ein paar dieser Halbwüchsigen berühmter waren als mancher Truppenführer.

Hüssen beschloß, mit Jussuf ben Ali Freundschaft zu schließen. Dunkel schwebte ihm vor, daß dieser Alte, der in seinen Händen den Sonnenspiegel, das Band zwischen Urwald und Menschheit hielt, ihm 165 geneigt sein müsse. Lisas Ruf würde ihn sicherer erreichen, wenn Jussuf ben Ali sein Freund war.

»Vater der Signale!« sprach er ihn an, als der »streng private« Brief an den Kommandanten fertiggestellt und Herrn Pirnstiel, der inzwischen durch seinen Feldstecher das Pori absuchte, übermittelt war.

»Vater der Signale, ich habe viel von dir gehört, du bist ein weiser, alter Mann!«

»Alle Signal-Askari sind meine Schüler,« erwiderte Jussuf ben Ali, und Machiavell hätte nicht würdiger betonen können, er sei der Lehrer aller Diplomaten. »Alle sind meine Schüler, aber die besten sind Söhne aus meinem Leib. Ich habe dem großen Sultan in Europa viele Söhne geschenkt und ihnen mein Wissen gegeben.«

»Du bist ein großer Freund des Sultans in Europa!«

»Jetzt werde ich alt, meine Lenden sind mürbe geworden. Aber meine Söhne, die Signal-Askari, sind herangewachsen, schenken dem Sultan aus ihren Lenden junge Signal-Schüler und Signal-Askari. Das Junge, das du an meiner Seite sahst, und das für mich die Buchstaben liest, weil meine alten Augen müde geworden, ist Sohn meines Sohnes, der in seinem Leben Unteroffizier der Signaltruppe war und für den großen Sultan in der Schlacht bei Tanga gefallen ist. Es ist noch klein, aber klug wie ein weißer Mann und wird dem großen Sultan viele Dienste leisten.«

»Erzähl mir dein Leben, weiser Alter! Du mußt viel erfahren haben.« 166

»Ich bin geboren, wo die Sonne einschläft, wo der mächtige Strom rauscht. In meinem Dorfe war ein Gott, der Menschenblut trank, wir haben ihm das Blut vieler Feinde geopfert und ihr Fleisch gegessen. Ich war noch ein Junges, ein ganz schwaches, kleines Junges, als ich zum erstenmal das Fleisch unserer Feinde aß. Aber meine Zunge weiß nicht mehr, wie diese Speise schmeckt. Ist es das, was du hören willst, hoher Herr?«

»Wie bist du in dies Land gekommen?«

»Es kamen die Araber, böse Männer! Sie haben unseren Gott zerschlagen und getötet, wir hatten keinen Schutz mehr. Sie haben unsere Hütten verbrannt und unsere Kühe genommen, haben uns davon getrieben wie Vieh, Männer und Frauen und Junge. Sie haben uns wochenlang getrieben und die Peitsche geschwungen, daß immer eine blutige Spur unseren Weg zeigte. Mein Rücken weiß nichts mehr von den Peitschenhieben der Araber, aber meine Augen wissen noch, wie mein Vater zusammenbrach und meine Mutter unter der Peitsche starb. Viele aber überstanden den weiten Marsch und die vielen Qualen, so kamen wir in die große Stadt des großen weißen Mannes Stanley am mächtigen Strom. Dort wurden wir auf den Markt geführt und verkauft, aber die schönsten Mädchen behielten die Araber sich selbst als Dienerinnen. Später zeugten sie Kinder mit ihnen, die ihre Mütter nicht kennen wollen. Die Knaben aber, die gesund waren und Verstand hatten, kaufte der Sultan der Belgier und machte Soldaten-Junge aus ihnen. So wurde ich ein Soldaten-Junges. 167 Es war aber sehr viel Sonne über dem Lande hinter den großen Seen. Immer führten die Askari Krieg. Wir mußten tun, was die Araber uns getan hatten. Weiße Offiziere führten uns durch den Busch und tief in den Urwald hinein. Wir mußten Dörfer umstellen, Männer und Frauen fangen, denn der Sultan der Belgier brauchte immer mehr Askari für sein Heer und viele Arbeiter, die Kautschuk für ihn sammelten und Wege bauten. Weil aber die Sonne so heiß schien, und weil der Sultan uns wenig Medizinmänner geschickt hatte, war immer Fieber in unserem Blut, und bei jeder Menschenjagd mußten fast so viele Askari sterben, wie Sklaven erbeutet wurden. Die weißen Kapitäne, die Bwana Leutnants und die Bwana Korporale starben immer wieder, es kamen neue aus dem Land des Sultans, die aber starben auch. Sie waren anders, als ihr seid, sie waren furchtbar, ehe sie starben, wenn das Fieber in ihrem Blut brannte. Sie schlugen uns oft und waren schlimme Herren. Wir wagten es nicht, sie zu töten. Wir glaubten, daß der Gott des weißen Mannes uns strafen würde, denn er war gewiß ein mächtiger Gott. Er hatte es ja vermocht, daß unsere eigenen Götter zerschlagen wurden. Wir waren scharf und schossen viele Schwarze tot, auch Löwen und Leoparden. Aber nie hätten wir damals gewagt, nach der Brust des weißen Mannes zu zielen! Wir fürchteten den Blitz im Auge des weißen Mannes, weil es blau ist und den Himmel widerstrahlt, der über uns liegt.

Aber zu fliehen wagten wir, und es flohen viele, 168 wenn wir in das Land der großen Seen kamen, dort, wo das Reich unseres Sultans endete.

Damals lebte in der großen Stadt am Tanganjika, ganz allein, ein weißer Priester, der alle Götter kannte, und der ein großer Zauberer war. Hast du nie von ihm gehört, Bwana Hauptmann? Er hieß Bwana Liwistoni, das heißt in seiner Sprache: der Geist, der Steine leben macht. Sie sagten, daß er mit Pflanzen und Vögeln und Tieren sprechen konnte, daß selbst die Steine ihm vertraut waren. Er war ein großer, heiliger Zauberer, sein Gott hatte ihn zu den schwarzen Menschen geschickt, er wollte sie nie verlassen, auch dann nicht, als sein Sultan einen anderen Weißen aussandte, ihn zu holen. Er ging nicht, seine schwarzen Freunde haben ihn begraben, am Tanganjika, wo er gelehrt hat.«

»Livingstone! Hieß der weiße Priester Livingstone?«

»Hast du ihn gekannt, bist du sein Freund gewesen? Ach nein, du bist noch jung, mein weiser Herr war schon lange tot, als du aus dem Bauche deiner Mutter krochst.«

»Du hast ihn gekannt!«

»Ich bin von den Belgiern geflohen, weil sie schlechte Herren waren, die Gott mit Fieber und Tod strafte, und die uns alle sterben machten. So bin ich zu dem weißen Zauberer Bwana Liwistoni gekommen und war sein Diener, bis er starb. Er hat mir die Sprache der Buchstaben gelehrt, daß ich lesen und schreiben konnte, als der große Geist ihn zu sich rief. 169

Danach wurde ich Schreiber bei einem Hindu-Kaufmann, der hat mich auf Reisen geschickt bis hinab zur Küste der erwachenden Sonne. Ich kannte bald alle Städte und alle Märkte und viele Sprachen, aber ich habe dem Hindu nicht gern gedient. Die Hindus sind stolz und verachten uns mehr als die Weißen, sie sündigen gegen ihr Gesetz, wenn sie in unser Land kommen, aber sie verdienen viele Rupies. Wenn sie in ihre Heimat zurückkehren, opfern sie ihrem Gott, und er vergibt ihnen. Ich liebte meinen Hinduherrn nicht, weil er habgierig war und die dummen Buschneger betrog. Deshalb verließ ich seinen Dienst an der Küste der erwachenden Sonne und schrieb ihm einen Brief, daß er einen andern Mann schicken sollte, seine Güter zu holen, denn ich wollte nicht zurückkehren. Ein großer weißer Mann war ins Land gekommen, der Askari warb. Sein Sultan hatte ihn geschickt. Er hieß Bwana Wißman. Bei ihm hab' ich die Kunst der Signale gelernt, hab' viele Kriege mitgemacht und bin im Dienste eures Sultans alt geworden.«

»Liebst du den Sultan der Deutschen und seine weißen Diener?«

»Den Sultan liebe ich! Seit zwanzig und vielen Sommern diene ich ihm. Nie ist er mir meinen Lohn schuldig geblieben. Groß hat er mich gemacht unter allen Stämmen dieses Landes. Bis zum Feldwebel hat er mich vergrößert.«

»Und seine weißen Diener?«

Der Alte hatte die Geschichte seines Lebens erzählt, als wiederhole er auswendig Gelerntes. 170 Wenn er die Stimmen der Europäer, der Araber oder Hindus gab, wurde sein Organ dünn, die Sprache der Weißen ahmte er auf der höchsten Fistel nach. Wenn er zornige Worte oder blutige Taten beschrieb, bekam sein Vortrag etwas Dramatisches wie alles Reden der Eingeborenen. Aber bald fiel er wieder in seinen gleichförmigen, ein wenig greisenhaften Vortrag zurück, als berichte er das Leben eines fremden Mannes. Wie er selbst gesagt hatte: die Peitschenhiebe der Araber fühlte er nicht mehr, den Geschmack des Menschenopferfleisches, die tobenden Ausbrüche malariakranker Europäer hatte er vergessen, wußte in diesem Urwaldschatten nichts mehr von der glühenden Sonne des Kongo, wo er Lasten getragen, gedurstet, gekämpft, alle Not des Sklaven gelitten hatte. Jetzt aber, als es galt, von den Dingen des Tages zu sprechen, den sie beide durchlebten, wurde seine Rede scheu und stockte.

»Ich kenne viele weiße Männer, die gut sind. Ich liebe den sehr hohen Herrn in Dar-es-Salam und seine Bwana Majors und seine Bwana Hauptmänner und Bwana Unteroffiziere. Aber auch von ihnen hat manchem die Sonne den Geist gestört, manchmal sind sie wild und toben und wissen nicht, was sie wollen. Dann hat ein schwarzer Mann es schwer, auch ein sehr alter, weiser schwarzer Mann wie ich, der solche Zeichen trägt.«

Er wies mit der Hand auf drei Feldwebelborten an seinem Arm.

»Hat die Sonne auch Bwana Pirnstiel den Geist gestört?« 171

»Ihm nicht. Er ist alt und sein Geist ist nicht sehr groß, obwohl er glaubt, daß er so weise ist wie der sehr hohe Herr in Dar-es-Salam. Aber er ist gut und freundlich, wenn man ihm geduldig zuhört, denn er erzählt gern von seinen Taten.«

»Und Bwana Bergner, hat dem die Sonne den Geist gestört?«

»Auch ihm nicht. Bwana Bergner ist jung und tapfer und liebt die Arbeit. Aber ihm . . .«

»Nun, was stört seinen Geist?«

»Bibi . . .« sagte der Vater der Signale mit resignierter Handbewegung.

»Ihm steckt die Bibi nicht nur in der Hütte, er trägt sie im Blut – er hat sie zu stark in sein Herz geschlossen. Tag und Nacht denkt er an sie, vergißt vieles, vergißt manchmal sich selbst. Man darf seine Bibi nicht groß werden lassen in sich. Wenn sie nicht mehr Sklave des Mannes ist, wird sie sein Herr.«

»Weiser Mann, kluger Vater der Signale! Weißt du, was mir den Geist gestört hat? Sag' es mir, aber sag' es keinem sonst!«

»Ich kenne dich erst seit kurzem, hoher Herr . . .«

»Sprich!«

Jussuf ben Ali sah den Fremden, dem er die Geschichte seines Lebens vertraut hatte, mitleidig an.

»Auch eine ›Bibi-Geschichte‹, aber es muß eine ganz andere sein,« sagte er.

»Dein Blut brennt, du durstest, tust mir leid, hoher Herr!« 172

* * *

Am Eingang zu Bergners Haus blieb Bwana msafi stehn: hier gab es freilich keinen Zweifel mehr, wer dies Märchendorf in den Urwald hineingedichtet hatte! Das war mehr Studio eines Malers, als eines rauhen Steppenreiters Höhle, für kurze Rast gebaut.

Aus gebogenen Zweigen, Gras und immer wieder Gras waren da schwellende Möbel geschaffen, ein Ruhebett, orientalische Sessel. Ein Giraffenfell in saftigen Farben deckte den Boden, Antilopenfelle das Ruhebett. Alle Wände aber hingen voll von bunter Leinwand, deren Farben, grell und oft unharmonisch, ineinanderknallten.

Der junge Bergner hatte sich Staub und Schweiß seines Rittes abgeseift, trug einen weißen, ganz unmilitärischen Anzug, war hilflos beklommen. Er versuchte eine Begrüßung, halb die eines Hausherrn, halb des Untergebenen, die aber völlig mißlang, wies auf einen hübsch gedeckten Teetisch, zugleich auf die Bilder, die dicht wie eine Tapete seine Wände behingen, auf einen Stuhl.

»Wenn Herr Oberleutnant – vorlieb nehmen – Platz nehmen . . .«

Den armen Jungen würgte eine unerklärliche Angst.

»Mein Glück, daß ich von der Malerei nichts verstehe,« erklärte Hüssen, der drollig geniert vor all der bunten Leinwand stand und durch sein Muschelglas äugte. Da war etwas wie ein Teufel los: draufgehauen und gespachtelt, Linie und Farbe im Hader, ein Chaos von Unmöglichkeiten! Was die einzelne Leinwand vielleicht ertragen hätte, zersetzte das Nebeneinander. Und trotzdem . . . 173

»Wo Sie nur all' die Leinwand herkriegen!«

Bergner zeigte unbeholfen auf die Stoffe, wies auf die Ränder.

»Altes Khaki, Wäsche, Säcke . . .«

»Und die Farben?«

»Mein letzter Vorrat. Er geht zu Ende.«

Dies war klar: hier war in Schweiß und Wut gearbeitet worden, in gestohlenen, verhetzten Stunden. Hier hatte einer mit Kohlstift und Farbe Kämpfe geliefert!

Aus einem kindlich dilettantischen Mitteilungstrieb heraus, mit starkem Sehen und ganz ungezügelter Kraft der Darstellung, hatte dieser Bursche hingepatzt, zusammengeschweißt, was ihn an Welt und Bildern umgab. Askari und Massai, Träger und Boys, Bibis und Kinder, die ganze schwarze Welt dieses Urwaldwinkels hatte Modell gestanden. Porträtentwürfe hingen neben Versuchen, die wilddurchsonnte Landschaft zu bezwingen. Da war das Lagerdorf Eukissai selbst, war ein Blick in die Steppe, das zerfallene Farmhaus drunten am Bach. Da war ein im Mittagslicht dunstender Markt, in dem die Bewegung vieler tausend fast nackter Gestalten vibrierte. Kein Tier der Steppe oder des Urwalds, das er nicht in seiner eigensten Bewegung festzuhalten versucht! Selbst an Kompositionen hatte dieser grimmig entschlossene Dilettant sich gewagt! Auf einer rohgezimmerten Staffelei stand da, beinahe dreist in der Schroffheit von Ton und Linie, der Entwurf zu einem Jesus in der Krippe. Die Madonna, veredelter Massai-Typus, mütterlich mild und dennoch irgendwie raubtierhaft. Josef und die 174 Hirten, Massai-Patriarchen, die von den Wundern dieser Nacht zu ruhen schienen. In der Tür des Stalles aber lauerten Ilmoran-Gestalten mit wachen Augen, die mit sehnigen Beinen zum Sprung ansetzten, als gelte es, allsogleich die Kunde von der Geburt eines Heilands stürmisch in die Welt hinauszustreuen.

Das Jesuskindlein selbst war blond und weiß! Im Stern seiner Augen trafen sich die Blicke der Madonna, der Hirten und Läufer, das glänzende Schwarz ihrer Körper schien nur Rahmen für dieses Kindleins Blaßgesicht und goldenes Haar.

Die Züge der Madonna kehrten überall wieder. Als züchtige Hausfrau in blauem Kattun, eine Last auf dem Kopf schaukelnd, schritt sie durch den Trubel des afrikanischen Marktes. Sie kniete nackt am Holzfeuer einer Negerhütte, hockte in orientalischen Gewändern, die Augen demütig wartend, im Schatten einer Säulen-Veranda. Als Bursche verkleidet, in Khakihemd und Hosen, schleppte sie sich unter schwerer Last in den Staubwolken einer fliehenden Trägerkarawane.

»Also Ihr Geheimnis?«

»Herr Oberleutnant –«

Hüssen flegelte sich in einen wenig stacheligen Klubsessel, rauchte und wartete.

»Hat der Kommandant Sie beleidigt, ›Gottbegnadeter‹ geschimpft? Soll ich ihm eine Forderung überbringen? Aber ich sag' Ihnen gleich – er hält gräßliche Gemetzel hier oben für stilwidrig.«

»Beleidigt, nein!«

»Dann lernen Sie in Gottes Namen die 175 wichtigsten Schnellzüge auswendig! Das Verkehrswesen zu reformieren, kann ich ihm nicht verbieten –. Vielleicht läßt er Sie dann in Ruh'. Und setzen Sie sich endlich! Sie haben Fieber, sind einem Wadenkrampf nah'.«

Bergner saß jetzt, rang die Hände, vergoß seinen Schweiß. So stand er vor jedem neuen Entwurf, im Gefühl tiefer Wertlosigkeit, elender Angst – bis plötzlich Befreiung und siedender Mitteilungsdrang über ihn kamen. Er sprudelte jetzt, unvermittelt fließend und längst vorbereitet, seinen Bericht.

»Ich bitte ja nur – der Kommandant sagt mir, ich würde versetzt, ein Anderer auf diesen Posten! Ich sitze schon lang' hier: natürlich ist es unberechtigt, sieht albern aus, wenn jemand sich gerade den Krieg aussucht, die Kriegszeit benutzen will, um zum erstenmal in seinem Leben so etwas wie glücklich zu sein. – Ich war Kaufmannslehrling daheim, meine Kindheit war nicht schön, ich kenne nichts Gutes. Dann Kommis an der Küste – stand im Laden, schluckte Chinin, hatte oft Fieber und Dysenterie. Alle vier Wochen was anderes. – Ich hatte Sehnsucht nach dem offenen Lande, nach richtigem Afrika, aber Pangani und Tanga und Bagamojo, das waren alles Europäernester mit Klatsch und Skat, die so zufällig unterm Aequator liegen. Ich bin dreiundzwanzig – was hab' ich denn gehabt! Sagen Sie doch selbst, Herr Oberleutnant, was hab' ich von meinem Leben gehabt? Armut, Schule, Lehre, Fieber, Arbeit –«

»Jugend, Mädchen, Schnaps, Bergner! Und noch tausend Dinge – Jugend ist immer schön!« 176

»Ich tu ja Dienst, ich will ja nicht geschont werden. Ich reite meine Patrouillen Tag für Tag, hab' gerodet und gebaut, mache Wachen – ich will noch mehr tun! Und wenn's richtig hergeht, wenn der große Sturm kommt, zehn drüben gegen einen von uns – dann bin ich doch dabei! Ich weiß am besten, daß er kommt – die Meldung von der Burenarmee, die sie drüben erwarten, war doch von mir! Ich weiß sogar, wann er kommt! In sechs Wochen, dann rücken sie an, dicht wie Heuschrecken, es wird gar nicht heimlich betrieben vom Feind. Dann kommt mein Schicksal ja doch! Bis dahin, dies Jahr Eukissai war dann mein ganzes Leben! Ich hab' keine Jugend gehabt, wir haben alle keine Zukunft. Noch diese sechs Wochen, Herr Oberleutnant!«

»Noch sechs Wochen lang Madonnen malen, das ist alles?«

»Das ist alles . . . Aber der Kommandant sagt –«

Hüssen verriet nicht, wie guter Laune er war.

»Alter Freund, die ganze Wahrheit! Zum Madonnenmalen gehört die Madonna. Zwanzigmal hängt sie an Ihrer Wand. Raus damit! Hergezeigt! Und weh' Ihnen, wenn's eine schlampige Alte ist! Dann sind Sie abgelöst, eh' Sie's denken!«

Der Junge war plötzlich voll Selbstbewußtsein.

»Soll ich sie rufen? Befehlen Herr Oberleutnant?«

»Reine Massai?«

»Massai und Araberblut, halb und halb. Das edelste Blut Ostafrikas!« Hüssen beneidete den verliebten Burschen.

»Lieber Kerl, ich hab' ja nie dran gedacht, Sie 177 wegzukommandieren. Sie tun Ihre Pflicht, tun mehr! Alles andere geht mich nichts an. Aber jetzt – legen Sie mich der Frau des Hauses zu Füßen! Ich hätte gar keinen Anspruch darauf, aber warum haben Sie mich neugierig gemacht!«

Weh' dir, wenn jetzt doch eine Negervettel anrutscht, dachte er.

»Sulima!«

Bergner hatte sich ganz gefaßt, sein Ruf war Befehl. Aber jetzt wandte er sich noch einmal flehend an Hüssen. »Sechs Wochen Dienst und Arbeit, das ist alles, worum ich bitte.«

»Was begehrst du, Herr?«

Sulima stand in der Tür, war keine Negervettel! Sie stand ganz frei und schlank, in Seide orientalisch eingehüllt, fast unbeweglich, als wäre sie Modell. Nur die braunen Schlangen ihrer Finger flatterten durcheinander, wühlten in den Falten ihrer weiten Pluderhose, die bis zu den Knöcheln fiel. Das allein verriet, daß sie die große Angst ihres Herrn teilte. Ihr Gesicht aber, dies rührend schmale Oval, das eine Männerhand ganz verdeckt hätte, rührte sich nicht. Der Mund mit fast zarten Lippen war ruhig, die gebogene Nase, in deren linkem Flügel ein dünner Goldreif hing, ohne Zittern. Sie hielt die Augen halb geschlossen, den Kopf zurückgelegt, den Hals gereckt. Alles an ihr sagte trotzig und siegesgewiß: schau mich an! Vor dieser Bronze-Delikatesse von Mädchen stand jetzt der junge Bergner mit breiten Schultern und schweren Gliedern, beide Arme gehoben, das mannhafte Gesicht in dunkler Glut. Seine Augen gingen zwischen 178 Hüssen und Sulima wie die Blicke eines Pygmalion, der Anerkennung für sein Werk fordert.

»Das gibt's ja nicht! So was gibt's ja gar nicht in Wirklichkeit,« stotterte Hüssen.

Sulima wußte sofort, daß sie gesiegt hatte. Ihr Lächeln war frei und beinahe höhnisch.

»Ich will geh'n!« trotzte sie. Lächelte noch einmal auf die beiden Männer herab, die Augen immer halb verschleiert, und lautlos verschwand sie.

»Ist sie schön?« schrie Bergner, fast angesteckt von Sulimas Triumph. Aber Hüssen hatte diese Vision als etwas ganz Unwirkliches durchlebt und vergessen. Immer noch rauchend, immer noch in der Haltung des ironisch überlegenen Beschauers, mußte er doch an sich halten, um zu verstecken, wie sein Blut dampfte und litt. Bisher hatte er an Lisa wie an eine liebe, heiß ersehnte Freundin gedacht – er konnte es nicht mehr.

* * *

Während Pirnstiel mit viel Hallo und lautem Hin und Her den bis zur Grenze seiner Kraft tätigen Kommandanten spielte, ließ Hüssen, von der Veranda seines Gastfreundes aus, den Tag sich enden und den Abend kommen. Sulimas Bild hing nicht vor seinen Augen. Dies schlanke Wunder war aufgetaucht, hatte seinen Schimmer gegeben und war zerflogen, als der Vorhang von Bwana Bergners Frauengemach sich geräuschlos hinter ihr schloß.

Den armen Jungen hatte das Gefühl eines Sieges nur für Minuten glücklich gemacht. Jetzt litt er alle Qual des Besitzenden, der keine Macht hat, seinen 179 Besitz zu verteidigen. An diesem wie an jedem Abend hatte er eine Fülle von Dienst zu tun, mußte ihn bei aller Angst seines Herzens noch ganz besonders gründlich tun, um dem mächtigen, gefürchteten Bwana msafi zu beweisen, daß er seiner Gnade wert war.

Vor dem Wachhaus ließ er seine Askari antreten, exerzierte mit ihnen, wie man im Kasernenhof irgendeiner Garnison Deutschlands exerziert, ließ die Posten wechseln, bestimmte Weg und Zusammenstellung der Nachtpatrouille durchs Farmgebiet.

Dann stand er vor dem Vorratsschuppen, gab Soldaten, Arbeitern und Dienern ihre Körnerration, ließ ein Stück Wild zerlegen, das er frühmorgens in der Steppe erlegt hatte, das inzwischen auf Trägerköpfen den steilen Hang hinaufgewandert war.

Immer wieder aber zwischen zwei Dienstfunktionen, die ihm mühelos von der Hand gingen, fand er einen Vorwand, sich auf Minuten in sein Haus zurückzustehlen, formvoll nach Wünschen seines Gastes zu fragen und sich mit einem Blick zu überzeugen, daß Sulima lieblich, träge, ungefährdet ihren Abend genoß. Was galt in diesem Lande ein Weib, ein farbiges Weib? Sie war ein Ding, des Mannes Eigentum, Freude und Entspannung vielleicht für eine halbe Stunde, wie eine Flasche Wein oder ein Bad nach heißen Märschen! Mehr konnte, wollte sie nicht sein. Wenn Sulima dem großen Herrn gefiel, wenn er nur winkte, würde sie stolz und selig kommen. Räuber und Beute – in ihren Augen wären sie's nicht. Er ein dankbarer Gast, der nicht verschmähte, was das arme Haus seines 180 Untergebenen bot, sie eine gehorsame Dienerin, die selbst im Arm des Fremden sich ihrem Herrn zu Willen glaubte. Während die Angst vor dieser letzten Erfüllung einfacher Gastfreundschaft ihn durchwühlte, Herz und Därme in ihm krampfte und seine Kehle heiser machte, tat dieser arme Teufel Dienst, sah die Abendfröhlichkeit auf den Gesichtern seiner schwarzen Banditen, die er füttern, für die er sorgen mußte.

»Landessitte oder nicht, Verbrechen oder nicht,« dachte Bergner, während er in Dutzende offener Hände oder bereitgehaltener Lappen die Viertelliter Maismehl verteilte. »Wenn er das tut, büßt er's mir! Dann mach ich ihn kalt, dann sieht er die gold'ne Steppe nicht wieder!«

Aber als die letzte Pflicht erfüllt war, lag Hüssen noch immer mit halbgeschlossenen Augen auf der Veranda, so gleichmütig, so sichtbar von ganz anderen Gedanken erfüllt, daß Bergner sich wie ein Narr erschien.

Er empfand Reue, war dankbar, ganz plötzlich hatte er den »sauberen Hauptmann« lieb. Sein Herzenswunsch war ja erfüllt, die sechs Wochen, die sein Leben krönen sollten, dies letzte, einzig greifbare Glück seines Lebens – neidlos und ohne Aufheben hatte Hüssen es ihm geschenkt.

»Dich hab' ich kalt machen wollen!« dachte er, schämte sich in seine heftige, unreife Seele hinein. »Dich goldenguten Kerl, dich frischen, noblen, sauberen Bwana msafi.«

»Wart nur,« dachte er dann. »Ich bin nichts, ein schofler, kleiner Reiter, bin nichts und werd' 181 nichts. Und trotzdem, du wirst's noch einmal fühlen, daß du einen Freund hast! Einen, der dir die Feldflasche an den Mund setzt, dir seinen letzten Tropfen Wasser gibt, wenn er selber schon Blut pißt!«

* * *

Es ließ sich wirklich in Afrika nichts Friedvolleres denken als das Märchendorf Eukissai, in den Urwald gerodet, eine Enklave afrikanischen Bürgerlebens. Hüssen war wieder allein, saß da, als wache er über des jungen Bergner Liebesglück. Der lag in seiner Sulima offenen Armen, brannte ihr Bild in sich hinein, als dürfte es nie von der Netzhaut seiner Augen verschwinden.

Es dämmerte, aus all' den Grashäuschen und Grasbaracken krochen fröhliche schwarze Leute, das liebe Gesindel mit breiten Nasen und wolligem Schädel, das draußen Pflichten hatte und Dienst tat, hier aber ein durch Nichts gestörtes Daheim genoß. An fünf oder sechs Stellen des Lagers zugleich loderten Feuer auf, die Fensterchen der Europäervillen, die Spitzbögen ihrer Veranden füllten sich gelb und rührend mit dem Lichtschein armseliger Lampen.

Ueber jedem Feuer hing ein Kessel, in dem Maisbrei gekocht wurde. Ein Kerl, dessen Gesicht den Ausdruck großer Verantwortlichkeit trug, rührte um, kostete, sah aus, wie Pirnstiel einmal aussehen würde, wenn durch sein Genie der Krieg gewonnen war. Dann kam der Kessel vom Feuer, man schwatzte, lachte, es rauschte von Glück. Wie sie jetzt mit ihren Pfoten in die heiße Masse griffen, aus dem 182 steifen Brei kleine Eier rollten, oben eine Delle hinein für heißes Fett, wie sie Finger um Finger beleckten, einträchtig, laut und gefräßig waren, glichen sie freilich mehr einer Schar buntgekleideter Affen, als schwarzen Bürgern eines freien Landes. Aber könnte ein Mensch, ein wirklicher Mensch, so selig werden wie sie? Sie hatten ihre Weibchen, ihr Junges, ihren Fraß – das genossen sie alle zugleich, sangen und rülpsten mit Lust.

»Menschen sind nicht glücklich,« dachte Hüssen, in den sein Leid verkrampft war bis zu körperlicher Pein.

»Zur Tränke!« schmetterte Pirnstiel ursächsisch durchs ganze Lager. Gottlob, bald rauschte der schottische Strom des Vergessens . . . 183

 


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