Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++


Oberst Redel saß vor einem kleinen Tische in seinem Arbeitskabinett und war eben damit beschäftigt, einen Brief zu vollenden. Es war neun Uhr und der Oberst weilte noch nicht seit langer Zeit in seinem Heim. Er war aus dem Militärklub nach Hause zurückgekehrt, wo er mit seinem ehemaligen Schulkameraden, Kommandanten Vallières, gespeist, der im Vereine mit Friedrich Clément sein Sekundant sein sollte. Plötzlich erscholl der Klang der Wohnungsglocke. Redel befand sich allein, er hatte seinen Diener fortgeschickt; er erhob sich, schritt durch den Salon und schickte sich an, selbst zu öffnen. In dem durch eine einzige Gasflamme schwach erleuchteten Treppenhause stand eine in einen weiten Mantel gehüllte, dicht verschleierte Frauengestalt, die kein anderer als nur er allein erkannt haben würde. Beim Anblick derselben stieß er einen Schrei aus und streckte ihr beide Hände entgegen.

»Sie, gnädigste Frau!« rief er lebhaft, von Unruhe und freudiger Bewegung hingerissen.

Sie antwortete ihm nicht, sondern trat durch das Vorzimmer und den finsteren Salon nach dem hell erleuchteten Raume. Dort, in Redels Arbeitskabinett, legte sie mit ruhigem, würdevollen Anstande Schleier und Mantel ab und enthüllte so das traurige, edle Antlitz der Gräfin Coutras. Redel war ihr gefolgt, und stand nun, von tiefer Bewegung übermannt, vor ihr, sie mit seinen Blicken fast verschlingend; er fühlte sich berauscht von dem unerwarteten Glücke, sie aber bot ihm die Hand und sprach mit ernster Stimme:

»Ich habe nicht gewollt, daß dieser Zweikampf stattfinde, ohne daß wir uns vorher noch gesehen hätten, und da Sie nicht mehr zu mir kommen konnten, habe ich nicht gezögert, Sie aufzusuchen.«

»Aber befürchten Sie nicht, daß man Ihnen nachspürt und Sie erkannt hat? Wenn Sie um meinetwillen irgendeiner ernstlichen Gefahr ausgesetzt wären, würde ich trostlos sein.«

»Denken wir nicht weiter an mich«, sprach sie gerührt. »Wer bekümmert sich denn überhaupt um das, was ich tue; bin ich denn nicht die verlassenste der Frauen? Jetzt handelt es sich um Sie, lieber, treuer Freund, um Sie, der sein Leben tollkühn aufs Spiel setzt und den ich gegen die anderen und gegen sich selbst verteidigen will.«

»Ich beschwöre Sie,« rief Redel, »befassen wir uns nicht mit dieser unglückseligen Angelegenheit, stören wir nicht das Glück der gegenwärtigen Stunde, welches mir so kostbar ist. Zwingen Sie mich nicht zu nutzlosen Erörterungen, lassen Sie mich alles vergessen, bis auf das Glück Ihrer Gegenwart. Weshalb sprechen Sie überhaupt von meinem Leben; ich würde es hundertmal hingeben für die Freude, welche ich im gegenwärtigen Moment empfinde.«

»Lieber Freund, es gilt also für Sie, vernünftig zu sein, da Sie so fest entschlossen sind, in Ihrer Unvernunft zu beharren; ich bin gekommen, um eine letzte, höchste Anstrengung zu machen, welche Sie an diesem Duell verhindern soll.«

»Wie wäre das möglich?« forschte Redel, der plötzlich sehr ernst geworden war. »Wenn Sie wüßten, was den Grafen und mich trennt, so würden Sie kein derartiges Ansinnen an mich stellen.«

»Ich weiß alles, was sich ereignet hat.«

»Wer könnte es Ihnen gesagt haben?«

»In erster Linie mein Gatte, und dann Frau Friedrich.«

»Wie? Er hat diese Schlechtigkeit, sie hat diese Torheit begangen?«

»Er ist schlecht gewesen, weil seine natürliche Veranlagung ihn dazu drängt; sie war unklug, weiter nichts.«

»Am meinetwillen, ich bin dessen überzeugt, nur um meinetwillen.«

»Ja; verzweifelt darüber, Sie in Gefahr zu wissen, bestand ihre einzige Sorge darin, Sie zu verteidigen, und angesichts der Alternative, sich zu kompromittieren oder Sie Ihrem Schicksal zu überlassen, hat sie es edlerweise vorgezogen, ohne zu zögern, sich selbst zu kompromittieren.«

»Edle Frauenseele! Aber mit wem hat sie gesprochen?«

»Mit Frau Mößler.«

»Die arme Frau kennt also die elende Handlungsweise ihres Sohnes?«

»Ja, sie kennt dieselbe.«

»Und was hat sie getan?«

»Sie hat den Grafen zu sich beschieden, sie hat ihn gebeten, ihm Vernunft zugesprochen, ihm gedroht, ohne irgend etwas zu erreichen. Daraufhin schrieb sie mir ein paar Zeilen, um mich von ihrer Niederlage in Kenntnis zu setzen; sie beschwor mich, Valentin, wenn irgend möglich, zu sprechen und ihn, wenn er abends ausgehen wolle, daran zu verhindern; er ist aber gar nicht nach Hause gekommen. Um zehn Uhr endlich bin ich selbst ausgefahren; er wird erst spät heimkehren, wie gewöhnlich; ich habe mich mit ihm nicht mehr zu befassen. Es mag entsetzlich sein, was ich Ihnen da eingestehe, aber es ist nur allzu wahr; ich denke einzig und allein an Sie.«

»Sie müssen doch begreifen, daß mir gar nichts übrig bleibt, als auf meinem Entschlusse zu beharren, da er selbst nicht von demselben abweicht.«

»Und wenn er Sie töten sollte?«

»Es gehört zu meinem Berufe, dem Tode mutig die Stirne zu bieten; ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß ich mich ganz und gar nicht vor demselben fürchte; der Tod kennt mich gar wohl, wir sind alte, vertraute Kameraden; ein Soldat, der, ohne mit einer Wimper zu zucken, dem Mitrailleusenfeuer gegenübergestanden hat, der erschrickt nicht so leicht vor der Waffe des einzelnen, und wäre dieser auch der beste Pistolenschütze. Er wird mich nicht so leicht töten, seien Sie dessen gewiß. Sie haben keine Ahnung, wie leicht es ist, das Ziel zu verfehlen, wenn man einem lebenden Menschen gegenübersteht.«

Vernichtet stand die Gräfin da, zu Boden gedrückt durch die Gewißheit eines kommenden Unglücks. Um sie ihren düsteren Gedanken zu entreißen, sprach er weiter, redete er zu ihr wie zu einem Kinde.

Der Oberst war ruhig und sprach lächelnd. Sie erinnerte sich, daß er genau ebenso ruhig gesprochen, als er in ihrem Salon eine Kriegsepisode schilderte. Eine unaussprechliche Qual schnürte ihr das Herz zusammen; ihr dünkte es, daß sie zum letzten Male seine warme, melodische Stimme vernehme, daß sie ihn nie mehr sehen werde. Schüchtern sprach sie:

»Wenn dieses Duell gar nicht stattfände, so wäre mir das die weitaus größere Sicherheit.«

»Gewiß, aber wie soll man das bewerkstelligen können? Dem Anscheine nach habe ich die Sache heraufbeschworen, und ich möchte weit lieber das Aergste über mich ergehen lassen, als mich bei Herrn von Coutras in irgendeiner Form entschuldigen. Sie sehen also wohl, daß Ihre Berechnungen unrichtig, Ihre Bemühungen nutzlos sind und die Dinge ihren normalen Lauf nehmen müssen.«

Sie verstand ihn nur zu gut, die kluge Henriette; ihr Haupt sank tief auf die Brust herab, und sie fing zu weinen an; sie wußte nicht mehr, was sie sagen solle, aber da sie litt, so erleichterten die stillschweigend vergossenen Tränen ihren Schmerz. Er hatte ihr zu Füßen Platz genommen und suchte, tief bewegt, sie zu trösten und zu beruhigen.

»Ich beschwöre Sie, seien Sie tapfer, Sie bringen mich durch Ihre tiefe Bewegung um alle Fassung; Sie peinigen mich durch Ihren Kummer, Sie tragen keine Verantwortung, Sie tragen keine Schuld an dem, was geschehen mag.«

Sie schüttelte traurig den Kopf, als wolle sie sagen, sie wisse nur zu gut, welch großen Anteil sie daran habe, wenn auch ihr Name in dem, was geschehen mochte, nicht genannt werden würde. Er verstand sie und fuhr mit leiser Stimme fort:

»Jedenfalls braucht nie eine Menschenseele zu erfahren, wie die Dinge stehen; niemand wird ahnen, daß der Zorn, es mit ansehen zu müssen, wie schändlich ein Unwürdiger Sie behandelte, mich dazu veranlaßt hat, den Grafen Coutras herauszufordern. Wenn ich Sie nicht mit einer heiligen Neigung geliebt hätte, würde ich Ihren Gatten nicht so grenzenlos verabscheuen, aber ich war so glücklich, indem ich Ihnen die ganze Anbetung zu Füßen legte, deren mein Herz fähig ist, und wenn ich sterben sollte, so bin ich von dem Bewußtsein getragen, daß ich nichts zu bereuen habe; ich werde bis zu meiner letzten Lebensstunde reines Glück genossen haben, da Sie hier an meiner Seite weilen, da Sie weit hingebender und zärtlicher sind, als ich es in meinen kühnsten Träumen jemals zu hoffen gewagt habe. Trocknen Sie also Ihre Tränen; Sie haben mir alle Freude gewährt, welche ich von Ihnen im Leben erhoffen durfte. Gestatten Sie mir, Ihnen all meine Gedanken zu erschließen; da ich, was immer auch geschehen möge, dazu verurteilt bin, Sie nie wiederzusehen, wäre es vielleicht das beste, ganz aus dem Leben verschwinden zu können, plötzlich, mit einem Schlage, von Ihnen betrauert und beweint. Es würde mir dies fast leichter sein, als ein Leben fortschleppen zu müssen, welches mir wertlos ist, da es nicht in Ihrer Nähe verbracht werden kann; darüber denke ich seit heute morgen mit unendlicher Trauer nach, und ich glaube, es wäre dies für mich fast das wünschenswerteste Ende.

Sie warf ihm einen verzweiflungsvollen Blick zu.

»Macht es Sie denn so tief unglücklich, von mir getrennt zu sein?«

»Ja.«

»Wenn ich Ihren Schmerz nach dem meinen beurteile, so verstehe ich es. Als ich hierherkam, gab ich mich dem Wahne hin, von Ihnen jedes Zugeständnis zu erlangen; wenn ich aber Ihren Worten lausche, begreife ich, daß für einen Mann Ihres Charakters Zugeständnisse in dieser Richtung eine Unmöglichkeit sind. Ich bin trostlos darüber, und doch möchte ich nicht, daß Sie anders wären, als Sie tatsächlich sind. Nein, wenn Sie nicht so sein könnten, wie ich Sie bewundere und fürchte, so könnte ich für Sie auch nicht –«

Schmerzbewegt, geängstigt und erregt hielt sie inne. Er faßte nach ihrer Hand und bat schüchtern:

»Sie können es jetzt aussprechen, nicht wahr?«

»Oh, ich habe keine Zurückhaltung, keinen Stolz mehr; ja, Sie mögen es immerhin wissen, ich könnte für Sie nicht all jene Liebe empfinden, welche Sie verdienen, wenn Sie anders wären, als Sie sind. Es bleibt das ewige Leid meines Lebens, daß ich Ihnen nicht angehören darf.«

Er beugte seine Stirne nieder, bis diese die weiße Hand Henriettes berührte, und anbetend vor ihr geneigt wie vor der Gottheit, sprach er:

»Seien Sie gesegnet für diese höchste Wonne, welche Sie mir bereiten; ich genieße also das unverhoffte Glück, Sie so sprechen zu hören, wie Sie es in dieser Stunde getan. Mein Herz ist so sehr erfüllt von Dankbarkeit und zärtlicher Liebe, daß Zorn und Haß keinen Raum mehr darin haben. Ja, fürwahr, Sie läuterten mich von allen bösen Empfindungen, ich gehöre nun Ihnen allein an, nichts vermag meine Seele zu berühren, was nicht mit Ihnen im Zusammenhang steht. Ich fühle mich durch Ihre Wahl hoch emporgehoben über alle übrigen Menschen, und Sie mögen die Gewißheit hegen, daß Sie mir die höchste Wonne, das reinste Glück bereitet haben.«

Als sie sprechen wollte, um noch weiter in ihn zu dringen, machte er eine flehende Gebärde, welche sie zum Schweigen veranlaßte.

»Oh, reden Sie nicht weiter, alles würde die göttliche Wonne verringern, welche ich empfinde. Ich bin im Himmel, führen Sie mich nicht zur Erde zurück. Ich liebe Sie, wie nie ein Weib geliebt wurde, und ich bin glücklich. Gehen Sie fort, verlassen Sie mich, kehren Sie in Ihr Heim zurück und beten Sie für mich, das ist alles, was ich von Ihnen begehre.«

»Oh, mein Freund!« wehklagte sie, »ich will von ganzer Seele beten mit der gleichen Inbrunst, mit welcher ich Sie liebe.«

Sie hatte Mantel und Spitzentuch wieder umgenommen; sie stand bleich und erregt vor ihm, im Begriffe, fortzugehen. In ihren großen, reinen Augen perlten Tränen, und sie sah so wunderschön aus, daß er sich unfähig fühlte, in diesem erhabenen Moment die Blicke von ihr abzuwenden. Sie bot ihm die Hand, und er fühlte, wie diese Hand in der seinen bebte. Die klaren Augen Henriettes verschleierten sich, ein düsteres Feuer brannte in ihnen, ihre Lippen zuckten, und laut schluchzend warf sie sich an Rebels Brust, umschlang ihn fassungslos vor Schmerz mit ihren Armen. Er löste sie sanft von sich los, lächelte ihr voll Zärtlichkeit zu, nahm den reizenden Kopf der jungen Frau zwischen seine Hände und drückte einen Kuß auf die schönen Augen, welche so heiß und so leidenschaftlich um ihn weinten.

»Auf der Schwelle des Todes begehre ich nichts von Ihnen, Henriette, als Ihre Seele, und wenn wir uns nicht mehr wiedersehen, sollen nur lautere Erinnerungen Ihnen verraten können, wie heiß Sie geliebt worden sind.«

Er liebkoste mit seinen Lippen ihr blondes Haar, ihre hohe Stirne, und es bereitete ihm das Bewußtsein ein traurig süßes Empfinden, daß er sie in seinen Armen halte, aber nur für Sekunden. Ehrerbietig, mit brüderlicher Zärtlichkeit, gab er sie dann frei, geleitete sie zur Tür und ließ sie gehen.


 << zurück weiter >>