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Zweites Kapitel

Der Schoner, auf dem wir uns gegenwärtig befinden, wurde unmittelbar vor dem Weltkrieg gebaut. Die Leute von Manukura fühlten geradezu eine Art Besitzerstolz auf ihn, denn er war aus dem Holz gezimmert, das sie selbst nach den Weisungen des Kapitäns Nagle aus den Stämmen der Tohonu-Bäume zurechtgeschnitten hatten, und das dann im Kutter auf die Schiffswerft in Tahiti befördert worden war. Ein wunderbares Holz, dieses Tohonu, es kommt nirgends anders vor als auf diesen Inseln. Wenn die Bäume frisch gefällt sind, zieht sein Geruch die Schmetterlinge von weit und breit an. Es fault nicht und wird mit der Zeit immer härter und zäher. Es ist jetzt einundzwanzig Jahre her, seit die Katopua vom Stapel lief, und sie kann noch gut und gern fünfzig weitere Jahre überdauern. Ihren damaligen Kapitän hat sie jedenfalls überlebt ...

Nagle war schon in seiner frühesten Jugend hierhergekommen. Er war ein Engländer, aber das wußten die wenigsten. Er sprach französisch wie ein Franzose, und zwar merkwürdigerweise wie ein Franzose aus Marseille. Seine Landsleute hielten ihn für einen Amerikaner, und die Amerikaner für einen Engländer. Die Eingeborenen der umliegenden Inseln wiederum hielten ihn, wenn sie in dunkler Nacht seine Stimme hörten, mehr als einmal für einen Mann ihres Stammes. Seine Tüchtigkeit als Seemann kennzeichnete ihn als Engländer, sein Aussehen und seine Sprechweise beileibe nicht.

Er begann seine Laufbahn als Koch auf einer Brigg, die der Reederei Brander gehörte und die hauptsächlich Handel mit Südamerika betrieb, in den alten Tagen, als chilenische Dollars in dieser Gegend der Welt noch die gebräuchlichste Geldsorte waren. Koch, Matrose, Quartiermeister, Maat, Kapitän – mit größter Leichtigkeit erklomm er die Stufenleiter seines Berufs. Er hatte es sich vorgenommen, sein eigenes Schiff zu besitzen, und zwar hier in den Tuamotus, und schließlich erreichte er sein Ziel auch. Als sein Schoner endlich vom Stapel lief, da steckten die Ersparnisse von fünfundzwanzig harten Jahren auf See darin.

Wie jeder Kapitän in dieser Gegend hatte er eine Lieblingsinsel, deren Handel sozusagen sein Monopol war und auf die er sich in seinen alten Tagen einmal zurückzuziehen hoffte. Die Leute von Manukura betrachteten Kapitän Nagle als einen der ihren. Zweimal jährlich, mit unbeirrbarer Regelmäßigkeit, fuhr das Schiff in die Lagune hinein und brachte Mehl, Reis, Tabak, Büchsenfleisch, bedruckten Kattun, Stahlwaren und eine Menge anderer Sachen für Tavis Laden. Und dafür lud er dann hier die hundert Tonnen Kopra, die immer schon fertig in Ballen gepackt im Schuppen beim Landungsplatz auf ihn warteten. Er kannte jeden Menschen auf der Insel, die Kinder nicht ausgenommen; er wußte, welche Frau guter Hoffnung war; welches Kind demnächst in der Kirche konfirmiert werden sollte; welche Leute Verwandte auf anderen Inseln hatten und welcher Art das verwandtschaftliche Verhältnis war. Jedesmal, wenn er abfuhr, nahm er eine unglaubliche Menge Aufträge mit, und er erledigte sie alle getreulich, mochten sie auch noch so klein und unwichtig sein, ohne irgendwelchen Gewinn für sich daraus zu ziehen. Gab ihm ein altes Mütterchen das Muster einer bestimmten Kattunsorte mit, so besorgte er ihr genau die gleiche, und für die Mädchen kaufte er in den Geschäften von Papeete Bänder in der Farbe, die sie ihm vorschrieben. Als Dank für alle die Dienste, die er den Inselbewohnern leistete, konnte Nagle aber auch von ihnen alles haben, was er von ihnen verlangte.

Es stand von allem Anfang an fest, daß die Mannschaft des Schoners aus Bewohnern von Manukura bestehen müsse. Wie alle Männer von den Niedrigen Inseln wurden sie ausgezeichnete Seeleute, sobald sie einmal gelernt hatten, mit Tau und Kompaß umzugehen. Der Beste von allen aber, die als Matrosen für die Katopua geheuert wurden, war Terangi, ein Bursche von sechzehn Jahren, den Nagle ein paar Wochen vor Kriegsbeginn an Bord nahm.

Die Bewohner der Tuamotus wurden nicht zum Kriegsdienst einberufen, aber in Terangis Adern floß das Blut kriegsgewohnter Häuptlinge, und nachdem er einmal Tahiti besucht und dort das Einexerzieren der Truppen und ihre Abreise nach Europa gesehen hatte, war der ganze Einfluß des Kapitäns notwendig, um den Jungen davor zurückzuhalten, sich freiwillig zu melden. So jung er war, so prächtig gewachsen und über seine Jahre kräftig war er. Man hätte ihn leicht für achtzehn oder neunzehn halten können. Er stellte einen Typ dar, den man zuweilen unter den Ariki, den Angehörigen der polynesischen Oberklasse findet: schmallippig und mit Gesichtszügen, die an die eines Adlers gemahnten; dabei ebenso unerschrocken und zuverlässig wie gutmütig.

Nagle hatte Terangis Mutter, die man Mama Rua nannte, seit Jahren gekannt, eine Witwe, deren Kinder weithin über ferne Inseln zerstreut lebten, wie es auf den Tuamotu-Inseln häufig vorkommt, denn die Leute hier hüten sich vor Inzucht. Er hatte oft mit der schlanken, grauhaarigen Frau geplaudert, und zwar am häufigsten über Terangis Zukunft; daß er die Absicht habe, den Jungen zu sich zu nehmen, einen tüchtigen Seemann aus ihm zu machen und ihm später einmal, wenn es Zeit für ihn wäre, sich zurückzuziehen, den Schoner zu überlassen. Dem Burschen erzählte man natürlich von alledem nichts. Er ging zur See, als er alt genug dazu war, genau so wie viele andere es taten, und es kam ihm ganz natürlich vor, daß ein Teil des väterlichen Bodens dem Kapitän überlassen wurde, der später einmal ein Haus darauf bauen und darin leben wollte.

Die Kriegsjahre vergingen, und nur zweimal brachten sie ein wenig Aufregung in diese weltabgeschiedene Gegend: das erstemal, als die Kreuzer »Scharnhorst« und »Gneisenau« Papeete bombardierten, und dann, als die Nachricht von den kühnen Fahrten des Grafen Luckner und seines Seeadler bis zu den Tuamotu-Inseln drang. Abgesehen von diesen beiden Episoden hätte der Krieg für die Inselleute ebensogut auf einem anderen Planeten geführt werden können. Kopra ist, wie Sie wissen, ein wertvolles Rohmaterial für die Glyzerinfabrikation, und die starke Nachfrage nach Explosivstoffen brachte den Leuten auf diese Art gute Geschäfte. Der Kapitän machte sich seine eigenen Gedanken über den Krieg, aber die behielt er für sich. Jedenfalls sah er keinen Grund, warum George Nagle müßig beiseite stehen sollte, wenn so viele andere aus dem Völkerringen geschäftlichen Nutzen schlugen.

Als der Krieg vorüber war und die Völker begannen, die Welt, die sie in Trümmer geschlagen hatten, wieder aufzubauen, war Nagle im Besitze eines sehr beträchtlichen Kontos bei der Banque de l'Indo-Chine, und Terangi war inzwischen Maat der Katopua geworden.

Einundzwanzig Jahre war Terangi damals alt: ein hübscher, hellhäutiger Bursche, nicht groß, aber schon allgemein bekannt wegen seiner Kraft und Regsamkeit. Wenn der Schoner Inseln anlief, die keine Einfahrt hatten, und das Schiff am äußersten Riff laden mußte, so konnte er ohne besondere Anstrengung mit vier Sechzig-Kilo-Ballen voll Kopra auf dem Buckel hundert Meter weit über den unebenen Korallenboden des seichten Meeres laufen. Die meisten Matrosen tragen nur zwei; drei gelten schon als eine schwere Last für einen kräftigen Mann. Es gibt keine anstrengendere Arbeit in der Welt als das Laden von Kopra-Schonern! Das ist eine Arbeit, bei der einem beinahe der Rücken bricht. Terangi entwickelte sich großartig dabei und fand zwischendurch noch Zeit, ein erfahrener Seemann zu werden. Er führte das Schiff so gut wie der Kapitän selber. Dabei war er ein bescheidener Junge, ohne eine Spur von Anmaßung in seinem Wesen; nur, wenn man sein natürliches Würdegefühl verletzte, dann mußte man sich vor ihm in acht nehmen.

Um diese Zeit war es, als er in eine Sache hineingeriet, die für sein künftiges Leben die schwersten Folgen haben sollte.

Die Katopua war mit einer Ladung Kopra nach Papeete zurückgekehrt, und eines Nachmittags, als die Tagesarbeit vorüber war, ging Terangi in die Kneipe des Vaters Duval, um dort, zusammen mit zwei Kameraden, eine Flasche Bier zu trinken. Das Lokal lag am Meeresstrand und wurde von Seeleuten, Pflanzern und mancherlei anderen Gästen besucht. Kapitän Nagle saß selbst an einem Tisch in der Nähe und sah, was sich ereignete.

Der monatliche Dampfer aus Sidney lag gerade im Hafen, und außer den gewöhnlichen Gästen waren an diesem Abend auch Passagiere des Dampfers zu Duval gekommen, die sich an Land ein bißchen die Beine vertreten wollten. Ein beleibter Mann mit gerötetem Gesicht kam herein und blieb einen Augenblick nahe der Tür stehen, um sich nach einem leeren Tisch umzusehen. Er hatte schon mehr Alkohol getrunken, als gut für ihn war, und er hatte immer noch Durst. Mit einem schmutzigen Taschentuch wischte er sich das schwitzende, versoffene Gesicht ab, wie er so bei der Türe stand, und dabei sah er sich herausfordernd um, als wolle er niemandem raten, ihm etwa keinen Platz zu machen, wenn er ihn dazu aufforderte. Es war kein einziger Stuhl frei, aber der Mann hielt es offenbar für unter seiner Würde, am Bartisch zu stehen. Plötzlich ging er zu dem Tisch hinüber, an dem Terangi mit seinen Freunden saß, und forderte sie auf, wegzugehen. Seine Gebärden drückten ebenso klar, wie Worte es vermocht hätten, aus: »Ich bin weiß. Ihr nicht. Fort mit euch!«

Die Polynesier sind höfliche und zuvorkommende Menschen. Wenn der Mann auch nur halbwegs anständig ersucht hätte, man möge ihm Platz machen, so wäre es sofort geschehen. Aber er wollte den ganzen Tisch für sich allein. Zwei der jungen Leute standen auf, aber Terangi rührte sich nicht. Er schenkte dem Menschen gar keine Beachtung, sondern fuhr ruhig fort, sein Bier zu trinken. Der Mann, der offenbar eine von unterwürfigen Eingeborenen bevölkerte Kolonie bewohnte, war wütend darüber, daß der »Nigger« überhaupt keine Notiz von ihm nahm. Sein Arm schoß vor, und seine mächtige Tatze landete mitten in Terangis Gesicht. Der wurde beinahe vom Stuhle heruntergeworfen.

Terangi sprang auf und versetzte seinem Angreifer einen regelrechten Boxhieb, in den er die ganze Kraft seines muskulösen Armes legte. Sie werden zugeben, daß der Kerl nichts anderes verdiente, und keiner von denen, die dabei waren, war anderer Ansicht. Zum Unglück für Terangi hatte sein Schlag den Unterkiefer des Mannes gebrochen. Als der Kerl wieder zum Bewußtsein kam, wurde er ins Krankenhaus gebracht, und anstatt sich hübsch still zu verhalten, bauschte er den Fall gewaltig auf. Er war britischer Staatsbürger. Er verlangte sein Recht! Es stellte sich heraus, daß er in seiner Heimat ein Mann von großem Einfluß war, ein Abgeordneter oder so etwas. Kabeldepeschen gingen hin und her, der englische Konsul nahm sich natürlich sogleich des Falles an, man machte ein Politikum daraus, und das Ende vom Lied war, daß Terangi trotz der für ihn günstigen Aussagen Kapitän Nagles und aller anderen Augenzeugen wegen schwerer Mißhandlung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde.

Der Kapitän schäumte vor Wut, als er das Urteil hörte, aber er gab sich Mühe, Terangi das nicht merken zu lassen. Er besuchte ihn wenige Tage, ehe der Schoner den Hafen verließ, gab ihm väterliche Ratschläge und machte ihm die Notwendigkeit klar, seine Strafe geduldig und guten Mutes auf sich zu nehmen. Terangi war zu stark, das war die ganze Geschichte! Das nächste Mal, wenn er wieder einmal Ursache hatte, jemandem seine Faust ins Gesicht zu schleudern, sollte er besser aufpassen, um ihm nicht den Kiefer zu brechen. Die sechs Monate würden rasch vorübergehen. Nagle würde Marama, Terangis junger Frau, die er vor sechs Wochen geheiratet hatte, die Geschichte erklären und ihr die kleinen Geschenke bringen, die ihr Mann für sie gekauft hatte.

Terangi hörte ruhig zu und schien den wohlgemeinten Rat entsprechend zu würdigen, aber trotz alledem war Nagle keineswegs sicher, ob seine Worte auf den jungen Mann wirklich Eindruck gemacht hatten. Er kannte die Männer von Tuamotu im allgemeinen und Terangi im besonderen und er hatte wenig Hoffnung, daß der Junge sich der strengen Gefängniszucht geduldig unterwerfen werde. Seine Befürchtungen erwiesen sich als nur zu begründet. Am Tag, an dem der Schoner auslief, erfuhr er, daß Terangi in der vorangegangenen Nacht entwichen war. Der Polizeichef mit einigen seiner Leute durchsuchte den Schoner, als das Schiff gerade im Begriff war, die Anker zu lichten. Er war überaus höflich und entschuldigte sich viele Male. Aber es sei nun einmal nicht ganz ausgeschlossen, daß Terangi sich an Bord versteckt halte. Er, der Commissaire, kenne Kapitän Nagle allerdings gut genug um zu wissen, daß er zu solchem Tun niemals seine Einwilligung gäbe, und es sei ja auch anzunehmen, daß der Junge alles vermeiden werde, was Nagle Ungelegenheiten bereiten könne ... Aber immerhin, Pflicht sei Pflicht, das müsse der Herr Kapitän einsehen!

Nun gut, der Herr Kapitän sah es ein. Nach einer ebenso gründlichen wie vergeblichen Durchsuchung des Schiffes entschuldigte sich der Kommissar aufs neue mit großer Höflichkeit und kehrte wieder an Land zurück.

Das war der erste von Terangis zahlreichen Ausbrüchen.

Er wurde vierzehn Tage, nachdem er entwischt war, gefunden, denn er hatte damals noch zu viel Vertrauen in seine Mitmenschen. Sehen Sie, seit vielen Jahrhunderten waren die Einwohner von Tahiti und die der Niedrigen Inseln einander nicht besonders freundlich gesinnt. Ein Wildschweinjäger hoch oben im Punaruu-Tal hieß Terangi in seinem kleinen Zelt willkommen, gab ihm zu essen und entdeckte bald, wer er war. Der Jäger lud Terangi in sein Haus unten an der Küste ein und verriet ihn der Polizei, während er schlief. Der damalige Leiter des Gefängnisses, ein sehr anständiger Kerl, ließ Terangi mit vierzehn Tagen Einzelhaft davonkommen, der geringsten Disziplinarstrafe, die ihm seine Vorschriften erlaubten. Und er sprach mit dem Jungen wie ein Onkel, kurzum, er sagte ihm genau das gleiche, das ihm Nagle gesagt hatte.

Nun werden Sie aber genau so gut wie ich wissen, daß Einzelhaft an niemandem spurlos vorübergeht; für einen Menschen wie Terangi bedeutete sie eine unerträgliche Qual. Fünf Tage lang hielt er es aus, dann brach er das Schloß seiner Zelle auf und entfloh neuerdings ins Gebirge.

Nach vierzehn Tagen wurde er wieder eingefangen und seine Strafe um ein Jahr verlängert. Seinen ersten gelungenen Fluchtversuch hatte er gemacht, als er einer Arbeitskolonne zugeteilt gewesen war. Ein Ausbruch aus dem Gefängnis war eine andere Sache und konnte nicht so milde beurteilt werden ...

Als er das nächste Mal floh, nahm er ein Gewehr aus dem Wärterhaus mit, samt der dazugehörigen Munition. Das Leben in dem unbewohnten Inneren von Tahiti war nicht leicht. Er brauchte ein Gewehr, um Wildschweine jagen zu können, aber die Behörden glaubten natürlich an ein anderes Motiv. Sie waren der Ansicht, daß Terangi die Absicht gehabt habe, sich mit der Flinte zu verteidigen. Er wurde für das Volk allmählich eine romantische Figur, fast eine sagenhafte Gestalt. Da man wußte, daß er bewaffnet war, war es andererseits der Polizei leicht, sich ihn als einen gewalttätigen Desperado vorzustellen, als eine Gefahr für die Sicherheit der Gebirgspfade. Als man ihn aufs neue einfing, wurde seine Strafe wieder verlängert, und diesmal gleich um fünf Jahre.

Es hätte keinen Zweck, auf die Einzelheiten seiner Abenteuer während dieser Zeit einzugehen. Es wird Ihnen genügen, wenn ich Ihnen sage, daß er während der nächsten fünf Jahre achtmal ausbrach. Er bewies eine Schlauheit und gleichzeitig eine grimmige Entschlossenheit in der Verfolgung seines Zieles, die Freiheit wiederzugewinnen, wie sie die Polizei von Tahiti noch nie erlebt hatte. Er hätte nur durch Mittel, die auf die Dauer unmenschlich gewesen wären, im Gefängnis gehalten werden können, und die Behörden vergaßen nicht ganz die geringfügige Ursache, die ihn ursprünglich hinter Schloß und Riegel gebracht hatte. Man machte vergebliche Versuche, ihn durch Drohungen zur Vernunft zu bringen. Sobald man ihm innerhalb der Kerkermauern wieder ein wenig Freiheit gewährte, fand er neue Mittel und Wege, um zu fliehen. Die Leute von Tahiti hegten, obgleich sie ihn immer wieder aufs neue verrieten, eine geheime Bewunderung für ihn, und er wurde insbesondere für die kleinen Jungen der Insel ein Held. Die Gendarmen, die sich gezwungen sahen, ihm in wilden, schwer zugänglichen Gegenden nachzujagen, sahen ihn freilich immer noch in einem anderen Licht. Er machte die Polizei zum Spott der ganzen Insel. Inzwischen hatte man ihn zu einer Gesamtstrafdauer von sechzehn Jahren verurteilt.

Obgleich Terangi die Ungerechtigkeit seiner ursprünglichen Bestrafung bitter empfand, war er doch zu sehr ein ganzer Mann, um tückische Rachegedanken zu hegen. Er wußte, daß seine Kerkermeister nur ihre Pflicht taten, und war ihnen im Grunde genommen nicht böse. Aber er mußte frei sein – um jeden Preis!

Bei jedem seiner seltenen Besuche in Tahiti ging Kapitän Nagle sogleich ins Gefängnis, und jedesmal hoffte er, Terangi sehen zu können. Aber immer war der junge Mann entweder gerade ausgebrochen oder er befand sich in Einzelhaft, wo Besuche verboten sind – kurz, drei Jahre vergingen, ohne daß der Kapitän seinen ehemaligen Maat zu Gesicht bekommen hätte. Inzwischen war ein neuer Gefängnisdirektor aus Frankreich herübergekommen, ein Mann, der von so unpersönlicher Kälte war wie das Gesetz selber.

Endlich, vier Jahre nach der Begebenheit in Duvals Bar, erfuhr Nagle auf der Werft, daß Terangi nach seiner letzten Flucht wieder einmal gefaßt und ins Gefängnis zurückgebracht worden war. Nagle ging sogleich, über den Kopf des Gefängnisdirektors hinweg, zum Gouverneur der Insel und erhielt von ihm die Erlaubnis, Terangi zu besuchen.

Sein Empfang im Gefängnis war unter diesen Umständen mehr als kühl. Aus dem Verhalten des Direktors ging klar hervor, daß er nicht die Absicht hatte, den Fall Terangi mit der gleichen Milde zu beurteilen wie sein Vorgänger. Es mußte endlich einmal aufhören, daß dieser gefährliche Bursche die Obrigkeit lächerlich machte! Er nahm den Erlaubnisbrief des Gouverneurs entgegen, warf einen Blick darauf, verbeugte sich steif und führte den Besucher zu Terangis Zelle. Die hatte jetzt eine neue, eisenbeschlagene Hartholztür, vier Zoll dick und versehen mit den modernsten und kompliziertesten Schlössern.

Die Zelle selbst hatte einen Durchmesser von etwa acht Fuß und empfing ihr Licht durch ein einziges Fensterchen hoch oben in der Wand. Terangi war an einem Bein gefesselt, und die Kette war an einem schweren, im Steinfußboden eingelassenen Ringbolzen befestigt. Äußerlich war er nur wenig verändert, bis auf den Umstand, daß er nun völlig zum Mann herangereift war, aber Nagle erkannte sofort, daß eine tiefe innere Wandlung mit ihm vorgegangen war. Alle Lebensfreude war von ihm gewichen, und seine Augen blickten düster. Nagle scheute sich fast, mit ihm zu sprechen: Er nahm Terangis Hand in die seine und hielt sie lange fest. Der Gefangenenwärter stand auf der Schwelle und sah zu.

Wenn Terangi bewegt war, so gab er dies durch kein äußeres Zeichen zu erkennen. Endlich brach er das Schweigen und erkundigte sich nach dem Befinden seiner Mutter, seiner Frau und seines Töchterchens, das er noch nie gesehen hatte. Nagle nahm sich zusammen und versuchte, mit einer gewissen Heiterkeit zu sprechen, aber er merkte bald, daß Terangi ebenso bestrebt war, die Zusammenkunft abzukürzen, wie der Wärter. Nagle verließ das Gefängnisgebäude niedergeschlagen und erschüttert.

Gewaltige Aufregung herrschte in Tahiti, als Terangi wiederum flüchtete. Das geschah etwa drei Monate nach Nagles Besuch. Sehen Sie, Herr Vernier, der neue Gefängnisdirektor war allzu zuversichtlich in seiner Überzeugung, den rebellischen Geist des Sträflings ein für allemal gebrochen zu haben. Er hielt ihn in Einzelhaft, bis er ihn völlig in sein Schicksal ergeben glaubte. Dann gestattete er ihm kleine Freiheiten, ließ ihn aber dabei aufs schärfste bewachen. Er stellte ihm Fallen, gab ihm scheinbare Möglichkeiten der Flucht, aber der Gefangene schien zu müde und kraftlos, um Gebrauch davon zu machen. Endlich war der Direktor seiner Sache sicher und gestattete ihm, einen täglichen Spaziergang im Gefängnishof ohne Fesseln zu unternehmen.

Terangi machte eines Spätnachmittags seinen kurzen Spaziergang im Hof – auf und ab – auf und ab –, als gerade die Arbeitsmannschaft hereingeführt wurde. Zwei Wärter waren im Hof, zwei weitere kamen mit den Gefangenen von draußen herein. Der Torwächter hatte das schwere Tor geöffnet, und der letzte der Häftlinge war gerade kontrolliert worden, als Terangi den Sprung in die Freiheit wagte.

Einen Augenblick lang waren die Wärter vor Erstaunen wie gelähmt, und fünf Sekunden Vorsprung genügten Terangi. Der Mann beim Tor zog seinen Revolver und feuerte auf den Flüchtenden, der ihn beim Handgelenk packte. Die anderen zögerten zu schießen, aus Angst, ihren Kollegen zu treffen. Ein heftiger Stoß gerade gegen das Herz – und der Torwächter sank bewußtlos zu Boden. Ehe ein weiterer Schuß abgefeuert werden konnte, war Terangi draußen.

Der Friedhof von Papeete liegt in einer Mulde jenseits der Straße, nahe beim Gefängnis. Terangi rannte zwischen den Grabsteinen durch, ein halbes Dutzend Männer hinter ihm her, ununterbrochen schießend ... Aber schon hatte sich der Verfolgte in ein Gebüsch gestürzt und war verschwunden.

Es war eine fast unmöglich erscheinende Flucht, mitten am hellichten Tage. Und dieser letzte Ausbruch aus dem Gefängnis endete tragisch. Als man den Torhüter aufhob, sah man, daß er tot war; es stellte sich dann heraus, daß er ein schwaches Herz gehabt hatte. Wieder hatte Terangi zu kräftig zugeschlagen ...

Terangi zu fangen, war nach den wiederholten früheren Fluchtversuchen eine Art grimmiger Sport für die Polizisten geworden, ein Sport, in dem sie sich mit der Zeit immer größere Fertigkeit angeeignet hatten. Auch diesmal zweifelten sie keinen Augenblick daran, daß sie ihn bald wieder in ihrer Gewalt haben würden. Nun besteht Tahiti, wie Sie vielleicht wissen, aus zwei Hälften, einer größeren und einer kleineren, die durch die niedrige, schmale Landenge von Taravo miteinander verbunden sind.

Die Polizisten hetzten Terangi auf Tahiti-Nui wie einen Hasen; die Bewohner aller Dörfer wurden durch die Aussetzung einer hohen Belohnung dazu angespornt, sich an der Verfolgung zu beteiligen. Gleichzeitig ließ die Behörde die Bevölkerung wissen, was sie im Interesse der Sicherheit des Landes mit dem Flüchtling vorhatte. Er sollte in die Strafkolonie Cayenne in Guayana verschickt werden, und von dort aus würde es keine Flucht mehr für ihn geben ...

Scharfäugige Männer hielten auf den Bergkämmen Wacht, Wildschweinjäger mit ihren Hunden durchstreiften die Täler; und einmal lief Terangi vor den Augen der Verfolger über hundert Meter durch die Farne des Vairaharaha-Tales, aber nicht ein einziger der Schüsse, die ihm nachgesandt wurden, erreichte das Ziel. Langsam, methodisch, erbarmungslos wurde er von einem Zufluchtsort zum anderen gejagt und auf die Landenge von Taravo zugetrieben. Dort waren sie sicher, ihn zu erwischen. Eine lange Kette von Wächtern war aufgestellt, um ihn zu ergreifen, wenn er versuchen sollte, zu dem kleineren Teil der Insel hinüberzuwechseln.

Aber auch diesmal entkam er ihnen. In einer dunklen, regnerischen Nacht gelang es ihm, durch die Kette der Wächter hindurchzuschlüpfen und sich auf den dichtbewaldeten Höhen und den noch von keines Menschen Fuß betretenen Bergspitzen von Teahaupoo, dem wildesten und unzugänglichsten Teil von ganz Tahiti, zu verbergen.

Weiter aber konnte er nicht mehr fliehen! Auf drei Seiten war er vom Meer eingeschlossen, und von Nordwesten näherte sich ihm ein kleines Heer von Verfolgern, angeführt von der Polizei. Es war eine schwierige Suche, aber sie machten es gründlich. Nicht der kleinste Felswinkel blieb undurchforscht. Immer enger und enger wurde das Netz gespannt, aber als es schließlich am äußersten Ende der Insel zusammengezogen wurde, war das Wild nicht darin ...

Terangi war verschwunden, als habe er sich in den Nebel aufgelöst, der über diesem wilden, finsteren Gebirge hing. Niemand hatte ihn gesehen, und keine Spur war von ihm gefunden worden.


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