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Geschichtslehre

 

Weltgeschichte

Was bildet den Menschen als seine Lebensgeschichte? Und so bildet den großartigen Menschen nichts als die Weltgeschichte.

Manche Menschen leben besser mit der vergangenen Zeit und der zukünftigen als mit der gegenwärtigen.

Auch ist die Gegenwart gar nicht verständlich ohne die Vergangenheit und ohne ein hohes Maß von Bildung, eine Sättigung mit den höchsten Produkten, mit dem gediegensten Geist des Zeitalters und der Vorzeit, und eine Verdauung, woraus der menschlich prophetische Blick entsteht, dessen der Historiker, der tätige idealistische Bearbeiter der Geschichtsdaten nicht so entbehren kann wie der grammatische und rhetorische Erzähler.

 

Jede Geschichte muß Weltgeschichte sein

Partielle Geschichten sind durchaus nicht möglich. Jede Geschichte muß Weltgeschichte sein, und nur in Beziehung auf die ganze Geschichte ist historische Behandlung eines einzelnen Stoffs möglich.

 

»Eine Geschichte«

Eine Geschichte ist ein eigentümliches Produkt des Willens und des Verstandes – ohne deren Zutun gibt es keine Geschichte – durch sie kann aber alles zur Geschichte, zum Beispiel, zum Bilde eines Gesetzes werden.

Von wie wenig Völkern ist eine Geschichte möglich! Diesen Vorzug erwirbt ein Volk nur durch eine Literatur oder durch Kunstwerke, denn was bleibt sonst von ihm Individuelles, Charakteristisches übrig? Es ist natürlich, daß ein Volk erst geschichtlich wird, wenn es ein Publikum wird. Ist der Mensch geschichtlich, eh' er mündig ist und ein eignes Wesen vorstellt?

Eine gute Geschichte kann nur aus Quellen entstehn, die auch schon gute Geschichten sind.

Die Geschichte Christi ist ebenso gewiß ein Gedicht wie eine Geschichte, und überhaupt ist nur die Geschichte Geschichte, die auch Fabel sein kann.

 

Unvollständigkeit der Geschichte

Die Geschichte muß immer unvollständig bleiben. Lebensbeschreibungen, Geschichten der Wissenschaften und Künste, Geschichten der Verfassungen, Geschichte der Menschheit in Rücksicht ihrer Zivilisierung, dies kann noch am ersten sich der wahren Geschichte nähern, denn hier hat man Einheit.

Große, schwer zu bestimmende Einheiten als Nationen, Zeitalter usw. sind für jetzt noch zu schwierig zu behandeln, besonders in Ermangelung richtiger und genügsamer Quellen.

Die besten bisherigen Geschichten sind mehr geographische, unvollständige Chroniken, mit einzelnen historischen Bemerkungen durchwebt.

 

Geschichte und Philosophie

(Historik.) Die bloße Geschichte (Bewegung, Bildung) ist musikalisch und plastisch. Die musikalische Geschichte ist die Philosophie, die plastische Geschichte: die Chronik, die Erzählung, die Erfahrung. Jede Materialienmasse ist Chronik. Jede Beschreibung ist Erzählung. Erst dann, wenn der Philosoph als Orpheus erscheint, ordnet sich das Ganze in regelmäßige gemeine und höhere, gebildete, bedeutende Massen, in echte Wissenschaften zusammen. (Historische Oryktognosie im allgemeinen Sinn.)

Alles Historische bezieht sich auf ein Gegebenes, sowie gegenteils alles Philosophische sich auf ein Gemachtes bezieht. – Aber auch die Historie hat einen philosophischen Teil.

 

Historie

Historie ist angewandte Moral und Religion, auch angewandte Anthropologie im allgemeinern Sinne. Daher der wunderbare Zusammenhang der Geschichte mit unsrer Bestimmung – des Christentums und der Moral.

(Historie.) So entsteht aus der Betrachtung der Geschichte die allgemeine Menschennatur und in besondern Ländern, Zeiten, Konstitutionen, Nationen usw. die spezielle Menschengeschichte.

Die Oryktognosie gehört zur Historie.

 

Der Geschichtschreiber

Der Geschichtschreiber organisiert historische Wesen. Die Data der Geschichte sind die Masse, der der Geschichtschreiber Form gibt, durch Belebung. Mithin steht auch die Geschichte unter den Grundsätzen der Belebung und Organisation überhaupt, und bevor nicht diese Grundsätze da sind, gibt es auch keine echten historischen Kunstgebilde, sondern nichts als hie und da Spuren zufälliger Belebungen, wo unwillkürliches Genie gewaltet hat.

Der Historiker muß im Vortrag oft Redner werden. Er trägt ja Evangelien vor, denn die ganze Geschichte ist Evangelium.

Erziehungswissenschaft des Historikers

Erziehungs-Wissenschafren des Gelehrten. Der Historiker wird durch die Zeitungen, ein Verzeichnis individueller Nachrichten, gebildet. Hier kann er Kritik lernen. Kritisches Zeitungslesen und Schreiben. Falsche Nachrichten, einseitige entstellte lernt er nachgerade benutzen. Vollkommen entgegengesetzte Nachrichten heben sich auf. Unvollkommen entgegengesetzte geben die Wahrheit zum Resultat, wenn man die sich aufhebenden Data oder Glieder durchstreicht. Die Materialien des Historikers sind die Quellen oder die Zeitungen oder die Historien, welches eins ist. Kritisch ordnet der direkte Historiker seine Data zu Gleichungen, zu einer großen, gutgeordneten Aufgabe. Dies ist die erste Arbeit – die Auflösung dieser Aufgabe oder des Gleichungssystems ist die zweite Arbeit – diese beschäftigt den reflektierenden Historiker. Die Zeit ist der sicherste Historiker. Die gewöhnlichen Zeitungen liefern eine reale Kritik.

Den direkten kann man auch den beobachtenden Historiker nennen. (Die Beobachtung bereitet den Beweis vor.) (Jeder Beweis ist eine Ahnenprobe.) Der Beweis ist die umgekehrte Auflösung. Bei der Auflösung folgt die Integration der Differentiation – bei dem Beweise umgekehrt. (Integration und Differentiation nehme ich hier nicht ganz in der gewöhnlichen Bedeutung.)

 

Altertum und Jugendtum

Jung und alt

Altertum – vom Ideal heraus; Jugendtum – zum Ideal hinein.

(Geschichtslehre.) Was ist eigentlich alt? was jung? Jung, wo die Zukunft vorwaltet; alt, wo die Vergangenheit die Übermacht hat.

(Jung und alt, polare Prädikate der historischen Substanz. Die Akzidenzen sind immer polarisch.) Kein Altertum ohne Jugendtum und umgekehrt. Alt entspricht dem Starren, Jung dem Flüssigen. Das Alte ist das Gebildete, plastisch; das Junge das Bewegliche, gemeinsam. Wenn sich Historien berühren, so werden beide polarisch. Das Charakterisierende löst sich in jedem. (Nach Wernerscher Farbenterminologie.) Hier wird das Altertum der charakterisierende Bestandteil, dort das Jugendtum. (Anwendung dieser letzten neuen Ansicht der Polarität auf die übrigen Polaritäten.) Physik der Historie. (Physik des Raums.)

(Geschichtslehre.) Die Geschichte der Menschheit steht mit der Masse der individuellen Geschichte in Polarität.

(Die neuere Geschichte hat das Altertum am Ende, die ältere Geschichte am Anfang et sie porro ...)

Verwandlung des Jungen in das Alte

Verwandlung des Jungen in das Alte und des Veränderlichen in das Bleibende, des Flüssigen in das Starre. Die Vorzeit nimmt zu, die Zukunft ab. (Nicht auch zugleich umgekehrt? Oder geht dies bis zu einem Maximum? Oder in einer Kurve?)

Neu und Jung ist eins

(Geschichtslehre.) Neu und Jung ist eins. Neu ist das Objekt, Jung das Subjekt. (Bekannt und Alt sind auch nahe verwandt.)

Der Prozeß der Geschichte ist ein Verbrennen

Wo ewige unabänderliche Gesetze walten, da ist Altertum, Vergangenheit. Der Prozeß der Geschichte ist ein Verbrennen. Die mathematische Natur verzehrt die unermeßliche.

»Wir tragen die Lasten unsrer Väter«

Wir tragen die Lasten unsrer Väter, wie wir ihr Gutes empfangen haben, und so leben die Menschen in der Tat in der ganzen Vergangenheit und Zukunft und nirgends weniger als in der Gegenwart.

Die Natur ist lauter Vergangenheit, ehemalige Freiheit; daher durchaus Boden der Geschichte.

Die Geschichte erzeugt sich selbst. Erst durch Verknüpfung der Vergangenheit und Zukunft entsteht sie. Solange jene nicht festgehalten wird durch Schrift und Satzung, kann diese nicht nutzbar und bedeutend werden.

Die Menschen gehen viel zu nachlässig mit ihren Erinnerungen um.


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