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Geschichte meines Lebens

 

Tägliches Leben

Was fehlt einem, wenn man brave, rechtliche Eltern achtungs- und liebenswerte Freunde, geistvolle und mannigfache Bekannte, einen unbescholtnen Ruf, eine gefällige Gestalt, konventionelle Lebensart, einen meistens gesunden Körper, angemessene Beschäftigungen, angenehme und nützliche Fertigkeiten, eine heitere Seele, ein mäßiges Auskommen, mannigfaltige Schönheiten der Natur und Kunst um sich her, ein im ganzen zufriedenes Gewissen – und entweder die Liebe, die Welt und das Familienleben noch vor sich – oder die Liebe neben sich, die Welt hinter sich, und eine gut geratene Familie um sich hat? – Ich dächte, dort nichts als fleißiger Mut und geduldiges Vertrauen – hier nichts als Glauben und ein freundlicher Tod.

(17. Junius.) Es ist doch keine größere Freude, als alles zu verstehn, überall zu Hause zu sein, von allem Bescheid zu wissen, überall sich helfen zu können. Will man dann auch überall das Rechte, sucht man überall guten, lebendigen Willen zu erregen, zu erhalten und alles zu einer schönen Absicht zu erheben, so kann man sich getrost für einen musterhaften Menschen halten und sich herzlich liebhaben und verehren.

 

Hauptbeschäftigungen

Meine Hauptbeschäftigungen sollen jetzt 1. die Enzyklopädistik, 2. ein Roman, 3. der Brief an Schlegel sein. Im letzteren werde ich ein Bruchstück aus 1. so romantisch als möglich vortragen. (Soll es eine Recherche oder Essai, eine Sammlung Fragmente, ein Lichtenbergischer Kommentar, ein Bericht, ein Gutachten, eine Geschichte, eine Abhandlung, eine Rezension, eine Rede, ein Monolog oder Bruchstück eines Dialogs usw. werden?)

Jetzt will ich alle Wissenschaften speziell durchgehn und Materialien zur Enzyklopädistik sammeln. Erst die mathematischen, dann die übrigen; die Philosophie, Moral usw. zuletzt.

Gravitationslehre und Arythmetica universalis will ich zuerst durchgehn. Jener soll eine Stunde, dieser zwei Stunden gewidmet werden. Was mir nebenher einfällt, wird in das allgemeine Brouillon mit hineingeschrieben. Die übrige Zeit wird teils dem Roman, teils vermischter Lektüre gewidmet und der Chemie und Enzyklopädistik überhaupt.

Früh 6-12 folgen sich diese Stunden. Nachmittag ist, wenn früh keine Stunde verloren gegangen ist, Roman und Lektüre. Briefe unterbrechen alle Stunden. Die übrige Stunde früh kann der Motion und den Pausen gewidmet sein. Von 9-10 z.B. wird spazieren geritten oder von 11 bis 12. Wird früh von 6-7 etwa gelesen, so wird nachmittags eingeholt.

Jetzt kann ich nichts besseres tun als die Studien vollenden und Französisch langsam treiben. 2-3 Stunden alle Tage müssen auf die Länge etwas fruchten. Vor Vollendung der Studien kann ich auch nicht gut an andre Wissenschaften denken oder selbst Okkupationen vornehmen. Mein Geist wird sehr durch das Studium der französischen Sprache gewinnen, denn ich werde besonnener, gewandter und reicher an Wendungen. Je ruhiger und freier ich arbeiten werde, desto fester und egaler muß mein Stil werden.

Studien – Französisch – schöne Wissenschaften – Briefe – Offizialia – Offiziallektüre.

Alles nach einem Plan studieren.

Ich lese jetzt zu wenig und meditiere zu wenig.

Wieder etwas Chemie, Physik, Geographie, Geschichte, alte Chroniken usw. Don Quichotte, Shakespeare, Goethe, Tieck, Boccaz.

Die Revision des Wernerschen Systems und die Kritik meines Unternehmens muß nun die erste Arbeit sein. Bearbeitung der Logik, der Algeber usw. gehört dann zur Tagesordnung. (Die Briefe an die Schlegels. Ordnung meiner Papiere.)

Fertigkeit und Sicherheit und Präzision im philosophischen Kalkül – diese muß ich zu erlangen suchen.

Die Ordnung meiner Papiere hängt von meinem Wissenschaftssystem ab. Bezeichnung aller meiner Gedanken und Register dieser Verzeichnungen. Revision der Gedanken.

Könnt' ich nicht hier vielleicht noch Vorlesungen halten?

Ein Märchen sollt' ich wahrlich schreiben. Gesetze des Märchens.

 

Moralisches Leben

Mein Wille nähert sich nachgerade der Vollkommenheit des Willens, den man ausdrückt:

Er kann, was er will.

Warum muß ich nur alles peinlich treiben, nichts ruhig, mit Muße, gelassen.

Fein langsam.

Ich bin zu sehr an der Oberfläche; nicht stilles, innres Leben – Kern – von innen, aus einem Mittelpunkt heraus wirkend, sondern an der Oberfläche, im Zickzack, horizontal, unstet und ohne Charakter, Spiel, Zufall, nicht gesetzliche Wirkung, Spur der Selbständigkeit, Äußerung eines Wesens.

(Ich habe sehr viel Willen, aber wenig echte Reizbarkeit. (Incitabilitas indirecta, spuria.)

Vielleicht habe ich meine glücklichen Ideen dem Umstande zu danken, daß ich einen Eindruck nicht vollkommen gegliedert und durchgängig bestimmt empfange, sondern durchdringend in einem Punkte, unbestimmt und absolut fähig.

Im stillen friedlichen Hausleben entstehn ... Ich gerate sonst auf den kümmerlichen Weg der Philisterei. Tätigkeit soll mich kurieren.

Gleichmut selbst bei den hoffnungslosesten Zufällen, z.B. b(ei) S(ophie).

Mit dem, der mich glaubt und versteht, komme ich am liebsten zusammen.

 

Magisches Leben

Innerliches Hören wie innerliches Sehn. Man muß alle seine Kräfte üben und regelmäßig ausbilden, die Einbildungskraft wie den Verstand, die Urteilskraft usw. Die Vernunft baue ich jetzt an, und die verdient es auch am ersten, denn sie lehrt uns den Weg finden.

Religion – Jesus usw.

Im Märchen glaube ich am besten meine Gemütsstimmung ausdrücken zu können. Alles ist ein Märchen.

Meine Idee von absolut wohltätiger Bestimmung auf Erden für mich.

Märtyrer sind geistliche Helden. Jeder Mensch hat wohl seine Märtyrerjahre. Christus war der große Märtyrer unsres Geschlechts. Durch ihn ist das Märtyrertum unendlich tiefsinnig und heilig geworden. Oh! daß ich Märtyrersinn hätte!

Ich muß ordentlichen Aberglauben zu Jesus haben. (Der Aberglaube ist überhaupt notwendiger zur Religion, als man gewöhnlich glaubt.)

Ich habe zu Söfchen Religion – nicht Liebe. Absolute Liebe, vom Herzen unabhängige, auf Glauben gegründete, ist Religion.

Kunst, alles in Sofien zu verwandeln, oder umgekehrt.

Angewandte Liebe zu Julien.

Indem ich glaube, daß Söfchen um mich ist und erscheinen kann, und diesem Glauben gemäß handle, so ist sie auch um mich und erscheint mir endlich gewiß – gerade da, wo ich nicht vermute. In mir, als meine Seele vielleicht, und gerade dadurch wahrhaft außer mir; denn das wahrhaft Äußre kann nur durch mich, in mir, auf mich wirken – und im entzückenden Verhältnisse. (Über die Illusion der Sinne.)

Verbindung, die auch für den Tod geschlossen ist, ist eine Hochzeit, die uns eine Genossin für die Nacht gibt. Im Tode ist die Liebe am süßesten; für den Liebenden ist der Tod eine Brautnacht, ein Geheimnis süßer Mysterien.

Ist es nicht klug, für die Nacht ein
geselliges Lager zu suchen?
Darum ist klüglich gesinnt –
der auch Entschlummerte liebt.


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