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Siebentes Kapitel

Mako saß ganz in sich zusammengesunken auf einem Stuhl und blickte unbeschreiblich hilflos und unglücklich drein. Auch Frau de Laage war zutiefst bekümmert.

Sie können sich ihr Staunen über das Geheimnis, das der Junge gezwungenermaßen preisgegeben hatte, leicht vorstellen. Als sie ihren Gatten mit einem scheuen Blick streifte, empfand sie beinahe Haß gegen ihn ... und gegen sich selbst, seine unfreiwillige Helferin. Mit ihrem warmfühlenden Herzen und ihrer raschen Auffassungsgabe begriff sie sogleich, welches Unglück nun über die Angehörigen Terangis kommen würde ... welch tiefen Kummer die ganze Insel über die jetzt unvermeidlich gewordene Gefangennahme des Flüchtlings empfinden mußte. Und dennoch ... was sonst hätte der Gouverneur tun können? Es wäre zuviel von ihm verlangt gewesen, einfach die Augen zu schließen und einen entsprungenen Sträfling seiner Wege gehen zu lassen!

De Laage hielt seinen scharfen Blick noch immer auf den Knaben gerichtet.

»Du bleibst in diesem Zimmer«, sagte er, »bis ich dir die Erlaubnis gebe, es zu verlassen.«

Wieder schwieg der Sohn Tavis.

»Hast du verstanden, Mako?« fragte Frau de Laage ihn sanft in der Sprache seines Volkes.

Flehend blickte der Knabe zu ihr auf. Er nickte kaum merkbar und starrte dann wieder zu Boden.

»Die Frau Gouverneur wird bei dir bleiben«, fügte de Laage hinzu. »Merke es dir wohl! Du wirst schwer bestraft werden, wenn du meinen Befehlen nicht gehorchst!«

Mako war so niedergeschlagen und verzweifelt über den Verrat, den er wider Willen begangen hatte, daß die Mahnung ganz unnötig gewesen wäre. Niemand konnte Terangi jetzt noch retten, das wußte er. Das Unglück war geschehen.

De Laage bat seine Frau, einen Augenblick mit ihm das Zimmer zu verlassen, und schloß die Türe.

»Es tut mir leid, Germaine«, sagte er, »aber es bleibt mir nichts anderes übrig, als dich zu bitten, bei ihm zu bleiben. Wenn der Knabe wider Erwarten entfliehen sollte, lasse es mich sofort wissen. Du kannst Arai zu mir schicken. Doch nein ... das geht nicht. Du würdest in diesem Fall selbst kommen müssen. Ich gehe zu Vater Paul.«

»Du kannst ganz beruhigt sein«, entgegnete Frau de Laage. »Ich kenne Mako. Er wird tun, was ich ihm sage.«

 

Der Gouverneur war ein Mann, der eine einmal angenommene Gewohnheit niemals änderte. Die kleinen Verrichtungen des täglichen Lebens führte er mit äußerster Genauigkeit aus. Jeden Morgen stand er auf die Minute genau um sechs Uhr auf, legte einen altmodischen, dunkelblauen Badeanzug an, hüllte sich in seinen Schlafrock, zog seine Pantoffeln an und ging würdigen Schrittes zum Lagunenstrand hinüber. Dort schwamm er langsam und ein wenig unbeholfen genau fünfzehn Minuten – niemals mehr als einige Meter vom Ufer entfernt – und begab sich dann in die mit einer Süßwasserdusche versehene Badehütte, die durch einen gedeckten Gang mit dem Wohnhaus verbunden war. Frisches Wasser ist auf allen niedrigen Koralleninseln etwas sehr Kostbares, es steht kein anderes zur Verfügung als das kärgliche Regenwasser, das in Manukura nur die wenigen Häuser mit Blechdächern liefern. Auf der ganzen Insel gab es nur drei Sammelbecken für dieses Wasser: ein großes, gleichsam öffentliches, welches das Wasser vom Kirchendach aufnahm, ein zweites beim Haus des Häuptlings und ein drittes beim Regierungsgebäude, dessen Inhalt eigentlich nur für den Haushalt de Laages bestimmt war. Aber der Gouverneur war ebenso selbstlos wie genau und gerecht in der Erfüllung seiner Pflichten; infolgedessen stellte er in Zeiten der Wasserknappheit den Inhalt seines Behälters dem ganzen Dorf zur Verfügung, und zwar wurde jedem Haushalt die benötigte Menge aufs genaueste zugemessen. Sein eigener erhielt dann nicht mehr als irgendein anderer, der die gleiche Anzahl von Personen aufwies. Selbst in Zeiten des Wasserüberflusses nahm er nicht mehr als vier Liter für sein morgendliches Duschbad in Anspruch. Diese Menge füllte er in einem Krug ab und goß sie in einen Behälter, der oberhalb der Duschvorrichtung angebracht war. Vorher aber rasierte er sich, was ihn nicht mehr als einen halben Liter Wasser kosten durfte. Er besaß ein mit schwarzem Samt gefüttertes Etui, das sieben Rasiermesser enthielt, eines für jeden Tag der Woche, und ich bin überzeugt davon, daß er alle Männer, die sich eines modernen Rasierapparates bedienten, insgeheim verachtete. Seine Hand war bemerkenswert sicher, und ich gebe nur der Wahrheit die Ehre, wenn ich sage, daß kein Barbier in seinem Fach tüchtiger war als er.

Wenn de Laage mit dem Rasieren fertig war, nahm er sein Duschbad und legte dann seinen weißen Tropenanzug an, der so steif gestärkt war, daß er förmlich krachte. Eine der schwersten Aufgaben war es für Frau de Laage gewesen, als sie nach Manukura kam, eine eingeborene Frau zu finden, welche die Kleider des Gouverneurs zu seiner Zufriedenheit waschen, stärken und bügeln konnte, und eine Dienerin, die jeden Abend die Kleidungsstücke genau auf jene Art bereitzulegen verstand, an die Herr de Laage gewöhnt war.

Diese Dinge erzähle ich Ihnen nur nebenbei, um Ihnen einigermaßen klarzumachen, was für ein Mensch dieser de Laage war. Kleine Dinge waren für ihn ebenso wichtig wie große. Bitte, mißverstehen Sie mich nicht! Es ist ganz und gar nicht meine Absicht, den Gouverneur etwa lächerlich zu machen. Ich hatte die höchste Achtung vor ihm und bin überzeugt, daß Frankreich während des Krieges keinen zuverlässigeren und tapfereren Bataillonskommandanten hatte als ihn. Die gleichen Eigenschaften – unbedingte Zuverlässigkeit, verbunden mit völligem Mangel an Phantasie – erwies er auch in seiner Tätigkeit als Gouverneur der Tuamotus. Wäre es nicht so gewesen, so hätte er sich wahrscheinlich an dem Morgen, von dem ich Ihnen erzähle, sogleich an die Untersuchung des Falles Terangi gemacht, ohne zuerst seiner Toilette die gewohnte Sorgfalt zuzuwenden.

Es ist immerhin möglich, daß er an diesem Morgen das Seebad von seinem Programm strich, aber das war wohl auch das einzige. Nachdem er Frau de Laage verlassen hatte, rasierte er sich, stellte sich unter die Brause und zog dann methodisch und bedachtsam die Kleider an, die Arai am Abend vorher für ihn bereitgelegt hatte.

Es war noch dunkel. De Laage setzte seinen Tropenhelm auf und war im Begriff, seine elektrische Taschenlampe zur Hand zu nehmen, überlegte es sich jedoch im letzten Augenblick. Das Dorf schlief noch, und er wollte nicht, daß jemand erwache und neugierig werde, ehe er mit Vater Paul gesprochen hatte. An die Gefahr einer unmittelbar bevorstehenden Flucht Terangis dachte er vermutlich gar nicht.

Er war über das, was er von Mako erfahren hatte, über alle Maßen entrüstet. Daß der Priester Terangi, einen von den Behörden gesuchten Verbrecher, nach Manukura gebracht haben konnte, ohne der Obrigkeit allsogleich Mitteilung davon zu machen, erschien ihm als ein unverzeihliches Vergehen, geradezu als eine Ungeheuerlichkeit. Wäre es nicht möglich, daß Mako in seiner Verwirrung etwas gestanden hatte, das gar nicht den Tatsachen entsprach? In seiner Angst hatte der Junge vielleicht auf seine Frage eine bejahende Antwort gegeben, ohne zu wissen, was er sprach, und nachher war er in seiner Verwirrung möglicherweise außerstande gewesen, das richtigzustellen ...

Der Gouverneur erinnerte sich, daß vor einigen Jahren drei junge Burschen aus Manukura dabei erwischt wurden, als sie im Begriff waren, sich in einem kleinen Kutter auf und davon zu machen, der dem Vater eines der Jungen gehörte. Sie hatten die Absicht gehabt, nach Tahiti zu segeln, um sich die Sehenswürdigkeiten der »großen Stadt« Papeete anzuschauen. Sie hatten von Automobilen, von Lichtspieltheatern und vielen anderen wunderbaren Dingen gehört, die man auf Manukura nicht kannte. Es war ihr Wunsch gewesen, all diese Herrlichkeiten mit eigenen Augen zu sehen, und der Gedanke an eine 6oo-Meilen-Fahrt über das offene Meer hatte sie nicht im geringsten abgeschreckt. Mako war dadurch, daß er so oft mit Vater Paul von Insel zu Insel gefahren war, ein tüchtiger kleiner Seemann geworden. Er war ein unternehmungslustiger Junge, und es erschien durchaus möglich, daß er der Rädelsführer bei einem tollkühnen Jungenstreich sein könnte. Das große Kanu war für eine solche Fahrt gerade richtig ausgerüstet ...

De Laage blieb einen Augenblick nachdenklich stehen. Ja ... so mochte es wohl sein!

Er war unschlüssig, ob er weitergehen oder umkehren sollte, um Mako einem neuerlichen Verhör zu unterziehen. Dann aber kam ihm das seltsame Verhalten des Knaben, der Ausdruck namenlosen Entsetzens in seiner Miene ins Gedächtnis zurück. Nein, es mußte so sein, daß Terangi sich hier befand! Und war Vater Paul ihm nicht seit seiner Rückkehr ausgewichen? Zum erstenmal seit vielen Jahren hatte er nicht an dem traditionellen Abendessen im Regierungsgebäude teilgenommen ...!

Entschlossen setzte der Gouverneur seinen Weg zur Kirche fort. Nun überschritt er die Bodensenkung, die quer über die Insel verlief, auf dem aus zwei nebeneinandergelegten Palmbaumstämmen gefertigten Steg. So sehr seine Gedanken auch von dem unerhörten Fall in Anspruch genommen waren, einen Augenblick lang fand er Zeit, sich darüber zu ärgern, daß Fakahau das zerbrochene Geländer noch nicht hatte ausbessern lassen. Er merkte sich die Tatsache sorgfältig vor. Dieses Geländer mußte noch heute wieder benutzbar gemacht werden! Als er bei Vater Pauls Häuschen angelangt war, zögerte er einige Sekunden; dann klopfte er kräftig an die Türe. Der Priester hatte, wie die meisten alten Leute, einen leichten Schlaf und war sogleich vollkommen wach. Er schlüpfte in seine abgetragene alte Soutane, zog seine Strohpantoffeln an, machte Licht und ging zur Türe. Dabei überlegte er, wer von seinen Schäflein wohl um diese frühe Stunde seine Hilfe benötigen könne.

Äußerlich zeigte er sich nicht überrascht, als er den Gouverneur auf der Schwelle stehen sah. De Laage trat ein und entschuldigte sich wegen der Störung zu dieser frühen Stunde. Sein Benehmen war amtlich-höflich, aber von ungewohnter Kühle. Der Ton, in dem er sprach, war nicht der, in dem er sonst mit Vater Paul zu verkehren pflegte.

Der Priester rückte dem Besucher seinen einzigen Armsessel herbei und setzte sich dann selbst auf den hölzernen Schemel beim Schreibtisch. Der kleine Empfangsraum war mit puritanischer Einfachheit eingerichtet. Die Wände waren weiß gestrichen und trugen keinen anderen Schmuck als ein gerahmtes Bild des Papstes Leo XIII. über dem Schreibtisch und ein Kruzifix. Die ganze Einrichtung bestand aus dem schon erwähnten Lehnstuhl, dem hölzernen Schemel, einer Bank für Besucher und dem Tisch, auf dem eine Petroleumlampe ohne Schirm stand.

Nachdem einige nichtssagende Bemerkungen ausgetauscht worden waren, folgten einige Augenblicke peinlichen Schweigens. Dann begann de Laage sein Verhör.

»Ich muß Ihnen über den Zweck meines Besuches Auskunft geben«, sagte er. »Heute nacht machte ich, da ich keinen Schlaf fand, einen Spaziergang zum äußersten Ende des Motu. Dort bemerkte ich zufällig den Knaben Mako, der zwei große Kannen voll Wasser auf der Schulter trug. Ich war neugierig zu erfahren, was er wohl um diese nächtliche Stunde vorhabe, und folgte ihm. Ich beobachtete ihn, während er die Kannen in das große Segelkanu verlud, das dem Häuptling gehörte. Das Boot war mit Vorräten und Geräten aller Art beladen. Der Junge war aufs höchste erschrocken, als ich ihn zur Rede stellte, und gab Antworten, die ich sogleich als falsch erkannte. Ich nahm ihn mit mir in das Regierungsgebäude und befragte ihn dort weiter. Das Geständnis, das er abgelegt hat – denn als solches müssen seine Antworten gelten – erscheint mir vollkommen unfaßbar.«

Er hielt inne. Vater Paul saß da, seinen kräftigen Arm leicht an den Tisch gelehnt, die hellblauen Kinderaugen fest auf den Besucher gerichtet. Der Blick des Gouverneurs wich nicht von dem Papstbild an der Wand.

»Und welcher Art war sein Geständnis ...?« fragte der Priester.

»Er sagte, daß der entflohene Sträfling Terangi auf Ihrem Kutter hierher gebracht worden sei.«

»Das ist wahr«, sagte Vater Paul ruhig.

»Wollen Sie damit sagen, daß der Flüchtling sich jetzt hier auf Manukura in Freiheit befindet? Darf ich fragen, warum mir davon keine Mitteilung gemacht wurde?«

»Herr Gouverneur! Ein Diener der Kirche hat Pflichten zu erfüllen, die von den Ihren abweichen. Um eine solche Pflicht handelt es sich hier.«

De Laages blasses Gesicht muß sich gerötet haben, als er den Priester ungläubig anstarrte. Mit einer bei ihm ungewohnten Heftigkeit fragte er:

»Ein Diener der Kirche kann es also für seine Pflicht halten, einen Flüchtling, einen Sträfling ... einen Mörder – denn das ist der Bursche – zu schützen ... den gerechten Gesetzen des Staates und denen, die zu ihrem Schutz eingesetzt sind, zuwiderzuhandeln?«

»Ja, das kann er ... unter gewissen Umständen.«

»Und worin bestehen die Umstände in diesem Fall?«

Ich bin überzeugt davon, daß die Stimme Vater Pauls nicht schuldbewußt klang, als er antwortete:

»Herr de Laage, ich kenne Terangi, so lange er lebt. Ich habe seine Eltern und seine Großeltern gekannt. Es gibt auf allen Inseln dieser Gruppe keine Familie, die mehr Anrecht auf unbedingte Achtung hätte. Diesem jungen Mann ist bitteres Unrecht zugefügt worden! Auf welche Weise es ihm gelang, Tahiti zu verlassen, weiß ich nicht. Ich fischte ihn aus dem Meere auf, als mein Kutter dreißig Meilen von Manukura entfernt war. Er klammerte sich an ein gekentertes Kanu; den Ausleger hatte er verloren. Seit zwei Tagen und einer Nacht trieb er so, an das Boot angeklammert, dahin. Er hatte eine Fahrt von fast sechshundert Meilen hinter sich ... in diesem kleinen Kanu ... um seine Mutter, sein Weib und seine kleine Tochter wiederzusehen ... Das sind die Umstände, die in meinen Augen für ihn sprechen! Hätten Sie von mir verlangt, daß ich ihn ausliefere, Herr Gouverneur?«

»Dieser junge Mensch, dem Ihrer Ansicht nach so bitteres Unrecht zugefügt wurde, hat es nur sich selbst zuzuschreiben, daß er so schwer bestraft wurde, Vater Paul! Ich bin Ihr Landsmann. Ich bin für das, was auf diesen Inseln vorgeht, verantwortlich. Sie sind mein Seelsorger ebenso wie der seine. Denken Sie gar nicht an das Unrecht, das Sie mir zugefügt haben?«

»Ein Unrecht ...?«

»Ja, ein Unrecht, Vater Paul, ein schweres Unrecht! Ich bin hier, um dem Gesetz Geltung zu verschaffen; und dennoch verbergen Sie diesen Flüchtling ... hier ... am Sitz der Behörde! Wenn es ihm gelingt, auch von hier zu entfliehen, so trifft mich die Verantwortung dafür ... und mit vollem Recht! Mein Ruf als Beamter würde dadurch so schwer getroffen, daß ich mich nie mehr erholen könnte. Es bedeutete möglicherweise das Ende meiner Laufbahn!«

»Daran habe ich nicht gedacht, mein Freund«, entgegnete der Priester leise, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte, »ich bitte Sie deswegen um Verzeihung. Und doch ... auch wenn ich daran gedacht hätte ... ich hätte nicht anders handeln können, als ich es tat. Aber Ihr amtliches Ansehen wird nicht darunter leiden. Wenn ein Fehler begangen wurde, so werde ich die Verantwortung auf mich nehmen, wie es meine Pflicht ist.«

Der Gouverneur stand brüsk auf. »Vater Paul«, sagte er kühl, »ich muß eine Frage an Sie richten. Wo befindet sich Terangi jetzt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber Sie wissen zumindest, daß er sich auf Manukura befindet.«

»Ich weiß, daß er hier war, weil ich ihn hierherbrachte. Aber wo er sich jetzt befindet, entzieht sich meiner Kenntnis.«

Der Gouverneur ergriff seinen Tropenhelm, verneigte sich leicht und förmlich vor dem Priester, wandte sich um und verließ das Zimmer.

 

Sie werden begreifen, daß weder Fakahau noch Tavi während dieser Zeit müßig geblieben waren.

Gerade, als der Gouverneur mit Mako vorüberging, war der Häuptling im Begriff gewesen, sich auf den Weg zum Ende des Motu zu machen. Fakahau wartete bereits, die schlafende Tita auf dem Arm, in der Dunkelheit seines Hauses, als Marama vom Regierungsgebäude zurückkehrte.

Sie brachen eilends auf und erreichten die Stelle, an der das Boot lag, in einer Viertelstunde. Unterwegs gab der Häuptling seiner Tochter die nötigen Verhaltungsmaßregeln. Der Abschied war kurz. Fakahau schloß Marama einen Augenblick lang in seine Arme, dann nahm sie ihren Platz im hinteren Teile des Bootes ein. Rasch war das Segel gehißt und das Kanu fahrtbereit gemacht. Tita, die erwacht war und voll Neugierde wissen wollte, was vorging, saß neben ihrer Mutter. Geräuschlos schob Fakahau das Boot ins tiefe Wasser, die leichte Brise schwellte das Segel, und das lange, schlanke Fahrzeug glitt in südlicher Richtung davon.

Der Häuptling, bis zur Hüfte im Wasser stehend, blickte ihm nach, bis es in der Dunkelheit verschwunden war. Dann watete er an Land und eilte auf einem nur wenig ausgetretenen Pfad, der in einiger Entfernung von der Lagune durch die Palmenhaine führte, dem Dorfe zu.

Obgleich es unter den hohen Bäumen sehr dunkel war, fand er instinktiv den Weg und bald konnte er ein Licht sehen, das ohne Zweifel im Regierungsgebäude brannte. Als er sich dem Dorfe näherte, sah er ein zweites Licht, und zwar im Hause des Priesters. Er begriff sogleich, was vorgegangen war.

Mata, seine Frau, erwartete ihn in einer kleinen, abgesonderten Hütte, die hinter dem im europäischen Stil gebauten Haus des Häuptlings lag. Fakahau betrat die Hütte durch die Türe am nördlichen Ende und rief leise Matas Namen.

Mata ging durch den dunklen Raum auf ihn zu und ergriff seinen Arm. – »Sind sie fort?« fragte sie rasch.

»Ja. Es weht eine leichte östliche Brise und es besteht keine Gefahr, daß sie kentern. Marama kann mit dem Boot so gut umgehen wie ein Mann. Sie werden spätestens in einer Stunde in Motu Tonga sein.«

»Und dann?« Der Häuptling bemerkte, wie ängstlich die Stimme seiner Frau klang. »Der Gouverneur weiß, daß Terangi hier ist! Die Durchfahrt wird bewacht werden. Aber selbst wenn es anders wäre ... sie könnten die Stelle nicht vor Tagesanbruch erreichen.«

»Es gibt nur eine Rettung, und ich habe schon alles dafür angeordnet. Terangi und Marama werden das Boot in einiger Entfernung von der Küste ins Meer versenken, an einer Stelle, an der es nie gefunden werden kann. Ihre Vorräte werden sie im Sand vergraben. Der Gouverneur wird jedes Motu längs des ganzen Riffs durchsuchen lassen, aber er wird keine Spur von ihnen finden ... nichts.«

»Aber sie selbst? ... Aué! Nun verstehe ich ... Te Rua!«

»Ja, dort werden sie sich verbergen«, sagte Fakahau. »Der Gouverneur kann Motu Tonga von einem Ende zum anderen durchsuchen, so lange er Lust hat. Er wird sie niemals finden! Später können wir überlegen, was weiter geschehen soll.«

»Ja, das ist das Beste! Er wird glauben, daß sie entflohen sind ... die Insel verlassen haben.«

»Was sonst könnte er glauben? Wir werden abwarten, was er dann unternehmen wird.«

Sie unterbrachen ihre geflüsterte Unterhaltung, als an der vorderen Türe ihres Haupthauses lautes Klopfen hörbar wurde. Fakahau kannte dieses Klopfen. Unter anderen Umständen hätte er sogleich seinen weißen Anzug angelegt; diesmal aber wollte er den Anschein erwecken, als habe er den Besucher nicht erkannt. Er flüsterte Mata zu: »Frage, wer in unser Haus will?«

» Ko vai tera?« rief sie mit schriller Stimme, so als wolle sie sich erkundigen, welcher Nachbar zu so ungewohnter Stunde einen Besuch beabsichtige. Die einzige Antwort bestand in erneutem Klopfen, noch lauter als vorher.

Fakahau wartete nicht mehr länger. Wie er war, barfuß und nur mit einem Pareu bekleidet, verließ er die Hütte. Er stieg rasch die Stufen zur hinteren Veranda hinan, betrat den Gang, der das Haus in zwei gleiche Teile teilte, und zündete die Lampe an, die von der Decke des vorderen Wohnraumes herabhing.

Fakahaus »europäisches« Haus war der Stolz von Manukura. Obgleich der Häuptling die auf landesübliche Art eingerichtete kleine Hütte, die dahinter stand, vorzog und sich nur selten in seinem großen Haus aufhielt, fand er, daß es seine Pflicht als Häuptling sei, die Ehre und Würde seines Volkes dadurch deutlich zu machen, daß er ausländische Besitztümer hatte, die seinem Rang entsprachen.

Sein »Salon« war ein hoher, geräumiger Raum, der aufs prächtigste eingerichtet war. Da gab es mit grünem und rotem Plüsch gepolsterte Sessel und Sofas und Tische mit gebogenen Füßen, wie sie vor Jahrzehnten in Frankreich modern gewesen waren. Standspiegel schmückten die Zimmerecken und andere, nicht minder große Spiegel mit vergoldeten Rahmen hingen an den Wänden. Auch Ölgemälde gab es dort, die europäische Landschaften mit entsprechender Staffage darstellten: Hirsche etwa, die in stolzer Haltung vor einem schneebedeckten Hintergrund darauf warteten, vom Künstler gemalt zu werden, französische Jünglinge und Mädchen im Kostüm der sechziger und siebziger Jahre, auf Teichen spazierenfahrend oder träumerischen Angesichts in wohlgepflegten Gärten sitzend. Wenn ich mich nicht irre, hat Kapitän Nagle diese Kunstwerke einmal alle zusammen auf einer Versteigerung in Tahiti für den Häuptling erworben ...

Gegenüber dem Salon lag ein prunkvoll eingerichtetes Schlafzimmer, das nur ein einziges Mal benutzt worden war, nämlich als der Bischof von Tahiti das erste- und letztemal Manukura besuchte. Das Bett war acht Fuß lang und sechs Fuß breit und enthielt eine Matratze, die zumindest drei Fuß hoch war.

Haben Sie jemals auf einer solchen Kapokmatratze geschlafen? Wahrscheinlich nicht. Es gibt nichts Heißeres in dieser und wahrscheinlich auch nicht in der nächsten Welt ... Der Schlafgast empfindet zuerst ein recht angenehmes Gefühl, wenn sich die Unterlage um seinen müden Leib schmiegt; dann sinkt er immer tiefer und tiefer, und der Schweiß fängt an, ihm aus allen Poren zu dringen. Nach einer halben Stunde, vorausgesetzt, daß er es so lange ausgehalten hat, liegt er in seinem Schweiß wie in einem tiefen Pfuhl, denn Kapok ist auf erstaunliche Art wasserdicht. Und dann wird die Unterlage allmählich immer härter und härter wie eine mehr und mehr erstarrende Zementschicht. Ich kann mir ungefähr vorstellen, was für eine Nacht der Bischof verbracht haben muß. Ich war damals hier und ich erinnere mich, daß der ehrwürdige Herr am nächsten Tag mit recht glasigen Augen seine Pflichten erfüllte und sehr übernächtig dem ihm zu Ehren veranstalteten ausgedehnten Festmahl beiwohnte ...

Entschuldigen Sie diese Abschweifung! Ich kann mich noch jetzt eines Lächelns nicht erwehren, wenn ich an Fakahaus »offizielles« Schlafzimmer denke ... Aber wenn ich mich dann erinnere, daß ich ihn und Mata nie mehr sehen werde, vergeht mir das Lächeln. Zwei prächtigere Menschen hat es niemals gegeben! Um aber zu den Ereignissen jenes Morgens zurückzukehren, so ging Fakahau, nachdem er die Lampe angezündet hatte, sogleich zur Haustüre. Er versuchte, den Eindruck zu erwecken, als sei er höchst erstaunt über den Besuch, aber das machte keinen Eindruck auf de Laage, der den Gang betrat und dann, wie es die Höflichkeit gebot, wartete, bis ihn Fakahau in den Salon führte.

Während des kurzen Weges zum Haus des Häuptlings hatte de Laage immerhin genügend Zeit gefunden, um die Gefühle, die ihn bewegten, einer strengen Kontrolle zu unterziehen. Über Vater Pauls Pflichtverletzung war er wahrhaft entsetzt; so ergrimmt und erbittert war er gewesen, daß er es für notwendig gehalten hatte, die Besprechung kurzerhand abzubrechen. Wäre sie fortgesetzt worden, so hätte er sich vielleicht hinreißen lassen, dem Priester Dinge zu sagen, die ein Regierungsbeamter nicht aussprechen durfte und die er später bedauert hätte; außerdem war zu bedenken, daß Vater Paul, so unverantwortlich sein Verhalten auch war, immerhin als Diener Gottes Achtung beanspruchen durfte.

De Laage zweifelte keinen Augenblick daran, daß außer ihm selbst und seiner Frau ganz Manukura von der Rückkehr Terangis gewußt hatte. Er argwöhnte, daß sogar Kapitän Nagle schon Kenntnis davon besaß, als er am Abend zuvor an seinem Tisch speiste. Wenn Vater Paul es über sich bringen konnte, einen entsprungenen Verbrecher zu schützen, so war kaum anzunehmen, daß der Kapitän strengere Ansichten über Pflicht und Ehre hatte ... Was Fakahau, den Schwiegervater des Burschen, anbetraf, so war es von vornherein vergebens, ihn zu fragen, wo sich dieser Terangi verborgen hielt. Daß er es wußte, war indessen mit Sicherheit anzunehmen!

Über die weiteren Maßnahmen, die er zu treffen hatte, war sich de Laage bereits völlig im klaren, als er das Haus des Häuptlings erreicht hatte.

Fakahau war ein Riese von Gestalt, und seine Kraft entsprach seiner Größe. Der Gouverneur war gleichfalls hochgewachsen, aber neben dem Häuptling erschien er geradezu klein. Insgeheim empfand er diesen Gegensatz, der den Vertreter der Französischen Republik unvorteilhaft von einem Eingeborenen abstechen ließ, als beschämend. Ein kleinerer und weniger würdevoller Mann wäre ihm als Häuptling weit angenehmer gewesen; aber an den Tatsachen war nun einmal nichts zu ändern ...

»Bitte nehmen Sie Platz!« sagte de Laage. Er vergaß niemals, dem Häuptling auch in der Anrede jene Auszeichnung zuteil werden zu lassen, die ihm nach der streng zu beachtenden gesellschaftlichen Ordnung zukam.

Fakahau folgte der Aufforderung und bat gleichzeitig wegen des Lendentuches, das ihm als einzige Bekleidung diente, um Vergebung. Er sprach ein ausgezeichnetes Französisch, da er im Hause eines früheren Gouverneurs erzogen worden war, der die geistigen Gaben des Knaben geschätzt und ihn sorgsam unterrichtet hatte. Die polynesischen Sprachen haben Höflichkeitsformeln, die den unseren zumindest gleichkommen und die Fakahau mit einer Leichtigkeit ins Französische zu übertragen verstand, die den Gouverneur immer wieder aufs neue erstaunte. In diesem Augenblick erwies sich der Häuptling wieder einmal als wahrer Meister in der Kunst, seine Gedanken aufs geschmeidigste zu verbergen, worüber sich de Laage nicht wenig ärgerte.

Der Gouverneur lauschte kühl den wohlgesetzten Worten, mit denen Fakahau die Peinlichkeit dieser Zusammenkunft zu überbrücken versuchte. Das erste Licht des Morgens schimmerte durch die Palmenhaine vor dem Fenster, war aber noch nicht hell genug, um den Schein der Lampe zu schwächen. De Laage zog seine Uhr aus der Tasche, warf einen Blick darauf und behielt sie in der Hand, während er sagte:

»Ich wünsche, daß Sie die gesamte Bevölkerung, mit Ausnahme der kleinen Kinder, im Himiné-Haus zusammenrufen. In einer halben Stunde sollen sich alle dort einfinden. Sowohl die Männer als auch die Frauen und Kinder. Niemand soll fehlen. Halten Sie ferner alle verfügbaren Kanus am Strande bereit. Kleiden Sie sich an und veranlassen Sie sodann unverzüglich das Erforderliche. Ich werde Sie und die anderen über die Gründe, die mich zu diesem Befehl veranlassen, unterrichten.«

Dann erhob er sich, nickte dem Häuptling kurz zu und verließ den Raum.


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