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Sechstes Kapitel

Das Dorf Manukura lag in tiefem Schlummer. Es war die Stunde vor Sonnenaufgang. Der Anprall der Brandung an das äußere Riff, bisweilen laut hörbar, dann wieder gedämpft durch das Wehen des leichten Windes, klang ohne Unterlaß in die Träume der schlafenden Bewohner. So vertraut war ihnen dieses Geräusch, daß es ihnen nur zum Bewußtsein gekommen wäre, wenn es plötzlich aufgehört hätte. Von den Wipfeln der Palmen herab ließen die Weißkopfschwalben ihren langgezogenen, krächzenden Ruf ertönen. Zuweilen wurde das leise Grunzen eines Schweines hörbar, das hinter den Küchen, die außerhalb der Hütten standen, im weichen Korallensand nach Abfällen suchte. Ein Zug Strandpfeifer überflog auf seiner alljährlichen Reise nach den arktischen Brutplätzen in Asien oder Nordamerika die Insel mit lautem Gepfeife.

Nun krähte am östlichen Ende der kleinen Insel ein Hahn, und bald stimmten die Hähne der ganzen Insel in das Konzert ein. Die Maina-Vögel, die in dem Puraubaum hinter de Laages Wohnhaus nisteten, erwachten alle auf einmal und begrüßten den nahenden Tag mit hellem Gezwitscher. Langsam dämmerte der Morgen.

In zwei Häusern der Ansiedlung hatte es in dieser Nacht nur wenig Schlaf gegeben. Der Häuptling und sein Bruder Tavi waren eifrig damit beschäftigt gewesen, die Vorbereitungen für Terangis Abfahrt zu treffen. Es bestand die Notwendigkeit, dabei größte Vorsicht walten zu lassen. Die Vorräte und Ausrüstungsgegenstände waren im Dunkel der Nacht zusammengetragen worden; nun lagen sie sorgsam versteckt in Fakahaus Bootshaus.

Alle Vorbereitungen waren beendet. Jetzt hieß es nur noch, auf die nächste Nacht warten; dann sollte Mako das große Kanu nach Motu Tonga steuern. In der Dämmerung des dritten Tages würden Terangi, Marama und ihre kleine Tochter bereits auf hoher See sein, außer Sichtweite für die Bewohner von Manukura.

Trotz der schlaflos verbrachten Nacht stand Tavi zur gewohnten Stunde hinter dem Verkaufstisch in seinem Laden. Nach der Ankunft der Katopua gingen die Geschäfte immer gut, und insbesondere während der Morgenstunden hatten Tavi und seine herangewachsenen Kinder alle Hände voll zu tun, um dem Ansturm der Kunden standzuhalten.

Tavi war ein Koloß, gerade so wie Fakahau; sein dichtes schwarzes Haar war nur spärlich mit Grau durchzogen. Er war ein weitgereister Mann; schon in seiner Jugend hatte er Manukura verlassen, um zur See zu gehen, und es gab wenige große Hafenstädte in der Welt, die er nicht besucht hatte. Schließlich aber war er in die Heimat zurückgekehrt und hatte unter den Töchtern der Insel eine Frau gesucht. Aber er erinnerte sich immer noch gerne all der Dinge, die er in der weiten Welt gesehen hatte. Er war ein Mann von außerordentlichem Verstand, ein scharfer Beobachter, dem während seiner weiten Fahrten wenig entgangen war. Ich habe unzählige Abende mit Tavi verbracht, und es würde schwer sein, unterhaltendere und anregendere Gesellschaft zu finden, als Tavi sie mir all die Jahre hindurch bot.

Niemand auf der Insel war Terangi aufrichtiger zugetan als er, und niemand freute sich mehr über seine Ausbrüche aus dem Gefängnis und den Schabernack, den er der Polizei von Tahiti immer wieder spielte. Er war so stolz auf den Mann seiner Nichte, als sei Terangi ein Blutsverwandter von ihm, und selbst Fakahau war nicht ernster entschlossen, ihn nicht wieder in die Hände der Behörden fallen zu lassen, als er.

An diesem Morgen ging Tavi, als der Andrang in seinem Laden etwas nachgelassen hatte, die Dorfstraße entlang in der Richtung nach dem Friedhof. Die Häuser von Manukura lagen, eine gute Meile weit, längs einer einzigen Straße verstreut, die den Biegungen des Lagunenufers folgte. Im ganzen Archipel gab es kein schöneres Dorf, auch keines, auf das die Bewohner stolzer gewesen wären. Sie hielten es peinlich rein; herabgefallene Palmwedel und Blätter wurden jeden Tag sorgsam weggekehrt und verbrannt. Da es nur wenig dichtes Gebüsch gab, boten sich dem Auge oft reizende Ausblicke.

Der Wohnsitz des Gouverneurs erhob sich im äußersten Westen der Insel, nahe dem Durchlaß im Riff, der den Zugang zur Lagune bildete. Er stand ganz für sich allein, hundert Meter vom nächsten Nachbarhaus entfernt. Tavis Laden und Wohnhaus, ein niedriges, viereckiges Holzgebäude, an der Vorderseite mit einer Veranda geschmückt, lag genau dem aus Korallengestein errichteten Pier gegenüber, an dem der Schoner anlegte. Ein wenig weiter gegen Westen lag das Haus des Häuptlings, und ihm gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, Mama Ruas kleines, strohgedecktes Häuschen. Noch ein wenig weiter kam man zu einer Bodensenkung, welche die Insel von Norden nach Süden durchzog und, da der Grund feucht und sumpfig war, auf einer kleinen, hölzernen Brücke überschritten werden mußte. Dann kam die Kirche, bei der gegen Norden ein Pfad abzweigte, der zum Friedhof führte.

Manukuras Tote ruhten an einer einsamen Stelle nahe dem äußeren Strand, dreihundert Meter von der Kirche entfernt. Der Ort galt als heilig, lange bevor Commodore Byron die Insel entdeckt hatte, denn dort stand der Tempel des Gottes Tangaora, und drei uralte Pukatea-Bäume waren ihm zu Ehren an jener Stelle gepflanzt worden. Von dem heidnischen Tempel war keine Spur mehr vorhanden; seine Steine waren in die Mauern der Kirche eingefügt worden. Aber etwas von der feierlichen Stimmung, die das alte Heiligtum umschwebt hatte, schien auch jetzt noch über dieser Stelle zu ruhen, so als ob der Gott Vater Pauls die Gegenwart der alten Götter dulde ...

Ganz nahe war das Riff, und unablässig stürmte die Brandung dagegen an, in einen Nebel zerstäubend, der oft durchblitzt war von allen Farben des Regenbogens. Die Begräbnisstätte selbst aber war bis auf die alten Bäume und das grünliche Dämmerlicht darunter ganz weiß: weiß der Korallensand, weiß die niedrige Umfriedungsmauer, weiß die blühenden Sträucher, weiß die Grabsteine. Selbst die Geisterschwalben, die gleich winzigen, stillen Gespenstern durch die Luft hin- und herschossen, waren weiß wie Schnee. Kein Laut des dörflichen Lebens drang bis zu diesem Ort. In der Kühle des frühen Morgens oder des Abends kamen Witwer, Witwen, ihrer Kinder beraubte Mütter, um eine stille Stunde an einem Grab zu verbringen und Trost zu ziehen aus dem Gefühl der körperlichen Nähe jener, die sie geliebt hatten und noch liebten. Trotz jener durch das einförmige Brausen der Brandung noch unterstrichenen Stille und der tiefen Abgeschiedenheit war der Friedhof von Manukura kein unheimlicher und bedrückender Ort.

Hier fand Tavi Mama Rua an der Begräbnisstätte ihres Geschlechtes stehen. An ihrer Seite stand Fakahau und leitete die Arbeit zweier junger Männer. Sie hatten ein Grab gegraben und waren nun im Begriff, ein kleines Dach darüber zu errichten, dazu bestimmt, die Sonne und den Regen abzuhalten. Dicht daneben lag, durch ein seit langem verrostetes Dach aus Wellblech geschützt, das Grab des Mannes Mama Ruas. Der Grabstein bestand aus einem weißgestrichenen Zementblock, der die Inschrift trug: »Nui Matokia, 1868-1919«. Der Stein eines anderen Grabes war so verwittert, daß die Inschrift kaum mehr lesbar war: »Terangi Matokia, 1881«. Hier ruhte Terangis Großvater, der noch in heidnischer Zeit geboren war, als niemand sein eigenes Alter kannte. Drei oder vier Frauen waren an der gleichen Grabstätte beerdigt, ebenso wie zwei Kinder, die der Grippeepidemie des Jahres 1918 zum Opfer gefallen waren.

Tavi gesellte sich schweigend zu der kleinen Gruppe und sah dem Häuptling zu, der den beiden jungen Leuten Weisungen gab. Ein Europäer, unvertraut mit polynesischen Bräuchen, würde die Szene im höchsten Grade seltsam und unwirklich gefunden haben, wenn er die Begleitumstände gekannt hätte. Keinem der jetzt Anwesenden aber erschien sie in einem solchen Lichte, ebensowenig wie irgendeinem anderen Einwohner von Manukura. Alle wußten um diese Zeit bereits, daß der Geist von Mama Ruas Gatten ihr im Traum erschienen war und ihr den bevorstehenden Tod verkündet hatte; sie zweifelten so wenig an der Erfüllung dieser Weissagung wie daran, daß am nächsten Morgen die Sonne aufgehen werde. Es ziemte sich, daß die Familie sogleich die letzte Ruhestätte der alten Frau vorbereitete.

»Die Pfosten, die das Dach tragen, sollen weiß gestrichen werden«, sagte Mama Rua, »und es wäre Zeit, daß das Grab meines Mannes ein anderes Dach erhielte. Wirst du dafür Sorge tragen, Fakahau?« Der Häuptling nickte und legte eine Hand auf die Schulter der Greisin. »Es soll geschehen, wie du es wünschest. Und nun komm und setze dich in den Schatten, Mama Rua. Die Sonne brennt zu heiß herab.«

»Nui hat lange auf dich gewartet, Mama Rua«, sagte Tavi. »Kann er nicht noch ein wenig länger warten?« Sie schüttelte den Kopf, während sie langsam zum nächsten Baum schritt und sich in seinem Schatten hinsetzte. Sie überzeugte sich, daß die mit der Errichtung des Daches beschäftigten jungen Männer außer Hörweite waren und sagte dann: »Nein! Ich habe meinen Sohn wiedergesehen, wie es mir geweissagt wurde. Meine Zeit ist um. Gerne würde ich ihn noch einmal sehen, wenn es möglich wäre«, fügte sie betrübt hinzu. »Es ist hart, daß ich nur so kurze Zeit mit ihm zusammen sein durfte, nachdem ich ihn so lange entbehren mußte. Ein paar Stunden – nicht länger! Doch ich muß damit zufrieden sein.«

»Sollen wir noch einen Tag warten?« schlug Tavi vor. »Ich könnte heute ein kleines Kanu hinübersenden, um ihn holen zu lassen. Du könntest ihn am äußersten Ende der Insel treffen, wenn alles im Dorfe schläft, Mama Rua.«

Doch die alte Frau schüttelte den Kopf.

»Die Gefahr wäre zu groß«, sagte sie mit fester Stimme. »Sie müssen heute nacht abfahren, wie es festgesetzt wurde ... Fakahau, ich möchte, daß die Gesänge in deinem Hause stattfinden.« – »So soll es geschehen«, nickte der Häuptling. »Wo ist Marama? Hat sie Tita bei sich?«

»Sie wird das Kind nicht aus den Augen lassen. Von dieser Seite droht keine Gefahr. Dein Sohn ist es, den ich fürchte, Tavi. In seinen Augen ist das Geheimnis zu lesen.«

»Ich habe ihn streng zum Stillschweigen ermahnt«, sagte Tavi. »Er darf während des ganzen heutigen Tages das Haus nicht verlassen.«

Und dann, nach einem Augenblick der Stille, fragte Mama Rua unvermittelt: »Den Kaffee! Habt ihr ihn auf die Liste der Nahrungsmittel gesetzt?«

»Ja«, sagte Tavi. »Nichts ist vergessen worden, Mama Rua. Mache dir keine Sorgen darüber. Der Kaffee ist mit den anderen Sachen wohlverpackt in einem Fäßchen.«

»In dem großen Kanu fehlt es nicht an Raum«, warf Fakahau ein. »Jedes Werkzeug, das Terangi braucht, wird er vorfinden. Zucker, Reis, Mehl ... selbst an solchen Dingen wird es ihnen auf viele Monate hinaus nicht mangeln.«

Mama Rua saß da, die Hände im Schoß gefaltet, und starrte auf die große öde Wasserwüste hinaus. Seufzend schüttelte sie den Kopf. »Es ist ein hartes Los«, sagte sie. »Ich denke dabei noch mehr an deine Tochter, Fakahau, als an meinen Sohn. Es wird ein einsames Leben sein ... für sie und Tita.«

»Der Platz meiner Tochter ist bei ihrem Manne«, entgegnete der Häuptling ruhig. »Wir dürfen uns ihretwegen nicht grämen. Sie sind jung und stark. Sie haben ihr Kind, und es wird nicht das einzige bleiben.«

»An eines hast du nicht gedacht, Tavi«, sagte Mama Rua. »Marama soll ihren Fregattenvogel mitnehmen. Wenn er zurückkehrt, werden wir wissen, daß unsere Kinder ihr Ziel glücklich erreicht haben.«

»Ein guter Gedanke«, stimmte Tavi zu. »Ich werde ihn einfangen, wenn er ins Dorf zurückkehrt.« Sie brachen das Gespräch ab, als sie Frau de Laage herannahen sahen. Der Häuptling erhob sich, um sie zu begrüßen.

Die Frau des Gouverneurs setzte sich neben Mama Rua, die ihre Hand ergriff und sie sanft streichelte. Obwohl Frau de Laage seit so vielen Jahren auf Manukura lebte und die Eingeborenen so gut kannte, hatte sie sich niemals an die Haltung gewöhnen können, die sie dem Tode gegenüber einnahmen. Der Gedanke, daß Terangis Mutter, die trotz ihres Alters so tätig und geistig so regsam war, gleichsam den Beschluß gefaßt hatte, zu sterben, und nun selbst die Vorbereitungen für ihr Begräbnis beaufsichtigte, erfüllte sie fast mit Grauen. Sie hatte andere alte Männer und Frauen, die sich der besten Gesundheit erfreuten, das Gleiche tun sehen. Das plötzliche Aufhören des Willens zum Leben, die ruhige Ergebung in das ihnen unabänderlich erscheinende Schicksal waren für einen Europäer unfaßbar. Das Seltsamste daran aber war, daß nichts Krankhaftes in der Lebensanschauung dieser Menschen lag. Ihr Geist war niemals von dem Problem des Bösen, noch auch von Grübeleien über Grausamkeit und Nichtigkeit des Lebens überschattet; Mama Rua wollte mit ihrem Manne vereint sein, das war alles. Nun, da er sie gerufen hatte, war sie mit Freuden bereit, die Welt der Lebenden zu verlassen.

»Ihr habt Euren Mann«, sagte sie und fuhr fort, Frau de Laages Hand zu streicheln. »Sollte er vor Euch sterben, so werdet Ihr mich begreifen ...«

Frau de Laage fühlte sich von der sanften Stimme und der sachten Berührung ihrer Hand wie eingelullt. » Tei iaoé, Mama Rua«, sagte sie leise. »Du weißt, was das Rechte für dich ist. Vielleicht begreife ich bereits ein wenig ...«

Sie schwieg eine Weile und sprach dann in ruhigem Ton mit ihren alten Freunden, aber bald erhob sie sich, um zu gehen, denn mit feinem Empfinden spürte sie, daß die Eingeborenen allein sein wollten.

Während sie langsam den Pfad entlang ging, der zur Kirche führte, kam es ihr mit einem Male zum Bewußtsein, wie unendlich fern ihr Leben doch von jenem war, das sie als Mädchen in Europa geführt hatte. Was hätte ihre Schwester zum Beispiel von der Szene gedacht, die sie soeben erlebt hatte? Wie unwirklich und phantastisch ihrer Schwester das Leben auf dieser wahrhaftig am Ende der Welt gelegenen Insel erscheinen würde! Doch vielleicht nicht unwirklicher und phantastischer als die Insel selbst, dieses Stückchen Korallenklippe, mikroskopisch klein im Vergleich zu dem ungeheuren Ozean ringsumher ...

Frau de Laage blieb vor Vater Pauls Häuschen stehen, das sich unweit der Kirche erhob. Das Tor zum kleinen Empfangsraum des Priesters stand offen, aber das Zimmer war leer. Sie ging zur Pforte, die in den Garten führte, und blickte hinein.

Die Frau des Gouverneurs liebte diesen Garten; übrigens nicht nur sie, sondern wir alle. Es war aber auch wirklich überraschend, auf einer so niedrigen Koralleninsel eine solche Gartenanlage zu finden. Vater Paul hatte fast ein halbes Jahrhundert liebevoller Mühe und Arbeit darauf verwendet. Die tropischen Früchte und Blumen der gebirgigen Inseln gedeihen auf solchen Atollen nur, wenn sie in die Erde ihrer Heimatinseln gepflanzt sind. Nach und nach, mit fast übermenschlicher Geduld und bewundernswerter Geschicklichkeit, hatte der Priester ein kleines Paradies geschaffen, das durch acht Fuß hohe Mauern vor den Seewinden geschützt war. Kapitän Nagle hatte keinen geringen Anteil an diesem Werk. Niemals kam er nach Manukura, ohne dem Priester in Koprasäcken zwei oder drei Tonnen fette vulkanische Erde von Tahiti oder den Marquesas mitzubringen. Vermischt mit Humus und Korallensand ergab sie den denkbar besten Boden für Vater Pauls Schutzbefohlene aus dem Pflanzenreich.

Der alte Mann war ein wahrer Künstler auf dem Gebiete des Gartenbaus. Seine Brotfrucht-, Zitronen- und Orangenbäume waren den schönsten Exemplaren ebenbürtig, die man auf den gebirgigen Inseln fand. Er hatte kleine Wege angelegt, die von Bananen- und Papaia-Bäumen beschattet waren, ferner Blumenbeete, kleine Rasenflächen und Lauben, von Schlingpflanzen umrankt, deren Wohlgeruch nie zuvor die Luft einer niedrigen Koralleninsel erfüllt hatte. In der ganzen Gruppe gab es nichts, das mit dem Garten Vater Pauls hätte verglichen werden können, und es kennzeichnete den Schöpfer dieses kleinen Gartens Eden, daß die Früchte, die darin wuchsen, seinen Pfarrkindern, insbesondere den Greisen, Kindern und Kranken, vorbehalten blieben. Sein Lohn – und er genügte ihm vollauf – bestand in der Freude, diesen Garten angelegt zu haben und ihn immer noch zu verbessern und zu verschönern.

Frau de Laage fand Vater Paul zu dieser Stunde emsig an der Arbeit; die alte Soutane aus grobem Stoff hatte er hochgeschürzt. Er war damit beschäftigt, Weisungen an einige junge Eingeborene zu erteilen, die fette, rötliche Erde mit verfaulten Kokosnußschalen und Korallensand mischten, um sodann eine nahe der Mauer gegrabene fünf Fuß tiefe Grube damit auszufüllen. Und der alte Mann legte auch selbst kräftig mit Hand an.

Als er aufblickte und seine Besucherin bemerkte, begrüßte er sie herzlich.

Dann sagte er: »Wie Sie sehen, meine Tochter, heißt es heute fleißig sein! Sehen Sie nur, welch prächtige Ladung Erde mir Kapitän Nagle mitgebracht hat. Ich pflanze dort drüben einen jungen Lorbeerbaum. Mit der Gattung habe ich es in Manukura noch nie versucht.«

»Unter Ihrer Obhut, Vater Paul, wird er sicherlich prächtig gedeihen«, meinte Frau de Laage.

»Wir wollen es hoffen! Wenn er sich nur halb so gut entwickelt wie der Mangobaum, werde ich sehr zufrieden sein. Haben Sie auf Tahiti jemals schönere Früchte gesehen als die hier?« Er wies auf ein Körbchen voll mit Früchten, das auf einer nahen Bank stand. »Sie sind für Tavis Tochter, die bald entbinden wird. Wollen Sie sie ihr auf dem Heimweg bringen? Aber eine müssen Sie selbst kosten.«

»Nein, nein, Tavis Tochter soll sie alle haben. Wirklich ein passendes Geschenk! In solchen Zeiten weiß eine Frau das zu schätzen ... Sie denken wirklich immer nur an andere, Vater Paul.«

»Unsinn! Es macht mir mehr Vergnügen, die Früchte wachsen zu sehen, als den anderen, sie zu essen. Kommen Sie, setzen Sie sich hierher, meine Tochter! Meine alten Knochen sind steif; ich muß mich ein bißchen ausruhen. Aber Sie sehen traurig aus, oder kommt es mir nur so vor? Sie haben doch nicht am Ende schlechte Nachrichten aus Frankreich erhalten?«

»Ich komme vom Friedhof«, entgegnete Frau de Laage. »Mama Rua ist dort, mit Fakahau. Ihr Grab ist fertig. Wird sie sterben, Vater?«

»Gewiß«, antwortete der Priester ruhig. »Sie haben doch das gleiche bereits bei anderen alten Leuten miterlebt.«

»Sie haben recht, Vater, aber es ist so seltsam, so ...«

»So unnatürlich, wollen Sie sagen, nicht wahr? Ich betrachte es nicht so. Nicht nur das ist natürlich, was wir Europäer wissen. Ich lebe zu lange auf Manukura, um das zu glauben. Und wir wissen wenig.«

»Aber sie ist so gesund und lebendig! Ich kann es nicht für möglich halten, daß wir sie so bald verlieren werden.«

»Sie weiß, daß es so ist, und sie wird sterben; genau so, wie sie es vorhersagt. Der Gedanke an den Tod beunruhigt Sie jetzt, Madame. Wenn Sie so alt sein werden wie Mama Rua und ich, wird er seine Schrecken für Sie verloren haben. Auch mein Grab ist bereit.« Und Vater Paul lächelte milde, als er mit dem langen Rohr seiner Pfeife auf eine schattige Ecke seines Gartens wies, in der sein Grab in der Tat seit langer Zeit gegraben war. »Sehen Sie? Ich bin ein richtiger Eingeborener geworden; das ist auch nicht gut anders möglich nach so vielen Jahren. So wie die anderen will ich vorbereitet sein, wenn meine Stunde kommt. Aber ich gehe nicht so bald! O nein; ich habe sicher noch viele Jahre Zeit. Hundert Jahre will ich alt werden. Und beinahe wünschte ich mir, noch hundert Jahre länger zu leben!«

»Haben Sie gar keine Sehnsucht nach der Heimat?«

»Nach der Heimat ...?«

»Nach Frankreich meine ich. Möchten Sie unser schönes Vaterland nicht noch einmal wiedersehen?«

Der alte Mann schüttelte ruhig den Kopf. »Was sollte ich dort beginnen, meine Tochter? Ich würde in dem Land, das Sie meine Heimat nennen, vor Heimweh sterben. Nein ... mein Herzenswunsch ist, mein Leben hier, wo ich fünfundfünfzig Jahre lang gearbeitet habe, zu beschließen. Aber wir reden soviel von Gräbern und vom Sterben, und darüber vergesse ich ganz, daß ich den jungen Lorbeerbaum dort drüben noch heute pflanzen muß!«

Der Gouverneur brachte den ganzen Tag an seinem Schreibtisch zu. Über dem großen Tisch, auf dem peinliche Ordnung herrschte, hing ein Ölbild seines Vaters, eines Veteranen des Deutsch-Französischen Krieges, in der Uniform eines Obersten der Infanterie. Der alte Herr, der seinem Sohn ungewöhnlich ähnlich sah, stand da, eine Hand auf dem Degenknauf; der obere Teil der Gestalt aber hob sich scharf von einem halb zur Seite gezogenen Plüschvorhang ab, hinter dem ein von Pulverdampf erfülltes Schlachtfeld zu sehen war. Sein Sohn hatte im Jahre 1918 ein Bataillon des gleichen Regiments kommandiert, und an der anderen Wand hing seine eigene Photographie in Majorsuniform, dem in einem romantischeren Zeitalter geschaffenen Ölbild seines Vaters gerade gegenüber. Noch ein drittes Bild hing im Zimmer: ein Farbdruck aus der » Illustration«, in einem schmalen Rahmen aus dunklem Holz. Er war betitelt »Das Café de la Paix während des Krieges«, und zumindest mir wehte aus diesem Bild immer der Geist und Atem jener erregenden Tage entgegen. Es stellt einen nebligen Herbstnachmittag kurz vor Eintritt der Dämmerung dar. Im Vordergrund war der Kiosk eines Zeitungsverkäufers sichtbar, dahinter erblickte man den von einer dichten Menschenmenge belebten Gehsteig und ganz im Hintergrund die berühmte Caféterrasse, auf der Soldaten aller verbündeten Armeen an kleinen Tischen ihren Aperitif tranken.

Ob das Bild in de Laage irgendwelche Gefühle weckte, weiß ich nicht; jedenfalls hörte ich ihn nie davon sprechen. In seinem Arbeitszimmer gab es für ihn nur Arbeit und nichts anderes. Es schien ihm ganz besonderes Vergnügen zu bereiten, seine Berichte zu schreiben, die stets in glattem akademischem Französisch abgefaßt waren und die er in seiner feinen, regelmäßigen Handschrift selbst zu Papier brachte, ohne jemals eine Ausbesserung vorzunehmen. Seine Statistiken über die Einfuhr und Ausfuhr der Inselgruppe, über Besitzänderungen von Grund und Boden und über die Sitzungen der verschiedenen Gerichtshöfe, denen er vorstand, waren kleine Kunstwerke. Möglicherweise wußte er, daß der Ruhm dieser Meisterwerke nur kurzlebig war; daß irgendein Beamter im Ministerium bestenfalls ein paar flüchtige Aufzeichnungen danach machte, ehe er sie in die Tiefen des Archivs versenkte. Aber ein solcher Gedanke, wenn er ihm überhaupt kam, störte die Befriedigung, die ihm ihre Abfassung bereitete, nicht im geringsten. Sein Arbeitszimmer war für ihn eine Stätte der Zuflucht vor störenden Gedanken jeglicher Art. Wenn er die Türe hinter sich schloß und auf die Reihe der amtlichen Jahrbücher, auf seine Kopierpressen, auf die längs der Wand aufgestellten Stühle für die Besucher, auf die endlosen Reihen der Registraturmappen, denen er innerhalb einer Minute jedes gewünschte Schriftstück entnehmen konnte, und auf den unerschöpflichen Vorrat von amtlichen Formularen jeder Größe blickte, dann verspürte er die Freude eines Schöpfers, der seine kleine, aber wohlgeordnete Welt überschaut.

Außerhalb seines Arbeitsraumes, wenn er nicht von seinen täglichen Pflichten in Anspruch genommen war, war der Gouverneur seiner selbst nicht sicher. Dann gab es Entscheidungen zu treffen und Urteile abzugeben über Dinge, die noch nicht zu Ende gediehen waren, die noch keine feste Form angenommen hatten, kurz, die man noch nicht auf bequeme und angenehme Art »ablegen« konnte.

Dazu gehörte zum Beispiel an diesem Abend der Brief des Bischofs in Sachen Vater Paul. De Laage und seine Frau erwähnten das Schreiben an diesem Abend nicht, weder während des Abendessens noch auch nachher, als er auf der Veranda seine lange dunkle Zigarre rauchte, während sie in dem anschließenden Salon die neuen Musikstücke spielte, deren Noten sie soeben aus Frankreich erhalten hatte. Aber wenn der Gouverneur auch nicht darüber sprach, so bereitete ihm die Nichterfüllung seiner übernommenen Pflicht innerlich doch tiefe Sorgen. Er hätte Vater Paul sofort benachrichtigen sollen, wie der Bischof es von ihm verlangt hatte, aber er war nun einmal schwach genug gewesen, seiner Frau zu versprechen, dem Priester die Nachricht von seiner Abberufung bis zur Rückkehr der Katopua zu verheimlichen ... Nun blieb ihm nichts übrig, als sein Wort zu halten, so schwer es ihm auch fiel ...

Um zehn Uhr ging er zur Ruhe, schlief einige Stunden sehr unruhig und lag dann wieder völlig wach; aufs neue kreisten seine Gedanken um Vater Paul. Er hegte die höchste Zuneigung und Achtung für den Priester ... jeder Tag des Aufschubes würde die Pflicht, ihm die Wahrheit zu sagen, schwerer machen ... der Gedanke an die einschneidende Änderung, die die Abreise Vater Pauls in der kleinen Gemeinschaft hervorrufen würde, schmerzte ihn sowohl um seiner selbst als auch um seiner Frau willen aufs tiefste ... Durch wen würde der Priester wohl ersetzt werden? ... Eines war gewiß: Wer immer es sein mochte, niemals würde er den Platz des verehrungswürdigen alten Mannes ausfüllen können ...

Der Gouverneur versuchte, diese unangenehmen Gedanken zu verbannen, und plötzlich fiel ihm Terangi ein und der Brief, den der Gouverneur von Tahiti ihm über diesen Fall geschrieben hatte. War es denkbar, daß der Bursche den Rückweg nach Manukura gefunden hatte? Versucht hatte er es bestimmt. Seine Familie lebte hier ... Nagle war ein durchaus ehrenhafter Mann. Es war nicht wahrscheinlich, daß Terangi sich auf dem Schoner des Kapitäns versteckt haben könnte, aber sämtliche Bewohner der Tuamotu-Insel betrachteten den Kerl als eine Art Helden; auf jeder Insel der Gruppe würde man ihm mit Freuden einen Kutter zur Verfügung stellen. Nichts wäre leichter, als einen einzelnen Fahrgast auf einer der abgelegenen Inselchen rings um Manukura abzusetzen und wegzusegeln, ohne daß jemand etwas davon wußte ... Einen Gesetzesbruch zu begehen, bedeutete diesen Menschen nichts, wenn es sich um einen ihrer Rasse handelte ... Schlimm, dieser Mangel an Achtung vor dem Gesetz, der am Ende gar die Folge einer zu wenig straffen Verwaltung war ...

De Laage warf sich unruhig auf seinem Bett hin und her ... er fragte sich, ob er nicht zum Teil selbst für die Haltung der Eingeborenen der Obrigkeit gegenüber verantwortlich wäre. Wieder legte er sich die Frage vor, ob er die Gesetze nicht zu lässig handhabte ... in Tahiti war es sicher so; der Bursche hätte nicht so oft aus dem Gefängnis entweichen können, wenn die Polizei- und Gefängnisvorschriften strenger gehandhabt worden wären ... Gerechtigkeit für die Eingeborenen – das war alles schön und recht, aber sie mußte stets mit der nötigen Festigkeit verbunden sein. Diese Leute waren allzeit bereit, die Schwäche der Behörden, oder was sie dafür hielten, auszunützen ...

Diese Grübeleien ließen de Laage nicht einschlafen.

Beim Schein seiner Taschenlampe blickte er auf die Uhr. Es war ein Uhr vorbei. Er stand auf, kleidete sich an, ging auf die Veranda hinaus und schlenderte langsam den Pfad entlang, der längs der äußeren Ufer vom Dorf wegführte. Es war eine herrliche Nacht, kühl und wolkenlos. Er hoffte, daß ein Spaziergang von drei Meilen zum östlichen Ende der kleinen Insel und dann wieder zurück, längs des Lagunenstrandes, ihm einen gesunden Schlaf sichern würde.

Der Weg war sehr einsam; nicht ein einziges Haus lag am äußeren Strand, von einem Ende der Insel bis zum andern, aber überall gab es ausgetretene Pfade; dieser hier wurde von den Eingeborenen benutzt, wenn sie längs der Klippen fischten, häufig auch von den Frauen, die nach Regengüssen in den Süßwassertümpeln bei den Felsen ihre Wäsche wuschen.

Der Mond stand schon tief am Himmel, und selbst de Laage, der sicherlich keine empfindsame Natur war, mußte den Zauber des silbernen Lichtes empfunden haben, das sich in der auf das Riff anstürmenden Brandung spiegelte. Ja, die niedrigen Koralleninseln hier entbehrten in solchen Nächten nicht der Schönheit, das mußte der Gouverneur zugeben. Aber wie oft hatte er während seiner achtzehnjährigen Dienstzeit auf dieser Insel wohl Gelegenheit gehabt, diese Schönheit zu beobachten? Wie oft hatte er diesen Spaziergang in einer solchen Nacht gemacht? Nicht oft ... in den letzten Jahren. Wenn er es recht überlegte, so konnte er sich nicht erinnern, sich während des letzten Jahres ein einziges Mal nach dem Abendessen mehr als einige Schritte vom Regierungsgebäude entfernt zu haben.

Nach einer halben Stunde hatte er beinahe das Ende des Inselchens erreicht. Er ging zur Lagunenseite hinüber, setzte sich an den Strand, um den untergehenden Mond zu beobachten; eine Weile blieb er so sitzen, ohne seine Gedanken auf einen bestimmten Gegenstand zu konzentrieren. Das war erfrischend und beruhigend nach den quälenden Grübeleien der vorangegangenen Stunden. Als er den Kopf wandte, bemerkte er, daß sich jemand vom Dorfe her näherte ...

Nun erkannte er, daß es ein Knabe war, über dessen Schultern eine Tragstange hing, an deren Enden große Petroleumkannen befestigt waren. Der Gouverneur richtete sich kerzengrade auf und maß den Burschen, der da so plötzlich in seine Einsamkeit drang, mit streng prüfendem Blick. Der Polizist in ihm war plötzlich erwacht. Was konnte der junge Mensch zu solcher Stunde hier wollen? Was enthielten diese Kannen? Wasser natürlich; sie wurden für nichts anderes benutzt, wenn sie ihrem ursprünglichen Zweck gedient hatten; wohin aber in Dreiteufelsnamen trug er sie?

Der Junge eilte im Licht des Mondes dahin, ohne den Gouverneur zu bemerken, und verschwand dann in einem Dickicht. De Laage erhob sich und folgte ihm. Er erreichte ihn, als er gerade seine Last neben einem Segelboot niederstellte, das, von Bäumen verdeckt, unmittelbar am Strande auf den Wellen schaukelte. Plötzlich bemerkte der Knabe, daß er nicht allein war; er fuhr jäh auf und schien zuerst die Absicht zu haben, sein Heil in der Flucht zu suchen. Der Ausdruck des Schreckens in seiner Miene steigerte noch den Verdacht des Gouverneurs. De Laage erkannte sogleich das vom Mond hell beschienene Gesicht da vor ihm. Der Junge war Mako, Tavis jüngster Sohn, der seit einiger Zeit als Matrose auf Vater Pauls Kutter diente.

Was sich dann begab, erfuhr ich von Tavi, aber erst viel später ...

»Was tust du hier?« fragte der Gouverneur. Der Junge gab keine Antwort. De Laage beugte sich vor, um in das Kanu zu blicken. Es war mit Vorräten der verschiedensten Art beladen. Äxte, Speere zum Fischen, Kochgeräte, Bettzeug, Kisten und Bündel waren so darin verstaut, daß der Fassungsraum des Bootes vollkommen ausgenützt schien. Der Gouverneur zündete ein Streichholz an, um den Inhalt des Kanus näher zu untersuchen. Erstaunlich, was da alles aufgestapelt war!

Brüsk wendete er sich dem Knaben zu und fragte aufs neue: »Was tust du hier?«

Noch immer kam keine Antwort.

»Kannst du nicht sprechen? Sage mir, wohin du mit diesem Boot fahren wolltest?«

Mako zögerte, dann antwortete er, ohne aufzuschauen: »Nach Motu Atea, Monsieur.«

Der Gouverneur dachte nach, ohne den Knaben aus den Augen zu lassen. Die Kopraernte auf Motu Atea war schon lange vor der Ankunft der Katopua beendet worden, und die Leute, die dort gearbeitet hatten, waren nach Manukura zurückgekehrt. Welchen Grund konnte dieser Junge haben, zu solch einer Stunde und mit so reichlichen Vorräten die Insel aufzusuchen?

»Nach Motu Atea? Zu welchem Zweck? ... Was hast du dort vor?«

Mako antwortete nicht; stumm stand er da, mit gesenktem Kopf, und starrte zu Boden. Ungeduldig ob dieses verstockten Schweigens, herrschte ihn de Laage an: »Du kommst jetzt mit mir!«

Raschen Schrittes ging er in der Richtung auf das Dorf zurück, gefolgt von dem Knaben. Keinen Augenblick dachte de Laage daran, daß Mako weglaufen könnte. Und auch der Junge selbst war viel zu verwirrt und ängstlich, um eine solche Möglichkeit ins Auge zu fassen. Seine ehrfürchtige Scheu vor dem Gouverneur war viel zu groß, als daß ihm der Gedanke gekommen wäre, seinen Befehl zu mißachten.

De Laage dachte während des Gehens angestrengt nach. Seltsam, diese Sache ... höchst seltsam! Was zum Teufel führte der Junge im Schilde? Der Häuptling selbst hatte ihm gesagt, daß der letzte Mann vorige Woche von der Kopraernte auf Motu Atea zurückgekehrt sei. Was hatte also Mako dort vor? Seine Angabe, sein Ziel sei Motu Atea, war offenbar eine Lüge! Aber welchen Grund hatte er zu lügen? ... Plötzlich fuhr dem Gouverneur ein Gedanke durch den Kopf. Terangi! ... Um Himmels willen, wäre es möglich? ... War der Bursche auf Manukura, verbarg er sich auf einem der Inselchen? ... Warum nicht? Seine Frau war hier, alle seine Verwandten waren hier! Würden sie ihn nicht alle schützen, ohne einen Augenblick zu zögern? Viele Wochen waren seit seiner Flucht aus dem Gefängnis vergangen; er hätte genug Zeit gehabt, die Heimat zu erreichen. Sein spurloses Verschwinden aus Tahiti konnte nichts anderes bedeuten, als daß er die Insel auf irgendeine Art verlassen hatte!

De Laage muß bei diesem Gedanken vor Aufregung gebebt haben! Großer Gott ... wenn es so war, dann würde er sich dem Gelächter der ganzen Kolonie aussetzen! Ein Gouverneur, der keine Ahnung davon hatte, daß ein berüchtigter Verbrecher sich in unmittelbarer Nähe seines Amtssitzes aufhielt, auf einer Insel, die kaum größer war als ein mittlerer Gutsbesitz! Das Dorf lag in tiefster Ruhe, als sie an seinen verstreuten Häusern vorbeikamen. Hier und da drang ein schwacher Lichtschein zwischen den Lücken der Strohdächer hervor; man hatte eine Petroleumlampe kleingedreht brennen lassen, zum Schutz gegen böse Geister, aber die Bewohner schliefen.

Nur im Hause Mama Ruas wachte man. Marama kauerte nahe der Tür, die einen Spalt breit offenstand, und erwartete Makos Rückkehr. Als sie Schritte hörte, öffnete sie die Türe noch ein wenig weiter. Die Umrisse der beiden sich nähernden Gestalten waren im Licht der Sterne nur undeutlich sichtbar, aber als sie am Haus vorüber waren, hoben sie sich einen Augenblick lang deutlich von der Lagune im Hintergrund ab. Die scharfäugige Marama erkannte sie sogleich. Sie stieß einen leisen Schreckensschrei aus und schloß dann sacht die Tür.

»Mama!« flüsterte sie. » Aué, Mama!«

Die alte Frau eilte in der Dunkelheit zu ihrer Schwiegertochter. »Was gibt es? Wer ging vorüber? Es waren ihrer zwei ...!«

»Monsieur de Laage! Und ... Mako!« – » Eaha?«

»Ja ... es war Monsieur de Laage! Ich habe ihn ganz deutlich gesehen ...« Marama sprang auf. »Ich muß es Vater sagen ...!«

Mama Rua verkrampfte vor Angst die Hände ineinander. »Warte, Kind! Geh nicht zu deinem Vater! Folge den beiden! Verbirg dich gut! Verstecke dich unter einem Fenster und lausche! Ich werde unterdessen deinen Vater verständigen ...«

Im nächsten Augenblick war Marama in der Dunkelheit verschwunden. Leichten Schrittes eilte sie im Dunkel, neben dem Weg den beiden nach.

Gefolgt von dem verängstigten Mako erreichte de Laage sein Haus, schritt leise über die Veranda, betrat dann sein Arbeitszimmer und zündete die Lampe an. Er stellte einen Stuhl so neben seinen Schreibtisch, daß der Schein der Lampe Mako voll beschien. Dann gab er dem Knaben ein Zeichen, dort Platz zu nehmen, und ließ sich im Sessel vor dem Tisch nieder. Der Junge warf ihm einen furchterfüllten Blick zu; dann faltete er die Hände und blickte zu Boden.

»Du heißt Mako, wie?« begann der Gouverneur das Verhör in dem trockenen Amtston, in dem er bei Gerichtsverhandlungen die streitenden Parteien zu befragen pflegte. »Also, Mako, heraus mit der Wahrheit! Wohin wolltest du mit dem Kanu?«

Der Knabe gab keine Antwort.

»Du wirst dieses Zimmer nicht verlassen, ehe du es mir wahrheitsgetreu gesagt hast, damit du es nur weißt«, fuhr de Laage fort, »und wenn du mich lange warten läßt, so ist es nur dein eigener Schaden. Antworte mir! Für wen waren die Sachen im Kanu bestimmt? Wer gab dir die Weisung, sie dorthin zu tragen?«

Der Knabe fuhr fort, mit angstverzerrter Miene zu schweigen. Gerade als der Gouverneur aufsprang, um Mako noch zorniger anzufahren, als ihm in Wirklichkeit zumute war, erschien Frau de Laage auf der Türschwelle.

»Was gibt es, Eugène?« fragte sie.

Er gab ihr kurz Auskunft und fuhr dann fort:

»Da ich dich nun einmal leider geweckt habe, meine Teure, hast du vielleicht die Freundlichkeit, ein paar Minuten hierzubleiben und mir zu helfen. Vielleicht versteht dieser Junge nicht soviel Französisch wie ich glaubte. Bitte frage ihn in seiner Sprache, wohin er wollte. Sage ihm, daß es zwecklos für ihn ist, zu lügen. Ich will die Wahrheit hören!«

Frau de Laage lächelte Mako ermutigend zu und befragte ihn mit sanfter Stimme. Er versuchte, ihren Blick auszuhalten, vermochte es aber nicht ... dann gab er flüsternd Antwort.

»Er sagt, daß er nach Motu Atea fahren wollte.«

»Unsinn! Das hat er mir auch gesagt! Er versteht so gut Französisch wie du selbst, will mir jetzt scheinen, warte nur, ich werde ihn wieder selbst befragen. Es wird nicht lange dauern, bis ich die Wahrheit erfahre!« Er wandte sich wieder dem Knaben zu und sprach in strengem Ton: »Sieh mir ins Gesicht, Mako! Blicke auf, sage ich dir!«

Langsam hob der Junge den Kopf.

»Für wen waren die Sachen im Kanu bestimmt?«

Mako öffnete den Mund, aber kein Wort wurde hörbar. Wieder versuchte er, zu Boden zu schauen, aber die Augen des Gouverneurs übten eine fast hypnotische Wirkung auf ihn aus. Der Ausdruck seines Gesichts, den das helle Lampenlicht enthüllte, war geradezu mitleiderregend.

»Soll ich statt deiner antworten?« sagte de Laage in grimmigem Ton. »Soll ich dir sagen, für wen sie bestimmt waren?« Er hielt inne, die Miene des Knaben mitleidlos musternd. »Für Terangi! Er ist hier! Du weißt es!«

Makos Gesichtsausdruck sprach eine nur zu beredte Sprache. Wenn der Knabe eine schriftliche Aussage über alles, was er wußte, über alle seine Absichten gemacht hätte, so wäre das Geständnis kaum vollständiger ausgefallen ...

Marama, die sich unter ein offenes Fenster gekauert hatte, sank in sich zusammen und barg den Kopf in den Händen, als sie Terangis Namen hörte. Aber sogleich hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie schlich die Verandastufen hinab, huschte wie ein Schatten durch die Pforte und rannte in einem Tempo, das nur wenige junge Männer des Dorfes erreicht hätten, auf das Haus ihres Vaters zu.

Der Gouverneur hatte unterdessen seiner Frau einen einzigen Blick zugeworfen. In seinem Gesichtsausdruck ging keine Veränderung vor; was in seinem Innern vorging ... nun, das war eine andere Sache.

»Wann ist er gekommen?« fragte er dann. »Antworte mir, Junge! Wie ist er hierhergelangt?«

Mako war mit seiner Selbstbeherrschung zu Ende. Kaum hörbar murmelte er: »In einem Kutter ...«

»In einem Kutter? In was für einem Kutter? Germaine, wessen Kutter ist während meiner Abwesenheit hier gelandet?«

»Nur der Vater Pauls, soviel ich weiß ...«

De Laage konnte einen Ausruf schmerzlichen Erstaunens nicht unterdrücken. Rasch beugte er sich zu Mako hinab und sah ihm scharf in die Augen.

»Mako, ist Terangi auf Vater Pauls Kutter hierhergekommen?«

Der Knabe gab keine Antwort.


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