Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Fragmente von Frühjahr 1884 bis Herbst 1885, Band 5
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Herbst 1885]

[Dokument: Heft]

43 [1]

Entwurf

Das erste Problem ist: wie tief der “Wille zur Wahrheit“ in die Dinge hinein geht? Man ermesse den ganzen Werth der Unwissenheit im Verband der Mittel zur Erhaltung des Lebendigen, insgleichen den Werth der Vereinfachungen überhaupt und den Werth der regulativen Fiktionen, z. B. der logischen, man erwäge vor Allem den Werth der Ausdeutungen, und in wiefern nicht „es ist”, sondern „es bedeutet” — — —

so kommt man zu dieser Lösung: der „Wille zur Wahrheit” entwickelt sich im Dienste des “Willens zur Macht”: genau gesehen ist seine eigentliche Aufgabe, einer bestimmten Art von Unwahrheit zum Siege und zur Dauer zu verhelfen, ein zusammenhängendes Ganze von Fälschungen als Basis für die Erhaltung einer bestimmten Art des Lebendigen zu nehmen.

Problem: wie tief der Wille zur Güte hinab in das Wesen der Dinge geht. Man sieht überall, bei Pflanze und Thier, das Gegentheil davon: Indifferenz oder die Härte oder Grausamkeit. Die “Gerechtigkeit” “die Strafe”. Die Entwicklung der Grausamkeit.

Lösung. Das Mitgefühl ist nur bei socialen Bildungen (zu denen der menschliche Leib gehört, dessen lebendige Einzelwesen mit einander fühlen) da, als Consequenz davon, daß ein größeres Ganze sich erhalten will gegen ein anderes Ganze, und wieder weil im Gesammt-Haushalt der Welt, wo es keine Möglichkeit des Zugrundegehens und Verlierens giebt, Güte ein überflüssiges Princip <sein> würde.

Problem: wie, tief die Vernunft dem Grunde der Dinge zukommt. Nach einer Kritik von Zweck und Mittel (— kein faktisches Verhältniß, sondern immer nur ein hineingedeutetes), der Charakter der Verschwendung, der Verrücktheit ist <im> Gesammthaushalt normal. Die “Intelligenz” erscheint als eine besondere Form der Unvernunft, beinahe als ihre boshafteste Caricatur.

Problem: wie weit der „Wille zum Schönen” reicht. Rücksichtslose Entwicklung der Formen: die schönsten sind nur die stärksten: als die siegreichen halten sie sich fest, und werden ihres Typus froh, Fortpflanzung. (Platos Glaube, daß selbst Philosophie eine Art sublimer Geschlechts- und Zeugetrieb sei.)

Die Dinge also, welche wir bisher am Höchsten geschätzt haben: als das “Wahre”, „Gute”, “Vernünftige”, „Schöne”, erweisen sich als Einzelfälle der umgekehrten Mächte — ich zeige mit dem Finger auf diese ungeheure perspektivische Fälschung, vermöge deren die Species Mensch sich selber durchsetzt. Es ist ihre Lebensbedingung, daß sie an sich selber Lust deshalb hat (der Mensch hat Freude an den Mitteln seiner Erhaltung: und zu ihnen gehört es, daß der Mensch sich nicht will täuschen lassen, daß Menschen sich gegenseitig helfen, sich zu verstehen bereit <sind>; daß im Ganzen die gelungenen Typen auf Unkosten der mißrathenen zu leben wissen). In dem Allen drückt sich der Wille zur Macht aus, mit seiner Unbedenklichkeit zu den Mitteln der Täuschung zu greifen: es ist ein boshaftes Vergnügen denkbar, daß ein Gott empfindet beim Anblick des sich selber bewundernden Menschen.

Also: der Wille zur Macht.

Consequenz: wenn uns diese Vorstellung feindselig ist, warum geben wir ihr nach? Heran mit den schönen Trugbildern! Seien wir Betrüger und Verschönerer der Menschheit! Thatsache, was eigentlich ein Philosoph ist.

43 [2]

Mißverständniß der Logik: sie erklärt nichts, im Gegentheil

Mißverständniß des historischen Entwickelns: das Nacheinander ist eine Beschreibung

Oberflächlichkeit unseres Causalitäts-Sinns.

“Erkenntniß” — in wiefern in einer Welt des Werdens unmöglich?

Mit der organischen Welt ist eine perspektivische Sphäre gegeben.

Erkennbarkeit der Welt — an sich eine Unbescheidenheit für den Menschen.

Auflösung der Instinkte — Verwandlung in Formeln und Formelmenschen. Gegen den Naturalismus und Mechanismus. Die “Berechenbarkeit” der Welt, ob wünschenswerth? damit wäre auch der schöpferische Akt “berechenbar”?

Mechanik eine Art Ideal, als regulative Methode — nicht mehr.

Spott gegen die Idealisten, welche dort die “Wahrheit“ glauben, wo sie sich “gut” oder “erhoben” fühlen. Klassisch: Renan, citirt bei Bourget.

Leugnung des leeren Raums und Reduktion der Mechanik auf die Tyrannei des Auges und Getasts.

Leugnung der actio in distans. Gegen Druck und Stoß.

Die Gestalt der Welt als Ursache ihres Kreisprozesses. Nicht Kugel!

Die Kraft continuirlich.

Gegen Laplace-Kant.

Kampf der Atome, wie der Individuen, aber, bei gewisser Stärkeverschiedenheit wird aus zwei Atomen Eins, und aus zwei Individuen Eins. Ebenso umgekehrt aus Eins werden zwei, wenn der innere Zustand eine Disgregation des Macht-Centrums bewerkstelligt. — Also gegen den absoluten Begriff „Atom” und “Individuum”!

Das Atom kämpft um seinen Zustand, aber andere Atome greifen es an, um ihre Kraft zu vermehren.

Beide Prozesse: den der Auflösung und den der Verdichtung als Wirkungen des Willens zur Macht zu begreifen. Bis in seine kleinsten Fragmente hinein hat er den Willen, sich zu verdichten. Aber er wird gezwungen, um sich irgendwohin zu verdichten, an anderer Stelle sich zu verdünnen usw.

Weltkörper und Atome nur größenverschieden, aber gleiche Gesetze.

43 [3]

Die Deutschen, an deren germanischen Vorfahren kein Tacitus den Geist, oder auch nur eine Lust am Geistigen, etwa am argute loqui, zu rühmen wußte, haben noch dazu alles gethan, durch viele Jahrhunderte hindurch, sich dumm zu machen; und ein boshafter Gott, welcher deutschfeindlich — vielleicht in Furcht vor ihrem vorbestimmten Atheismus und Götterdämmerung? — über ihnen waltete, gab ihnen lauter Neigungen ein, mit welchen ein Volk die Thüren auch für das Kommen des Geistes zuschließt: z. B. indem er sie hieß, in überheißen Betten schwitzen, in dumpfen engen Stuben hocken, lauter Schwerverdauliches wie Klöse und schwere fettige Brühen zu ihren Leibspeisen machen, vor Allem trinken bis sie sanken: so daß schlafen gehen und angetrunken sein lange Zeiten hindurch zu den Nachbar-Vorstellungen eines deutschen Kopfes gehörte. Man möchte fast glauben, daß, wenn es endlich doch so etwas geben sollte, wie “deutschen Geist”, er erst durch Entdeutschung, ich meine durch Mischung mit ausländischem Blut ermöglicht worden ist. Wer rechnet nach, was den Slaven oder den Kelten oder den Juden für die Vergeistigung Deutschlands alles verdankt wird! Am wichtigsten aber mag die Blut-Mischung selber gewesen sein, indem sie im gleichen M<enschen> verschiedene Instinkte und nicht immer nur “zwei (sondern zwanzig Seelen” in Eine Brust anpflanzte, jene ungeheure Blut-Verderbniß der Rasse, welche in Europa nicht ihres Gleichen hat und endlich aus dem Deutschen ein alles verstehendes, alles nachfühlendes und sich aneignendes Volk der Mitte, der Vermittlung gemacht hat — eine Ferment-Rasse, bei der nunmehr “kein Ding unmöglich ist”. Man rechne sich die Geschichte der deutschen Seele nach, man begreife <,wie> diese in sich unausgeglichenen vielspältigen, vielfachen M<enschen> äußerlich schwach, servil, bequem, ungeschickt, innerlich ein Tummelplatz geistiger Versuchungen und Kämpfe wurden: wie endlich wenigstens eine Art aufrührerischer Bauern- und Prediger-Geist hervorsprang (Luther ist das schönste Beispiel davon, er, der den Bauernkrieg des Geistes gegen die “höheren Menschen” der Renaissance anführte wie dieser Bauern- und Prediger-Geist später zum angriffsbereiten, schneide- und beißlustigen Bürger- und Kritikergeiste sich wandelt — Lessing ist davon wieder das schönste Beispiel, er, der einen “Bürger-Krieg”, den Krieg des deutschen bourgeois gegen den aristokratischen Geist der französischen Cultur anführte: Lessing gegen Corneille, Lessing der Fürsprecher Diderot's): bis endlich unser letzter Doppel-Typus des fortentwickelten Geistes, Goethe und Hegel, den Alles umfassenden Boa-Constrictor “Geist an sich” und seine Ferment-Natur an den Tag brachte, die kosmo- und theopolitische Allzugänglichkeit des Deutschen, die Überlegenheit seiner Abstraktionen, die kluge Geschmeidigkeit seines aneignenden Historisirens: seine letzte und vornehmste Artung, die eine mandarinenhafte Überlegenheit und “Jenseitigkeit” — — —

— ganz Europa sank vor Bewunderung auf die Knie —

— freilich ebenso sehr auch den vollkommenen Mangel an Grenzen, an Maaß im griechischen Sinn, an “Stil” in jedem Sinn, an eigentlichem Inhalt — ich meine an neuen Werth-setzungen, Werth-Schöpfungen.

Immerhin: im Verhältniß zu dieser letzten großen europäischen Merkwürdigkeit, zum „deutschen Geiste”, ist das augenblicklich so wichtig genommene “deutsche Reich” kein Gegenstand ernsthaften Interesses, zum Mindesten in dem Auge eines Philosophen. Wozu in aller Welt ein neues Reich, wenn es nicht auf einem neuen Gedanken, zum mindesten doch einer neuen Dummheit ruht? Aber noch einmal diese alte Dummheit — gleiche politische Rechte, Volks-Vertretung, Parlamentarismus, Zeitungen, als Grundlage eines Staates — noch ein Mal die blödsinnig machende Europäer-Krankheit des beständigen Politisirens auf ein großes Volk mehr ausgedehnt: was hätte ein Ph<ilosoph> da Neues zu lernen — oder gar zu verachten!


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