Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Fragmente von Frühjahr 1884 bis Herbst 1885, Band 5
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[August – September 1885]

[Dokument: Heft]

39 [1]

Der Wille zur Macht.

Versuch  einer neuen Auslegung alles Geschehens.

Von

Friedrich Nietzsche.

39 [2] “wolkichter Geist”

Wie ein Kind bei fremden Feiertagen: scheu steht es da — nie hörte es noch diese Glocken, nie sah es noch diese Zierden und Feierkleider.

Bin ich denn ein Spiegel, der gleich trübe und blind wird, weil ein fremder Athem mich anhaucht, anfaucht?

Was willst du den Flaum von solchen Dingen schaben? —

Wahrheiten, die kein Lächeln vergüldet hat

39 [3]

Zarathustra 5 (die Jugend als Grundton) kriegerisch im höchsten Grade

Auf einer alten Festung die Trommeln der Herolde. (Finale) des Nachts wie am Rialto. das Rosenfest.

Zarathustra der gottlose Einsiedler, der erste Einsame, der nicht betete.

Seid ihr jetzt stark genug für meine Wahrheiten?

Wer gehört zu mir? was ist vornehm?

„Seid ihr Solche?” (als Refrain) die Rangordnung:

und ihr müßt alles in euch haben, um herrschen zu können, aber auch unter euch!

Refrain: und wenn ihr nicht sprechen dürft: „wir ehren sie, doch sind wir höherer Art” — so seid ihr nicht von meiner Art.

Das Rosenfest.

Nachts an der Brücke.

Zarathustra glücklich darüber, daß der Kampf der Stände vorüber ist, und jetzt endlich Zeit ist für eine Rangordnung der Individuen.

Haß auf das demokratische Nivellirungs-system ist nur im Vordergrund: eigentlich ist er sehr froh, daß dies soweit ist. Nun kann er seine Aufgabe lösen. —

Seine Lehren waren bisher nur an die zukünftige Herrscher-Kaste gerichtet. Diese Herren der Erde sollen nun Gott ersetzen, und das tiefe unbedingte Vertrauen der Beherrschten sich schlaffen. Vorerst: ihre neue Heiligkeit, ihre Verzichtleistung auf Glück und Behagen. Sie geben den Niedrigsten die Anwartschaft auf Glück, nicht sich. Sie erlösen die Mißrathenen durch die Lehre vom “Schnellen Tode”, sie bieten Religionen und Systeme an, je nach der Rangordnung.

39 [4]

Die Selbst-Bespiegelung des Geistes, das Geknarre des logischen Räderwerks, die Aufdröselung der Instinkte

Gesetzt, ihr hättet alles in Formeln aufgelöst: was wäre dann? Sollen wir mit schlechtem Gewissen leben?

Ich bewundre die großen Fälschungen und Ausdeutungen: sie heben uns über das Glück des Thiers empor.

Die Überschätzung der Wahrhaftigkeit, in Kreisen des Heerdenthiers, hat guten Sinn. Sich nicht betrügen lassen — und folglich nicht betrügen

Daß an sich der Wahrhaftige mehr werth sei als der Lügner, ist aus nichts zu erweisen: und vorausgesetzt, daß das Leben auf einem consequenten Getäuschtwerden beruht, so könnte ein consequ<enter> Lügner unter Umständen zu den höchsten Ehren kommen. Daß man schädigt, indem man nicht „die Wahrheit sagt”, ist eine Naivetät. Wenn der Werth des Lebens in gut geglaubten Irrthümern liegt, liegt das Schädigende im “Wahrheitsagen”.

39 [5]

Das jenseitige Leben weg? — man hat dem Leben die Pointe genommen.

39 [6]

Wie die Feige matador ihr Ziel verfolgt, das verderbend, was sie nur als Stütze haben will: so die Vernunft den Philos<ophen>. Was bedeutet eine jede Philosophie für das Leben des Menschen? Sei es als Erhöhung des Machtgefühls: Oder als Mittel ein unerträgliches Dasein zu maskiren? Hinter dem Bewußtsein arbeiten die Triebe.

39 [7]

Ernährung Eigenthum Fortpflanzung Wollust (als Narkose Arbeit Überwindung von Schwingungen)

Der sublime Mensch hat den höchsten Werth, auch wenn er ganz zart und zerbrechlich ist, weil eine Fülle von ganz schweren und seltenen Dingen durch viele Geschlechter gezüchtet und beisammen erhalten worden ist.

Urwald-Thiere die Römer.

39 [8]

Die Vergöttlichung des Teufels — wie geschah diese himmlische Illusion! —

Der Glaube an die Güte Gerechtigkeit und Wahrheit im Grunde der Dinge hat etwas Haarsträubendes.

Die Masken des Teufels.

39 [9]

Die Auslegung der Natur: wir legen uns hinein.

— der furchtbare Charakter.

39 [10]

Zarathustra 1. die Ansätze der Differenzirung.

Alles “Glück” nur als Kur oder Ausruhen erlaubt. Gegen die “Glücklichen” und “Guten” und die Heerdenthiere.

Zarathustra 2. die “Selbst-Überwindung” des Menschen.

Grösster aller Kämpfe und längste Züchtung.

Als Mittel die “Versucher” heraufbeschwören.

Zarathustra 3 vom Ringe

der Urwald, alles in furchtbarer Grösse

39 [11]

Um nicht Entgegengesetztes vom Wesen der Welt auszusagen, muß man festhalten, daß jeder Augenblick eine nothwendige Gesammt-Verschiebung aller Veränderungen bedeutet; aber als Denkendes Schaffendes muß es freilich vergleichen, folglich auch seinen eigenen inneren Zuständen gegenüber zeitlos sein können.

39 [12]

Cap. Ernährung.

Zeugung.

Anpassung. Zurückgeführt auf Willen zur Macht.

Vererbung.

Arbeitstheilung.

Cap. Die Nebenstellung des Bewußtseins neben dem eigentlich Treiben den und Regierenden.

Cap. Die Umkehrung der Zeitordnung: auch im embryonischen Wachsthum (die organische Entwicklung umgekehrt, als sie im Gedächtniß eingelagert ist: zugleich das Älteste als das Stärkste voran). Wie die ältesten Irrthümer gleichsam das Rückgrat abgeben, an dem alles andere sich festhält.

Cap. Die Entwicklung des Logischen

39 [13]

Die Eigenschaften des organischen Wesens.

Die Entwicklung der organischen Wesen.

Der Verband des Organischen und des Unorganischen.

“Erkenntniß” im Verhältniß zu den Bedingungen des Lebens. Das “Perspektivische”.

“Naturgesetze” als Feststellung von Machtverhältnissen.

“Ursache und Folge” ein Ausdruck für die Nothwendigkeit und Unerbittlichkeit dieser Machtfestsetzung.

Freiheit des Willens und Macht.

Schmerz und Lust im Verhältniß zum Willen zur Macht.

“Person” “Subjekt” als Täuschung. Ein beherrschtes Gemeinwesen. Am Leitfaden des Leibes.

Regieren und gehorchen als Ausdruck des Willens zur Macht im Organischen.

Entstehung des Logischen. “Begründung”.

Gegen die Selbst-Bespiegelung. Mathem<atik>.

Die physische Welt wie die seelische beide falsch, aber dauerhafte Irrthümer.

Der Künstler und der Wille zur Macht. Der Eindruck von Neutralität ist bezaubernd für Heerdenthiere. Palazzo Pitti und Phidias. Kunst je nach der Moral, für Heerde oder Führer: — — —

die Widerlegung Gottes, eigentlich ist nur der moralische Gott widerlegt.

Rechte und Pflichten.

Die Strafen.

Ausgangspunkt. Ironie gegen Descartes: gesetzt es gäbe im Grunde der Dinge etwas Betrügerisches, aus dem wir stammten, was hülfe es, de omnibus dubitare! Es könnte das schönste Mittel sein, sich zu betrügen. Überdies: ist es möglich?

“Wille zur Wahrheit” als “ich will nicht betrogen werden” oder “ich will nicht betrügen” oder „ich will mich überzeugen und fest werden”, als Form des Willens zur Macht.

“Wille zur Gerechtigkeit”

“Wille zur Schönheit” alles Wille zur Macht.
“Wille zum Helfen” keine Güte.

39 [14]

Zur Vorrede.

Das menschliche Begreifen — welches zuletzt nur ein Auslegen nach uns und unseren Bedürfnissen ist — steht im Verhältniß zum Range, den der Mensch in der Ordnung aller Wesen einnimmt. Es möge als Beispiel dienen, wie viel der Finger von dem weiß, was der Klavierspieler mit ihm ausführt. Er wird nichts als mechanische Vorgänge spüren und diese logisch combiniren. Auch unter Menschen üben die Niederen ihre Kräfte, ohne Ahnung, wozu sie im Großen Ganzen dienen. Die gesammte physische Causalität ist hundertfältig ausdeutbar, je nachdem ein Mensch oder andere Wesen sie ausdeuten. — Für gröbere Arten Mensch war die menschliche Art von Güte oder Gerechtigkeit oder Weisheit nachweisbar aus der Natur. Indem feinere geistigere Menschen jetzt diese Nachweisbarkeit ablehnen, thun sie es, weil ihr Begriff von Güte Gerechtigkeit und Weisheit gewachsen ist. Der Atheismus ist die Folge einer Erhöhung des Menschen: im Grunde ist er schamhafter, tiefer und vor der Fülle des Ganzen bescheidener geworden; er hat seine Rangordnung besser begriffen. Je weiter unsere Kenntniß wächst, um so mehr empfindet sich der Mensch in seinem Winkel. Die unverschämtesten und festesten Glaubensartikel, die wir in uns tragen, stammen aus der Zeit der größten Unwissenheit z. B. daß unser Wille Ursache ist usw. Wie naiv tragen wir unsere moralischen Werthschätzungen in die Dinge z. B. wenn wir von Naturgesetzen reden! Es möchte nützlich sein, einmal den Versuch einer völlig verschiedenen Ausdeutungsweise zu machen: damit durch einen erbitterten Widerspruch begriffen werde, wie sehr unbewußt unser moralischer Kanon (Vorzug von Wahrheit, Gesetz, Vernünftigkeit usw.) in unserer ganzen sogenannten Wissenschaft regirt.

Populär ausgedrückt: Gott ist widerlegt, aber der Teufel nicht: und alle göttlichen Funktionen gehören mit hinein in sein Wesen: das Umgekehrte gieng nicht!

Er täuscht, er schafft täuschende Intellekte

Er zerstört mit Vorliebe

Er verdirbt, indem er die Besten antreibt zur höchsten Veredelung

Im Walde: er läßt seine Unschuld anbeten

Zuletzt: warum hassen wir ein solches Wesen?

39 [15]

Zur Einleitung.

Nicht der Pessimismus (eine Form des Hedonismus) ist die große Gefahr, die Abrechnung über Lust und Unlust, und ob vielleicht das menschliche Leben einen Überschuß von Unlustgefühlen mit sich bringt. Sondern die Sinnlosigkeit alles Geschehens! Die moralische Auslegung ist zugleich mit der religiösen Auslegung hinfällig geworden: das wissen sie freilich nicht, die Oberflächlichen! Instinktiv halten sie, je unfrommer sie sind, mit den Zähnen an den moralischen Werthschätzungen fest. Schopenhauer als Atheist hat einen Fluch gegen den ausgesprochen, der die Welt der moralischen Bedeutsamkeit entkleidet. In England bemüht man sich, Moral und Physik zu verbrüdern, Herr von Hartmann Moral und die Unvernünftigkeit des Daseins. Aber die eigentliche große Angst ist: die Welt hat keinen Sinn mehr

In wiefern mit ”Gott” auch die bisherige Moral weggefallen ist: sie hielten sich gegenseitig.

Nun bringe ich eine neue Auslegung, eine “unmoralische”, im Verhältniß zu der unsere bisherige Moral als Spezialfall erscheint. Populär geredet: Gott ist widerlegt, der Teufel nicht. —

39 [16]

Mit der närrischen und unbescheidenen Frage, ob in der Welt Lust oder Unlust überwiegt, steht man inmitten der philosophischen Dilettanterei: dergleichen sollte man sehnsüchtigen Dichtern und Weiberchen überlassen. Auf einem nahen Sterne könnte schon so viel Glück und Lustbarkeit sein, daß damit “der Menschheit ganzer Jammer” zehn Mal aufgewogen würde: was wissen wir davon! Und andererseits wollen wir doch ja nur die Erben des christlichen Tiefsinns und Feinsinns sein, daß wir nicht an sich das Leiden verurtheilen: wer es nicht mehr moralisch, zum “Heil der Seele” zu nützen weiß, der sollte es mindestens aesthetisch gelten lassen — sei es als Künstler oder Betrachter der Dinge. Die Welt, das Leiden weggedacht, ist unaesthetisch in jedem Sinne: und vielleicht ist Lust nur eine Form und rhythmische Art desselben!

Ich wollte sagen: vielleicht ist Leiden etwas vom Wesentlichen alles Daseins.

39 [17]

Man darf hoffen daß der Mensch sich so hoch erhebt, daß ihm die bisherigen höchsten Dinge, z. B. der bisherige Gottesglaube, kindlich-kindisch und rührend erscheinen, ja daß er noch einmal es macht, wie er es mit allen Mythen gemacht hat, nämlich <sie in> Kindergeschichten und Märchen verwandelt.

39 [18]

NB. Die Glaubwürdigkeit des Leibes ist erst die Basis, nach der der Werth alles Denkens abgeschätzt werden kann. Gesetzt, wir hätten lauter Dinge erdacht, die es nicht giebt (wie z. B. Teichmüller annimmt!) usw. Der Leib erweist sich immer weniger als Schein! Wer hat bis jetzt Gründe gehabt, den Leib als Schein zu denken? Der vollendete Brahman-Verehrer.

39 [19]

Weib.

Und wo einmal ein Weib zum Bewußtsein über irgend eine Begabung kommt: wie viel lächerliche Selbstbewunderung, wie viel “Gans” ist jedes Mal zugleich damit entfesselt!

39 [20]

Jude

— ich hebe mit Auszeichnung Siegfried Lipiner hervor, einen polnischen Juden, der die mannichfaltigen Formen der europäischen Lyrik auf das Zierlichste nachzubilden versteht, — ”beinahe ächt”, wie ein Goldschmied sagen würde —

39 [21]

Hellwald, Naturgeschichte des Menschen.

Hermann Müller         über Pflanzen.

Burmeister

39 [22]

Zarathustra 4. sagt zu den Seinen: gebt Acht, wer gegen Leiden, Schein, Narrheit redet

— der gehört zum Volk, auch als Philosoph. Wie man am besten zur Masse redet? Ich weiß es nicht, es gehört nicht zu meiner Aufgabe. Es scheint mir, daß man ihr das Leben sehr erschweren muß durch die Forderungen strenger Tugenden: sonst werden sie faul und genüßlich, auch im Denken.

Für die niederen Menschen gelten die umgekehrten Werthschätzungen: es kommt darauf an, in sie die Tugenden zu pflanzen. Die absoluten Befehle, furchtbare Zwingmeister, sie dem leichten Leben entreißen

die Bedeutung der Religionen

Zarathustra als Verführer der Jugend, die Rache der Väter, er heißt sie warten.

Zarathustra auf den Wällen der Festung gehend: — er hört den absoluten Pessimismus predigen. Die Stadt wird umringt. Er schweigt.


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