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Fünfzehntes Kapitel

Diese vier Menschen – drei Erwachsene und ein Kind wurden durch die Erinnerungen an die gemeinsam erlittenen Leiden vielleicht fester miteinander verknüpft, als die Bande des Blutes es vermocht hätten.

Sie waren so einsam auf Motu Atea, als seien sie die einzigen menschlichen Wesen, die auf der Welt noch zurückgeblieben waren. Daran, daß sie die einzigen überlebenden Bewohner von Manukura waren, zweifelten sie nicht. Schon als ihr Baum weggeschwemmt wurde, hatten sie sich für die einzigen noch Lebenden auf der Dorfinsel gehalten. Sie erwogen nur noch die Möglichkeit, daß einige von denen, die nach Motu Tonga geflüchtet waren, gerettet worden seien, aber nach ihren eigenen Erfahrungen hielten sie es für töricht, eine solche Hoffnung ernstlich zu hegen.

Frau de Laage erholte sich langsam. Anfangs war sie so erschöpft und betäubt, daß sie nur eine verworrene Erinnerung an das hatte, was geschehen war. Sie erinnerte sich des Augenblicks, als die Wogen die letzten noch standhaltenden Wurzeln des Baumes weggewaschen hatten, aber fast alles, was sich später ereignet hatte, war ihrem Gedächtnis entschwunden. Allmählich nur, fast gegen ihren Willen, tauchten andere Erinnerungen in ihr auf: der Baum, weit vom Lande im Meere treibend – Marama, die wie von fern her ihren Namen gerufen hatte – Terangis verschwollenes Gesicht und blutunterlaufene Augen, als er von dem Ast, an den er sich klammerte, zu ihr hinabgeblickt hatte.

Als sie sich kräftiger fühlte, berichtete ihr Marama in kurzen Worten, wo sie waren und wie sie diese Küste erreicht hatten. Marama und Terangi bemühten sich um sie mit der zärtlichsten Sorgfalt, die Frau de Laage aufs tiefste rührte. Sie wußte wohl, was sie diesen beiden ergebenen, tapferen Menschen verdankte – nicht weniger als ihr Leben.

Das ruhige Meer, der blaue Himmel darüber, die Sonnenhitze, die eine sanfte südöstliche Brise wohltuend milderte, all das stand in schroffem Gegensatz zu dem verwüsteten Land ringsumher. Von den vielen tausend Palmen der Insel waren alle bis auf zwei- oder dreihundert dem Hurrikan zum Opfer gefallen. Der Lagerschuppen, ein niedriges gemauertes Gebäude, hatte standgehalten. Wohl war das Dach abgetragen worden, und das Meer, das durch die zerbrochene Tür hineingeflutet war, hatte das Innere mit Sand gefüllt, aber Terangi hatte die meisten Geräte und Vorräte in ziemlich gutem Zustande aus dem Sand auszugraben vermocht. Die Arbeit, die er daran wendete, sie wieder gebrauchsfähig zu machen, lenkte ihn von seinen Gedanken ab, und dann war ja auch Tita bei ihm, die bei jedem neu entdeckten Schatz vor Entzücken jauchzte. Nach und nach förderten sie vielerlei nützliche Dinge zutage: zwei Kisten voll Konservenfleisch, eine Zwanzigpfund-Büchse mit Zwieback, Äxte, Buschmesser, Eisen zur Herstellung von Fischerspeeren, sogar eine Kiste voll alter Kleider, die dem Häuptling gehört hatten.

Terangi packte die Kleidungsstücke mit leidvoll starren Augen aus: getragene baumwollene Hemden, Kleider, die Mata gehört hatten ... Mit Titas Hilfe trocknete er diese Dinge in der Sonne und trug sie zu dem Schutzdach, unter dem Frau de Laage im Sande ruhte. Es war zu Mittag des dritten Tages, als Terangi das Kleiderbündel holte. Als sie ihre Mahlzeit aus Büchsenfleisch, Schiffszwieback und jungen Kokosnüssen beendet hatten, machte er sich daran, das Kanu auszubessern. Tita lief vor ihrem Vater her; ihr zerrissenes Kleidchen und ihr schwarzes Haar flatterten im Wind. Frau de Laage wurde von einem Gefühl fast unerträglicher Wehmut ergriffen, als sie der kleinen Gestalt nachblickte. Wie viele von Manukuras Kindern waren wohl noch am Leben? ... Wahrscheinlich keines außer Tita. Es war undenkbar, daß noch andere die Katastrophe überlebt hatten.

Marama, die in der Nähe kniete, hatte begonnen, das Kleiderbündel zu durchsuchen; ihre eigene Kleidung war durch den Sturm in Lumpen verwandelt worden. Sie faltete ein Gewand auseinander, das sie beide sogleich erkannten; es hatte Maramas Mutter gehört. Die beiden Frauen gingen, einer gemeinsamen Regung folgend, aufeinander zu. Tränen traten in Frau de Laages Augen, obgleich sie sich tapfer bemühte, sie zu unterdrücken. Mit einemmal stützte Marama den Kopf in die Hände und begann wild und bitterlich zu weinen; endlich brach sich ihr lange zurückgehaltener, grenzenloser Schmerz Bahn. Mit todwundem Herzen und tränenüberströmtem Gesicht schloß Frau de Laage die jüngere Frau in ihre Arme. Marama klammerte sich an sie, als wollte sie sie nie mehr loslassen.

Lange verharrten sie so, dann hob die junge Frau den Kopf. » Tirara – es ist aus«, sagte sie mit dumpfer Stimme. »Sie sind tot – alle tot. Unsere Tränen bringen sie nicht zurück.«

»Wir dürfen noch hoffen, Marama«, versuchte Frau de Laage sie zu trösten. Aber in ihrem Herzen lebte keine Hoffnung ... Sie waren wohl alle tot. Ihr Mann und Kapitän Nagle ...? Kein Fahrzeug wie die Katopua konnte einen solchen Sturm überdauert haben. Nein ... auch sie waren nicht mehr am Leben ... Frau de Laage verspürte unendliches Mitleid mit der jungen Frau an ihrer Seite, die jene Katastrophe auf so entsetzliche Art beraubt hatte. Marama hatte Eltern, Geschwister, Verwandte, Freundinnen verloren – die Gemeinschaft, von der sie ein Teilchen gewesen war, hatte aufgehört zu sein ... eine ganze kleine Welt war binnen weniger Stunden vernichtet worden.

Am gleichen Nachmittag begann Frau de Laage, um Marama von ihren schmerzlichen Gedanken abzulenken, von sich selbst zu sprechen. Sie und ihr Mann hatten seit langem geplant, einen einjährigen Urlaub in Frankreich zu verbringen; in wenigen Monaten hätten sie abreisen wollen. Nun würde sie allein reisen, um mit ihrer verwitweten Schwester, die ihr sehr teuer war, in Paris zusammen zu leben.

Marama lauschte betrübt, Frau de Laages Hand in der ihren haltend. Sie fühlte sich enger als je zu ihrer Gefährtin hingezogen, die sie liebte und der sie vertraute, als sei sie ihre ältere Schwester. Nach kurzem Schweigen begann sie zu sprechen, mit der klanglosen Stimme einer Frau, der die Zukunft nichts mehr bringen konnte. Alle Zurückhaltung beiseite schiebend, erzählte sie ihre Geschichte, als sei alles vor langer Zeit, in einer anderen Welt geschehen. Sie erzählte, wie Terangi von Vater Paul und Mako auf offenem Meere gerettet worden war, und von seiner Landung auf Motu Tonga. Sie erzählte, wie sie und Tita ihn dort gefunden hatten und wie glücklich sie kurze Zeit hindurch gewesen waren. Auch von dem Plan, nach Fenua Ino zu fliehen, berichtete sie. Nichts hielt sie zurück. Sie sprach von der Grotte Te Rua, in der sie während der Suchaktion verborgen waren, und wie sie das Kanu und die Vorräte versteckt hatten. Diese junge Frau von zweiundzwanzig Jahren sprach wie eine Greisin, die sich die Ereignisse von einst und die Gesichter längst verstorbener Freunde in die Erinnerung zurückruft. Und wie sie so erzählte und immer weiter erzählte und dabei auf das weite Meer hinausblickte, ward ihrer Zuhörerin die Unendlichkeit bewußt, welche die Gegenwart von der zeitlich so nahen Vergangenheit trennte ...

Marama hielt inne. Auch Frau de Laage schwieg. Da blickte Marama sie an, und in ihren Augen lag Hoffnungslosigkeit.

»Und nun ... was wird nun werden?« fragte sie. »Sie werden kommen, wenn sie von dem großen Sturm hören. Der Gouverneur von Tahiti wird vielleicht das Kriegsschiff aussenden ... sie werden uns hier finden. Werden sie Terangi wieder ins Gefängnis werfen?«

»Das möge Gott verhüten!« sagte Frau de Laage.

»Doch ... sie werden ihn mit sich nehmen«, entgegnete Marama. »Dann habe ich nur noch Tita. Ja, sie werden ihn mir entreißen; ich weiß es ... Auch Terangi glaubt es. Und ich werde ihn nie wiedersehen.« Die Sonne stand schon tief am Himmel, als die junge Frau sich erhob. »Nur noch diese kurze Zeit können wir mit ihm beisammen sein, Tita und ich«, sagte sie. »Ich darf nichts davon verlieren.«

Frau de Laage blickte Marama mit feuchten Augen nach, als sie über den Strand davonging. Maramas Erzählung hatte tiefen Eindruck auf sie gemacht. Sie vergaß ihre eigene Lage – alles, außer dem Los dieses jungen Paares, dem sie so viel verdankte. Was mochte ihnen bevorstehen? Was konnte ihnen bevorstehen ...? Ihr Herzschlag setzte aus, als sie darüber nachdachte.

Sie wußte wohl, wie die Behörden in Tahiti über Terangi dachten. Sie hatte den Brief gesehen, den der Gouverneur von Tahiti ihrem Manne geschrieben hatte, und dieser Brief ließ keinen Zweifel über die Absichten der Behörden. Terangi sollte um jeden Preis wieder eingefangen und nach Guyana verschickt werden; die Obrigkeit war entschlossen, ein für allemal zu zeigen, welche Haltung sie unverbesserlichen Gesetzesübertretern gegenüber einzunehmen gedachte. Aber konnte nicht am Ende seine schwere Strafe, in Anbetracht seines Verhaltens gegenüber der Frau eines hohen Regierungsbeamten, gemildert werden? Das war sehr zweifelhaft. Frau de Laage fand wenig Grund zur Hoffnung, daß irgend etwas, das sie sagen oder tun würde, Terangis Strafe mildern könnte, wenn er wieder gefangen würde.

Nein, man durfte ihn nicht fangen! Es gab nur eine Möglichkeit der Rettung für Terangi und Marama; sie mußten ihren ursprünglichen Plan ausführen. Das Gefühl der Eingeborenen hatte das Richtige getroffen, als sie Fenua Ino als Zufluchtsort für Terangi und die Seinen gewählt hatten. Nach achtzehnjährigem Aufenthalt in der Tuamotugruppe kannte Frau de Laage nicht mehr als den Namen dieses Atolls. Sie hatte ihren Mann einmal davon sprechen hören, aber sie war gewiß, daß auch er nur oberflächliche Kenntnis von den kleinen Inselchen auf dem Riff hatte, die den Seevögeln als Nistplätze dienten.

Sie können sich den Widerstreit der Gefühle in ihrem Inneren wohl vorstellen ... Es gab keine andere Zufluchtsstätte für Terangi und die Seinen. Angenommen, Eugène wäre am Leben und würde zurückkehren ... was würde er tun? Oh, sie wußte nur zu gut, was er tun würde! Er würde dem Retter seiner Frau dankbar sein, aber bloße Dankbarkeit könnte seine schrankenlose und unbeugsame Achtung vor dem Gesetz niemals besiegen. Terangis Flucht stillschweigend hinnehmen – nein, das wäre für einen Mann von Eugènes Ansichten unmöglich. Der arme Eugène! Sie verspürte neuen Schmerz, als ihr wiederum zum Bewußtsein kam, daß er tot sein müsse, und ein leises Schuldbewußtsein darüber, daß ihr Schmerz nicht stärker war ... Hatte sie ihn eigentlich wahrhaft geliebt? Nein ... ihr Gefühl für ihn war anderer Art gewesen: Zuneigung, eine beinahe mütterliche Zärtlichkeit. Er hatte ihrer bedurft, und sie hatte seiner nicht bedurft. Er war ein Teil ihres Lebens gewesen, aber sie war sich selbst gegenüber zu ehrlich, um sich zu verhehlen, daß sie ihr Dasein ohne das Gefühl eines unersetzlichen Verlustes weitertragen könne. Nun war er tot – ertrunken. Wenigstens hatte er aller Wahrscheinlichkeit nach nichts erlitten, was sich dem Schrecklichen vergleichen ließe, das sie durchgemacht hatte ...

Der Augenblick fiel ihr wieder ein, in dem der andere Purau-Baum davongeschwemmt worden war und mit ihm Fakahau und Mata und viele liebe Freunde ... und dann der plötzliche Einsturz der Nordwand der Kirche unter dem Ansturm einer gewaltigen Woge ... Sie holte tief Atem. Dieses schaurige Kapitel ihrer Erinnerungen mußte versiegelt werden ... wenn möglich für immer ...

Frau de Laage stand auf. Die anderen waren zurückgekehrt und trafen Vorbereitungen für das Abendessen. Marama zerkleinerte Brennholz, und Terangi schuppte einen Fisch ab, den er durch einen Speerwurf erlegt hatte. Tita watete im seichten Wasser umher. Plötzlich wurde die Stille durch die klare Stimme des Kindes unterbrochen: »Papa! E pahi!«

Terangi sprang auf und spähte in die Richtung, die das aufgeregt umhertanzende Kind ihm wies. Im Nordosten, ganz fern am Horizont, im Schein der Abendsonne aufglänzend, war die Spitze eines Segels und der obere Teil eines einzigen Mastes sichtbar. Das Schiff schien sich unter der leichten südöstlichen Brise Manukura zuzubewegen. Terangi, zu dem sich die beiden Frauen gesellt hatten, blickte lange und ernst auf das Meer hinaus, ehe er sprach.

»Was kann das für ein Schiff sein?« sagte er in fragendem Ton und mit einem verwunderten Kopfschütteln. »Wenn es die Katopua ist, hat sie ihren Hauptmast verloren. Was man von dem einen Mast und dem Segel sieht, ließe auf Kapitän Nagles Schoner schließen, aber es kann auch ein Kutter aus Tatakoto sein.«

Frau de Laage legte ihre Hand auf seinen Arm. »Glaubst du wirklich, Terangi, es könnte die Katopua sein ...?« Ihre Stimme zitterte ein wenig. »Ist noch Hoffnung vorhanden?«

»Ja, es könnte ihr Focksegel sein.«

Rasch begann Terangi, alles Erdenkliche zusammenzutragen, um ein großes Feuer zu entzünden – Palmwedel, Treibholz, was immer in der Nähe zu finden war. Er bat Frau de Laage um die Streichholzbüchse. Sie erkannte seine Absicht.

»Warte!« rief sie. »Du willst dem Schiff ein Zeichen geben!«

»Gewiß. Innerhalb zwei Stunden werden wir ein Boot hier haben.«

»Nein, nein! Das darfst du nicht! Gib mir die Streichhölzer!«

Sie sprach ernst, befehlend. Terangi sah sie voll Verwunderung an.

»Du denkst an mich, Terangi«, setzte sie rasch hinzu. »Aber du mußt auch an dich denken! Wenn es die Katopua ist ... und das gebe Gott! ... dann lebt mein Mann und ist an Bord des Schiffes. Ist es aber ein Kutter, so wird man dich gleichfalls erkennen und berichten, daß du lebst. Marama hat mir von dem Plan berichtet, den ihr hattet. Du mußt ihn ausführen, Terangi! Geht nach Fenua Ino! Wenn sie herkommen, werde ich nichts sagen. Alle werden glauben, daß ihr tot seid!«

Terangi warf einen raschen Blick auf seine Frau. Ihr kaum merkliches Hochziehen der Augenbrauen sagte ihm alles, was er zu wissen wünschte.

»Sie meinen, daß wir das Kanu nehmen und nach Fenua Ino flüchten sollen?« fragte er. »Und Sie ... Sie wollen hierbleiben?«

»Ja.«

Er schüttelte den Kopf.

»Wenn es die Katopua ist, wird sie bei Tagesanbruch in der Lagune sein. Alle Motu werden durchsucht werden. Um mich brauchst du keine Sorge zu haben ... du mußt dich retten!« sagte Frau de Laage eindringlich.

Terangi sah sie mit einem Blick an, den sie nie mehr vergaß.

»Nun gut«, nickte er. »Wir wollen dorthin fahren. Ich will alles bereitmachen. Wenn wir in der Lagune ein Schiff sichten, werden wir Ihnen Lebewohl sagen.«

Am Nachmittag des zweiten Tages nach jenem, an dem das einmastige Fahrzeug gesichtet worden war, befanden sich Terangi und Frau de Laage am äußeren Strand. Das Kanu lag in der Nähe im Sand. Es hatte Terangi schwere Arbeit gekostet, es auszubessern und für so eine schwere Fahrt herzurichten. Nun aber war beinahe ein neues Boot daraus geworden, das seetüchtig genug für die Reise nach Fenua Ino schien.

Für keinen von ihnen hatte es während der letzten Tage viel Ruhe gegeben. Während Terangi an dem Boot arbeitete, hatten Frau de Laage und Marama die mitzunehmenden Vorräte auszuwählen und zu verpacken. Ihre Hauptaufgabe aber hatte darin bestanden, alle Spuren zu verwischen, aus denen man schließen konnte, daß außer Frau de Laage noch jemand auf Motu Atea geweilt hatte. Das war nicht leicht gewesen, und völlig konnte es auch nicht gelingen, aber was möglich war, hatten sie vollbracht. Niemand, der den halbzerstörten Lagerschuppen sah, hätte merken können, daß er seit dem Hurrikan betreten worden war. Sand und alle möglichen Dinge, welche die See mit sich zu führen pflegt, hatte man hineingetragen. Die Fußspuren hatten sie mit Palmwedeln bedeckt und achteten nun sorgsam darauf, nur auf diese Wedel zu treten. Die vielen Seetriften, die der Hurrikan an Land geschwemmt hatte, waren eine große Hilfe gewesen. Es gab wenige Stellen, selbst am Ufer, an denen eine Fußspur sichtbar gewesen wäre.

An diesem Nachmittag war Marama zum Lagunenstrand gegangen, um Wache zu halten. Frau de Laage saß im Sand, mit Tita im Schoß, während Terangi damit beschäftigt war, junge Kokosnüsse zu schälen, die am Ufer umherlagen, wie die See sie angeschwemmt hatte. Die anderen Vorräte waren schon in das Boot getragen worden. Der weißen Frau erschienen sie recht dürftig: ein Bündel Kleidungsstücke, ein leichter Ersatzmast und ein aus Koprasäcken gefertigtes Segel, Äxte, Buschmesser, ein Spaten, einfache Fischereigeräte, ein Kessel, ein paar Töpfe und einige Nahrungsmittel. Aus Treibholz hatte Terangi Paddel geschnitzt. Sie waren nicht allzu stark, aber sie schienen ihm ausreichend.

Er neigte der Ansicht zu, daß das Fahrzeug, das sie gesichtet hatten, ein Kutter gewesen und daß die Katopua untergegangen sei. Aber er nährte Frau de Laages Hoffnung, daß es der Schoner gewesen sei, und traf seine Vorbereitungen so, als ob Kapitän Nagle mit seinem Schiff jeden Augenblick eintreffen könne. »Jetzt sind wir fertig«, sagte er. »Es gibt nichts mehr zu tun.«

»Ich bin froh darüber«, entgegnete sie. »Aber hast du auch bedacht, daß Fenua Ino gelitten haben könnte wie Manukura?«

»Das befürchte ich nicht«, antwortete Terangi. »Es liegt abseits der Bahn des Hurrikans. Aber wir würden es auf jeden Fall wagen. Wir werden schon eine Möglichkeit finden, dort unser Leben zu fristen.«

»Der Gedanke schmerzt mich, euch an einem so einsamen Ort zu wissen, noch dazu mit so geringen Hilfsmitteln.«

Terangi bückte auf das Kanu hinab. »Es ist genug für Leute unseres Volkes. Was könnte einsamer sein als dieses Land, wo es nur Tote gibt? Dort haben wir wenigstens keine Erinnerungen, die uns Schmerz bereiten.«

Rasch wandte er den Kopf und blickte über die Insel. Marama kam auf sie zugelaufen. Ihr Haar flatterte im Wind, und sie rang nach Atem. »Eile dich, Terangi!« rief sie. »Ein Boot ... mit einem weißen Mann darin! Meine Augen waren von der Sonne geblendet ... sie sind nur noch eine Meile entfernt!«

Terangi sprang auf das Kanu zu. Marama und Frau de Laage legten mit Hand an, und selbst Tita half mit ihren schwachen Kräften das Boot ins Wasser zu schieben. Als das Fahrzeug auf dem seichten Wasser innerhalb des Riffs schaukelte, erhob sich die weiße Frau, nahm das Kind auf den Arm, drückte ihre Wange gegen die seine und hob es ins Boot. Terangi saß bereits im Heck, die Paddel in der Hand. Frau de Laage neigte sich zu ihm hinab, küßte ihn auf die Stirne und nahm von Marama mit einer raschen, zärtlichen Umarmung Abschied. Gleich darauf glitt das Boot auf das Riff zu und darüber hinweg in die Brandung.

Ein paar geschickte, kraftvolle Ruderschläge Terangis und schon hatte sich das kleine Fahrzeug aus der gefährlichen Nähe des Riffs entfernt.

Mit Tränen in den Augen wandte sich Frau de Laage ab.

Als sie quer über die Insel zu dem kaum vierhundert Meter entfernten Lagunenstrand ging, sagte sie sich in Gedanken die Geschichte vor, die sie zu erzählen haben würde. Schon allein ihre Anwesenheit auf Motu Atea bedurfte einer Erklärung ... Sie wagte kaum zu hoffen, daß der Mann im Boot ihr Mann sei. Würde die Flucht Terangis entdeckt werden? Halb betäubt von widerstreitenden Empfindungen eilte sie weiter. Sie sah das Boot schon, ehe sie den öden Lagunenstrand erreicht hatte. Es bewegte sich langsam dem Ufer entlang und war jetzt etwa eine Viertelmeile von der Stelle entfernt, an der sie sich befand. Wie müde die Haltung der Männer an den Rudern war! Ein sechster Mann, weiß gekleidet, mit einem Tropenhelm auf dem Kopf, stand im Heck des Bootes und suchte mit einem Feldstecher den Strand ab. Sie erkannte ihren Mann sogleich und wollte ihm winken ... ihn anrufen, aber sie konnte es nicht ...

Und nun war die regungslose Frau am Ufer im Blickfeld des Mannes. Frau de Laage sah, wie sich die hohe Gestalt des Gouverneurs straffte ... starr wurde. Die Leute hörten auf zu rudern, wandten sich um und starrten in die Richtung, in der sie stand. Im nächsten Augenblick ruderten sie mit höchster Geschwindigkeit auf den Strand zu. Das Knarren der Ruderdollen klang durch die Abendstille deutlich an das Ohr der wartenden Frau. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, aber sie mußte sich jetzt zwingen, ruhig zu sein ... Herrin über ihre Gefühle zu bleiben ... Sie eilte dem Boot entgegen.

Der Gouverneur sprang in das knietiefe Wasser und schloß seine Frau in die Arme. Noch war er zu bewegt, um auch nur ihren Namen auszusprechen. Durch ihre eigenen Tränen hindurch sah sie, daß seine Augen feucht waren.

»Gott sei Dank! ... Gott sei Dank!« murmelte er mit gebrochener Stimme. »Du bist unverletzt? Wo sind die anderen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin allein.«

»Allein!« rief er. Er holte tief Atem. Dann legte er den Arm um seine Frau, um sie zu stützen, und führte sie ein wenig landeinwärts zu einer Stelle, an der sie den Blicken der Matrosen entzogen waren. Sie setzten sich auf den Stamm einer entwurzelten Palme.

»Es ist ein Wunder, Germaine! Du bist allein hierhergelangt? Würde es dich zu sehr aufregen, mir zu sagen, wie dies geschah? ... Oder vielleicht später ...«

Sie schüttelte den Kopf und begann sehr rasch zu sprechen, den Blick zu Boden gesenkt. »Ich war auf einem Purau-Baum an einem der oberen Äste angebunden. Ich wurde weggeschwemmt und von der Strömung in den Durchlaß getrieben. Während der Nacht verlor ich das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, lag der Baum auf dem Riff dort drüben. Es gelang mir, mich zu befreien. Die anderen ertranken, als der Baum sich drehte. Wie lange ich geschlafen habe, weiß ich nicht. Als ich erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel, und der Baum war von der Flut weggeschwemmt worden.«

De Laage lauschte diesem erstaunlichen Bericht, ohne eine Miene zu verziehen. Während der ganzen Zeit hielt er die Hand seiner Frau in der seinen. Als sie geendet hatte, beugte er sich über sie und küßte sie zärtlich.

»Wir wollen nicht mehr davon sprechen«, sagte er. »Du mußt versuchen, dieses Erlebnis zu vergessen.« Nach einigen Augenblicken des Schweigens erzählte er ihr von den Überlebenden auf der Dorfinsel. Als die erste Welle des Staunens und der Freude abgeebbt war, erhob sich de Laage. »Warte hier und ruhe dich aus, mein Liebling. Es schmerzt mich, dich verlassen zu müssen, wenn auch nur für ganz kurze Zeit, aber ich habe zu arbeiten.«

»Wohin gehst du?«

»Ich muß die Palmen dort drüben genau besichtigen, solange es noch hell ist. Es wird sich als notwendig erweisen, fürchte ich, die Leute hierherzuschaffen.«

»Verschiebe das auf morgen, Eugène!«

»Nein – wir müssen heute noch zurückkehren. Du wirst im Boot bequem schlafen.«

»Ich bin nicht müde. Ich gehe mit dir«, sagte sie. Während des kurzen Weges zum äußeren Strand berichtete Frau de Laage dem Gouverneur, daß die erhalten gebliebenen Palmen von dem Sturm nicht ernstlich beschädigt worden seien. Wenn sie bedenke, was er ihr über den Zustand der anderen Inseln gesagt habe, sei hier wohl der einzig mögliche Ansiedlungsort für Tavi und die anderen Überlebenden. Sie blieb stehen, um seine Aufmerksamkeit bald auf diesen, bald auf jenen Baum zu lenken, und tat alles, um für die Flüchtlinge im Kanu Zeit zu gewinnen. »Wir sind weit genug gegangen«, sagte sie schließlich, »komm, wir wollen zum Boot zurückkehren!«

Aber de Laage war von einer gründlichen Besichtigung der Insel nicht abzubringen. Trotz seiner tiefen Dankbarkeit für die Rettung seiner Frau und seines unendlichen Glücksgefühls spürte er, daß es hier ein Geheimnis gäbe, dem er auf den Grund gehen müsse. Er hatte die Spur eines Kinderfußes im Sand gesehen und ein wenig später an einer anderen Stelle eine weitere Spur entdeckt, die unverkennbar von einem Mann herrührte. Sie hatten nun einen kleinen Palmenhain erreicht. Die Bäume waren vom Sturm arg zerzaust. Während de Laage ihre Anzahl abschätzte, benutzte seine Frau die Gelegenheit, um einen raschen, angstvollen Blick aufs Meer hinaus zu tun, das jetzt in seiner ganzen Weite vor ihnen lag. Ungefähr dreiviertel Stunden mußten seit der Abfahrt Terangis und der Seinen vergangen sein. Das Kanu konnte jetzt nicht mehr oder doch kaum mehr zu sehen sein. Die Sonne stand beinahe am Horizont, und der Abend war wundervoll ruhig, obgleich das Meer ziemlich bewegt war. De Laage zählte die Palmen auf seine gründliche und methodische Art und machte Eintragungen in sein Notizbuch. Als er plötzlich aufsah, überraschte er seine Frau dabei, wie sie aufs Meer hinausblickte.

In einer Entfernung von zwei Meilen, oder etwas darüber, tauchte, von den Wellen emporgehoben, ein kleiner dunkler Gegenstand auf, der gleich darauf wieder verschwunden war. De Laage blickte angestrengt in diese Richtung. Seine Frau bemerkte voll Angst, daß er im Begriff war, seinen Feldstecher herauszuziehen.

»Ich bin hungrig«, sagte sie rasch. »Komm, laß uns zum Boot zurückgehen!«

»Einen Augenblick. Dort draußen auf dem Meer ...«

»Ich habe es auch gesehen. Ein Baumstamm schwimmt dort. Komm!«

Sie hängte sich an seinen Arm und wollte ihn mit einem Lächeln fortziehen, aber er wiederholte: »Einen Augenblick!« und stellte den Feldstecher ein. In hilfloser Angst wartete sie, während er, das Glas vor den Augen, auf das Meer hinausblickte. Eine wilde, törichte Hoffnung stieg in ihr auf, das Kanu möge nicht wieder auftauchen, aber fast im gleichen Augenblick sah sie es aufs neue ...

De Laage zuckte kaum merklich zusammen. In dem kreisförmigen Ausschnitt des wogenden Meeres vor seinen Augen wurde ein großes Kanu sichtbar. Es bewegte sich in östlicher Richtung fort; im Heck ruderte ein Mann, in der Mitte des Bootes saß ein Kind, im Bug war eine Frau, die ein Stück Treibholz als Paddel benutzte.

Jetzt verlor de Laage das kleine Fahrzeug mitsamt seinen Insassen aus den Augen. Aber er hatte sie so genau erkannt, als stünden sie neben ihm.

Und dann tat er zum erstenmal in seinem Leben etwas Großes ...

Langsam schob er den Feldstecher in das Futteral zurück. Dabei vermied er es, seine Frau anzusehen. »Du hast recht gehabt, Germaine«, sagte er in gleichgültigem Ton. »Es ist ein Baumstamm.«


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