Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Fragmente von Frühjahr 1884 bis Herbst 1885, Band 5
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Sommer — Herbst 1884]

[Dokument: Heft]

27 [1]

Das Nachdenken über „Freiheit und Unfreiheit des Willens” hat mich zu einer Lösung dieses Problems geführt, die man sich gründlicher und abschließender gar nicht denken kann — nämlich zur Beseitigung des Problems, vermöge der erlangten Einsicht: es giebt gar keinem Willen, weder einen freien noch einen unfreien.

27 [2]

Unter gewissen Umständen folgt auf einen Gedanken eine Handlung: zugleich mit dem Gedanken entsteht der Affekt des Befehlenden — zu ihm gehört das Gefühl von Freiheit, das man gemeinhin in den „Willen” selbst verlegt (während es nur eine Begleiterscheinung des Wollens ist)

27 [3]

Alle physiologischen Vorgänge sind darin gleich, daß sie Kraftauslösungen sind, welche, wenn sie in das sensorium commune gelangen, eine gewisse Erhöhung und Verstärkung mit sich führen: diese, gemessen an drückenden, lastenden Zuständen des Zwangs, werden als Gefühl der “Freiheit” ausgedeutet.

27 [4]

Die Selbstüberwindung, welche der Forscher auf dem Gebiete der Moral von sich fordert, ist die, nicht voreingenommen gegen Zustände und Handlungen zu sein, die er zu verehren angelernt ist; er muß, solange er Forscher ist, „sein verehrendes Herz zerbrochen haben”.

27 [5]

Wer die Bedingungen eingesehn hat, unter denen eine moral<ische> Schätzung entstanden ist, hat ihren Werth damit noch nicht berührt: es sind viele nützliche Dinge, und ebenso wichtige Einsichten auf fehlerhafte und unmethodische Weise gefunden worden; und jede Qualität ist noch unbekannt, auch wenn man begriffen hat, unter welchen Bedingungen sie entsteht.

27 [6]

Bei allem Utilitarism ist im Hintergrunde das wozu nützlich? (nämlich Glück: will sagen englisches Glück mit comfort und fashion Wohlbehagen, hdonh) als bekannte Sache angesetzt; also ist er ein verkappter verheuchelter Hedonismus. Aber da müßte erst bewiesen sein, daß Wohlbefinden Wohlfahrt „an sich” bei einem Gemeinwesen oder selbst bei der Menschheit Ziel und nicht Mittel sei! Die persönliche Erfahrung lehrt, daß Unglücks-Zeiten hohen Werth haben — und ebenso steht es mit Unglücks-Zeiten von Völkern und der Menschheit.

die Furcht und der Haß auf den Schmerz ist pöbelhaft.

27 [7]

Das Gefühl entsteht erst bei einer gewissen Stärke des Reizes: es ist der Moment, wo das Central-Organ das Verhältniß des Reizes zum gesamten Organismus constatirt und mit “Lust” oder “Schmerz” dem Bewußtsein erkennbar macht: also ein Erzeugniß des Intellekts, so gut wie Farbe, Ton, Wärme usw.

27 [8]

Der Mensch als Vielheit: die Physiologie giebt nur die Andeutung eines wunderbaren Verkehrs zwischen dieser Vielheit und Unter- und Einordnung der Theile zu einem Ganzen. Aber es wäre falsch, aus einem Staate nothwendig auf einen absoluten Monarchen zu schließen (die Einheit des Subjekts)

27 [9]

Es giebt so viel verlorenes Unglück — so verloren wie der größte Theil der Sonnenwärme im Weltraum

27 [10]

Der außerordentliche Mensch lernt durch Unglück, wie wenig Werth all die Würdigkeit und Ehrenhaftigkeit der ihn Beurteilenden hat. Sie platzen — wenn man sie in ihrer Eitelkeit verwundet — ein intolerantes beschränktes Vieh kommt zum Vorschein.

27 [11]

Seelengröße nicht zu trennen von geistiger Größe. Denn sie involvirt Unabhängigkeit; aber ohne geistige Größe soll diese nicht erlaubt sein, sie richtet Unfug an, selbst noch durch Wohlthun-wollen und “Gerechtigkeit”-üben. Die geringen Geister haben zu gehorchen — können also nicht Größe haben.

27 [12]

Es ist nichts, hart sein wie ein Stoiker, mit der Unempfindlichkeit hat man sich losgelöst. Man muß den Gegensatz in sich haben — die zarte Empfindung und die Gegenmacht, nicht zu verbluten, sondern jedes Unglück wieder plastisch “zum Besten zu wenden”.

27 [13]

Das „Heil der Seele” ist ein viel vollerer Begriff als das Glück, von dem alle Moralisten schwätzen. Es soll gemeint sein die ganze wollende schaffende fühlende Seele und deren Heil — nicht nur eine Begleit-Erscheinung wie “Glück” usw. – Das Begehren nach “Glück” charakterisirt die halb- oder nichtgerathenen Menschen, die ohnmächtigen — alle andern denken nicht an's „Glück”, sondern ihre Kraft will heraus.

27 [14]

27 [15]

“Die Menschen sind gleich” und „das Wohl der Gemeinde steht höher als das Wohl des Einzelnen” und „durch das Wohl des Einzelnen wird nothwendig auch das Gemeinde-Wohl am besten gefördert” und „je besser es vielen Einzelnen geht, um so größer ist die gesammte Wohlfahrt” — dies sind die landläufigen von England her kommenden Beschränktheiten. Es ist der Heerden-Instinkt, der hier zu Begriffen zu Worten kommt.

Nun lehrte umgekehrt das Christenthum, daß das Leben eine Prüfung und Erziehung der Seele sei, und daß in allem Wohlbefinden Gefahr sei. Es begriff den Werth des Übels.

27 [16]

Ich lehre: daß es höhere und niedere Menschen giebt, und daß ein Einzelner ganzen Jahrtausenden unter Umständen ihre Existenz rechtfertigen kann — d. h. ein voller reicher großer ganzer Mensch in Hinsicht auf zahllose unvollständige Bruchstück-Menschen.

27 [17]

Ich lehre: die Heerde sucht einen Typus aufrecht zu erhalten und wehrt sich nach beiden Seiten, ebenso gegen die davon Entartenden (Verbrecher usw.) als gegen die darüber Emporragenden. Die Tendenz der Heerde ist auf Stillstand und Erhaltung gerichtet, es ist nichts Schaffendes in ihr.

27 [18]

Die angenehmen Gefühle, die der Gute Wohlwollende Gerechte in uns einflößt (im Gegensatze zu der Spannung, Furcht, welche der große neue Mensch hervorbringt) sind unsere persönlichen Sicherheits-Gleichheits-Gefühle: das Heerdenthier verherrlicht dabei die Heerden-Natur und empfindet sich selber dann wohl. Dies Urtheil des Wohlbehagens maskiert sich mit schönen Worten — so entsteht „Moral”.

Man beobachte aber den Haß der Heerde gegen den Wahrhaftigen —

27 [19]

Der bestimmteste Wille (als Befehl) ist eine vage Abstraktion, in welcher unzählige Einzelfälle einbegriffen sind und also auch unzählige Wege zu diesen Einzelfällen. Was bringt nun die Auswahl des Einen Falles zu Stande, der wirklich eintritt? Thatsächlich gehören eine Unzahl von Individuen zur Ausführung, die alle in einem ganz bestimmten Zustand sind, als der Befehl gegeben wird — sie müssen ihn verstehen und auch ihre spezielle Aufgabe dabei d. h. es muß immer von neuem bis ins Kleinste hinein befohlen (und gehorcht) werden und dann erst, wenn der Befehl zergliedert ist in die Unzahl kleiner Unterbefehle kann die Bewegung vor sich gehen, die von dem letzten und kleinsten Gehorchenden anhebt — also eine Umkehrung findet statt, wie beim Kanonenschuß-Traum.

Hier ist die Voraussetzung gemacht, daß der ganze Organismus denkt, daß alle organischen Gebilde Theil haben am Denken Fühlen Wollen — folglich daß das Gehirn nur ein enormer Centralisations-Apparat ist.

27 [20]

Nach Glück suchen? Das kann ich nicht. Glücklich machen? Aber es giebt für mich so viel Wichtigeres.

27 [21]

Bei Lust und Unlust wird zuerst die Thatsache abtelegraphirt an die nervösen Centren, dort der Werth der Thatsache (der Verletzung) bestimmt, darauf der Schmerz an die Stelle lokalisirt, wo die Verletzung stattfand und so das Bewußtsein auf diese Stelle aufmerksam gemacht, und durch den Grad und die Qualität des Schmerzes angewiesen, wie schnell die Hülfe noth thut. — Wie schnell das geschieht — denn die Gegenbewegungen z. B. bei einem Fehltritte kommen erst infolge eines Willens-Aktes vom Bewußtsein her und müssen nun erst alle die Einzel-Befehle feststellen, — und dann die Ordnung der Bewegungen in umgekehrter Folge vor sich geht!

Also: zu jeder Lust und Unlust ist Denken nöthig (ob es schon nicht zum Bewußtsein kommt) und sofern Gegenhandlungen dadurch veranlaßt werden, auch Wille.

27 [22]

Ein Mensch, der weder an Geld noch an Ehre noch an Gewinnung von einflußreichen Verbindungen, noch von Ämtern je gedacht hat — sollte der wohl die Menschen kennen?

27 [23]

Zarathustra I alle Arten höherer Menschen und deren Bedrängniß und Verkümmerung (einzelne Beispiele z. B. Dühring, zu Grunde gerichtet durch Isolation) — im Ganzen das Schicksal der höheren Menschen in der Gegenwart, die Art, wie sie zum Aussterben verurtheilt erscheinen: wie ein großer Hülfeschrei kommt es zu den Ohren Zarathustra's. Alle Art von wahnsinniger Entartung höherer Naturen (z. B. Nihilismus) kommt an ihn heran.

Zarathustra 2. – „die Lehre der ewigen Wiederkehr” — zunächst zerdrückend für die Edleren, scheinbar das Mittel, sie auszurotten — denn die geringeren, weniger empfindlichen Naturen bleiben übrig? „Man muß diese Lehre unterdrücken und Zarathustra tödten.”

Zarathustra 3 „ich gab euch den schwersten Gedanken: vielleicht geht die Menschheit daran zu Grunde, vielleicht erhebt sie sich, dadurch daß die überwundenen lebensfeindlichen Elemente ausscheiden.” „Nicht dem Leben zu zürnen, sondern euch!“ — Bestimmung des höheren Menschen als des Schaffenden. Organisation der höheren Menschen, Erziehung der zukünftigen Herrschenden als Thema von Zarathustra 3. Eure Übermacht muß ihrer selber froh werden im Herrschen und Gestalten. Nicht nur der Mensch auch der Übermensch kehrt ewig wieder!

27 [24]

Freiheit und Machtgefühl. Das Gefühl des Spiels bei der Überwindung großer Schwierigkeiten, z. B. vom Virtuosen; Gewißheit seiner selber, daß auf den Willen die genau entsprechende Aktion folgt — eine Art Affekt des Übermuthes ist dabei, höchste Souveränität des Befehlenden. Es muß das Gefühl des Widerstandes, Druckes dabei sein. — Dabei ist aber eine Täuschung über den Willen: nicht der Wille überwindet den Widerstand — wir machen eine Synthese zwischen 2 gleichzeitigen Zuständen und legen eine Einheit hinein.

Der Wille als Erdichtung.

  1. man glaubt, daß er selber bewegt (während er nur ein Reiz ist, bei dessen Eintritt eine Bewegung beginnt
  2. man glaubt, daß er Widerstände überwindet
  3. man glaubt, daß er frei und souverän ist, weil sein Ursprung uns verborgen bleibt und weil der Affekt des Befehlenden ihn begleitet
  4. weil man in den allermeisten Fällen nur will, wenn der Erfolg erwartet werden kann, wird die „Nothwendigkeit” des Erfolgs dem Willen als Kraft zugerechnet.

27 [25]

Lust als das sich fühlbar machende Anwachsen des Machtgefühls.

Lust und Schmerz sind etwas Verschiedenes und nicht Gegensätze.

27 [26]

Die Vielheit der Triebe — wir müssen einen Herrn annehmen, aber der ist nicht im Bewußtsein, sondern das Bewußtsein ist ein Organ, wie der Magen.

27 [27]

Am Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche theils mit einander kämpfend, theils einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkürlich auch das Ganze bejahen.

Unter diesen lebenden Wesen giebt es solche, welche in höherem Maaße Herrschende als Gehorchende sind, und unter diesen giebt es wieder Kampf und Sieg.

Die Gesammtheit des Menschen hat alle jene Eigenschaften des Organischen, die uns zum Theil unbewußt bleiben <zum Theil> in der Gestalt von Trieben bewußt werden.

27 [28]

Das verschiedene Werthgefühl, mit dem wir diese Triebe von einander abheben, ist die Folge ihrer größeren oder geringeren Wichtigkeit, ihrer thatsächlichen Rangordnung in Hinsicht auf unsere Erhaltung.

27 [29]

Je nach der Umgebung und den Bedingungen unseres Lebens tritt ein Trieb als der höchstgeschätzte und herrschendste hervor; das Denken Wollen und Fühlen macht sich ihm insbesondere zum Werkzeuge.

27 [30]

Ist die absolute Bedingung des Menschen eine Gemeinschaft, so wird der Trieb an ihm, vermöge dessen die Gemeinschaft erhalten wird, am kräftigsten entwickelt. Je unabhängiger er ist, um so mehr verkümmern die Heerden-Instinkte.

27 [31]

NB. Unter bestimmten Veränderungen der Quantitäten entsteht das, was wir als verschiedene Qualität empfinden. So ist es auch im Moralischen. Hier entstehn Nebengefühle des Wohlthätigen, Nützlichen bei dem, der eine menschliche Eigenschaft in einem gewissen Quantum wahrnimmt; verdoppelt, verdreifacht, hat er Furcht vor ihr — — —

27 [32]

Der Werth einer Handlung hängt davon ab, wer sie thut und ob sie aus seinem Grunde oder aus seiner Oberfläche stammt: d. h. wie tief sie individuell ist.

27 [33]

Der Werth einer Handlung ist bestimmbar, wenn der Mensch selber erkennbar ist: was im Allgemeinen zu leugnen sein wird.

27 [34]

Wir schließen auch bei uns selber auf die Ursprünge einer Handlung aus Zeichen: solche sind unsere der That voranlaufenden Affekte, Vorbilder, Zwecke usw.

Daß eine Handlung einem Zwecke gemäß sich entwickelt, ist oft der Fall: aber der Zweck ist dabei nicht Ursache, sondern Wirkung derselben Vorgänge, welche die eigentliche Handlung bedingten.

27 [35]

Wo alles noch ungestaltet liegt, da ist unser Arbeitsfeld für menschliche Zukunft!

27 [36]

Die Naturwissenschaft will mit ihren Formeln die Überwältigung der Naturkräfte lehren: sie will nicht eine “wahrere” Auffassung an Stelle der empirisch-sinnlichen setzen (wie die Metaphysik)

27 [37]

Grundlegung der Moral.
Die Vorurtheile der Heerde. keine
Die Vorurtheile der Mächtigen. Gewissens- Heuchelei
Die Vorurtheile der Unabhängigen.  

1. Erkennbarkeit des Menschen.

27 [38]

Alles Leben beruht auf dem Irrthum — wie ist Irrthum möglich?

27 [39]

Für die Zeit der Luftschiffahrt, wo die unwillkürliche gegenseitige Beaufsichtigung durch den Nächsten wegfällt, ist der Mensch nicht gut genug

27 [40]

Die Bequemlichkeit, Sicherheit, Furchtsamkeit, Faulheit, Feigheit ist es, was dem Leben den gefährlichen Charakter zu nehmen sucht und alles „organisiren” möchte — Tartüfferie der ökonomischen Wissenschaft

Die Pflanze Mensch gedeiht am kräftigsten, wenn die Gefahren groß sind, in unsicheren Verhältnissen: aber freilich gehn eben da die Meisten zu Grunde.

Unsere Stellung in der Welt der Erkenntniß ist unsicher genug — jeder höhere Mensch fühlt sich als Abenteurer.

27 [41]

Wollte man heraus aus der Welt der Perspective, so gienge man zu Grunde. Auch ein Rückgängig-machen der großen bereits einverleibten Täuschungen zerstört die Menschheit. Man muß vieles Falsche und Schlimme gutheißen und acceptiren.

27 [42]

1) Von der Verstellung vor „Seines-gleichen” als Ursprung der Heerden-Moral.

Furcht. Sich-Verstehn-wollen. Sich-gleich-geben.

Gleich — werden — Ursprung des Heerden-Thiers. (Hier der Sinn der Convention, der Sitten) Immer noch allgemeine Hypocrisie

Moralität als Putz und Schmuck, als Verkleidung der schämenswerthen Natur.

2) Von der Schmeichelei vor dem Mächtigsten als Quelle der Sklaven-Moral (Verwandtschaft von Schmeichelei Verehrung Übertreibung Sich-im-Staube-wälzen und Sich-selber-Verkleinern

- der Heerde gegenüber das ideale Heerden-Thier (gleich)

- dem Mächtigen gegenüber das verehrendste nützlichste Werkzeug (sclavenhaft) “ungleich” (dies ergiebt eine zwiefache Heuchelei)

27 [43]

Der höhere Mensch und der Heerden-Mensch

Wenn die großen Menschen fehlen, so macht man aus den vergangenen großen Menschen Halbgötter oder ganze Götter: das Ausbrechen von Religion beweist, daß der Mensch nicht mehr am Menschen Lust hat (- “und am Weibe auch nicht” mit Hamlet) Oder: man bringt viele Menschen auf Einen Haufen, als Parlamente und wünscht, daß sie gleich tyrannisch wirken.

27 [44]

Das “Tyrannisirende” ist die Thatsache großer Menschen: sie machen die Geringeren dumm.

27 [45]

Lieber gefährdet und bewaffnet leben, als unter dieser feigen gegenseitigen Heerden-Freundlichkeit!

27 [46]

Alle Menschen auf die bisher etwas ankam, waren böse.

27 [47]

Man soll bei den Philosophen darauf Acht haben: irgend ein Ekel, ein Satthaben steckt dahinter, z. B. bei Kant Schopenhauer Indern. Oder: ein Wille zur Herrschaft wie bei Plato.

27 [48]

Die Betrachtung des Werdens zeigt, daß Täuschung und Sich-täuschen-wollen, daß Unwahrheit zu den Existenzbedingungen des Menschen gehört hat: man muß den Schleier einmal abziehn.

27 [49]

Die Nothwendigkeit der Heerden-bildung besteht in der Furchtsamkeit (der Schwächeren?) — die wohlwollenden Gefühle bei der Berührung mit dem Nächsten, wenn er, statt zu schaden oder zu drohen, sich „gütig” zeigt

27 [50]

Die Entwicklung der List, der Widerspänstigkeit, in der Erkenntniß.

27 [51]

Falsche Auslegung der Mutterliebe durch die, welche den Vortheil davon haben — und durch die Mütter selber.

27 [52]

Ein Tiger, der einen ungeschickten Sprung thut, schämt sich vor sich selber.

27 [53]

Lust — ein Verhältniß-Gefühl von diversen Graden von Unlust — also an Erinnerung und Vergleichen geknüpft!

27 [54]

Wohlwollen auf erster Stufe: nicht-wehethun-wollen.

27 [55]

Welche Wohlthat, daß so vieles in der Natur zählbar und berechenbar ist — kurz daß unser fälschender beschränkter Menschen-Verstand nicht alle Gesetze vorgeschrieben hat — — —

27 [56]

Moral unter dem Gesichtspunkt der Verstellung (gleich-stellen), List und Heuchelei (“sich nicht zu erkennen geben”) — als Fälschung des Gemüths-Ausdrucks (Selbstbeherrschung) um ein Mißverständniß zu erwecken

unter dem Gesichtspunkt des Schmucks, der Verkleidung Verschönerung, Schmeichelei

unter dem Gesichtspunkt der Selbst-Täuschung zum Zweck des Sicherheits-Gefühls

unter dem Gesichtspunkt der Selbst-Verherrlichung zum Zweck des Schrecken-Einflößens unter dem Gesichtspunkt des Unbehagens und des Mißrathens, theils als Rache an sich, theils als Rache an den Andern.

unter dem Gesichtspunkt des unbedingt Befehlenden oder Gehorchenden

unter dem Gesichtspunkt des Sich-Los-lösenden Einzelnen.

unter dem Gesichtspunkt der Zähmung, oft unbeabsichtigt

unter dem Gesichtspunkt der Züchtung einer bestimmten Art von Menschen (Gesetzgeber und Fürsten als Züchter, auch die öffentliche Meinung.)

Jenseits von Gut und Böse: zur Erziehung der Herrscher — Naturen, welche die höchsten Pflichten zu erfüllen haben.

27 [57]

NB. Zwei-Deutigkeit eines Organs entsprechend auf Zwei-Deutigkeit des Ganzen —

27 [58]

Die ewige Wiederkunft. Eine Wahrsagung.

Erster Theil. Der schwerste Gedanke.

Zweiter Theil. Jenseits von Gut und Böse.

Dritter Theil. Mensch und Übermensch.

27 [59]

Der Mensch hat, im Gegensatz zum Thier, eine Fülle gegensätzlicher Triebe und Impulse in sich groß gezüchtet: vermöge dieser Synthesis ist er der Herr der Erde. — Moralen sind der Ausdruck lokal beschränkter Rangordnungen in dieser vielfachen Welt der Triebe: so daß an ihren Widersprüchen der Mensch nicht zu Grunde geht. Also ein Trieb als Herr, sein Gegentrieb geschwächt, verfeinert, als Impuls, der den Reiz für die Thätigkeit des Haupttriebes abgiebt.

Der höchste Mensch würde die größte Vielheit der Triebe haben, und auch in der relativ größten Stärke, die sich noch ertragen läßt. In der That: wo die Pflanze Mensch sich stark zeigt, findet man die mächtig gegen einander treibenden Instinkte (z. B. Shakespeare), aber gebändigt.

27 [60]

Die Erziehung zu jenen Herrscher-Tugenden, welche auch über sein Wohlwollen und Mitleiden Herr werden, die großen Züchter-Tugenden (“seinen Feinden vergeben” ist dagegen Spielerei) den Affekt des Schaffenden auf die Höhe bringen — nicht mehr Marmor behauen! — Die Ausnahme- und Macht-Stellung jener Wesen, verglichen mit der der bisherigen Fürsten: der römische Cäsar mit Christi Seele.

27 [61]

NB. Wenn man die Bedingungen des Entstehens kennt, kennt man das Entstandene noch nicht! Dieser Satz gilt in der Chemie, wie im Organischen.

27 [62]

NB. Von der Oberflächlichkeit des Geistes! — nichts ist gefährlicher als das Selbstgenugsame “Nabel-beschauen” des Geistes, wie bei den Brahmanen.

27 [63]

NB. Alle Empfindungen, alle Sinnes-Wahrnehmungen sind ursprünglich in irgend einem Verhältniß zur Lust oder Unlust der organischen Wesen: grün, roth, hart, weich, hell, dunkel bedeuten etwas in Hinsicht auf ihre Lebensbedingungen (d. h. den organischen Prozeß) Thatsächlich sind viele von ihnen “gleichgültig” d. h. weder lust- noch schmerzhaft geworden, ihr Lust- und Unlust-Untergrund ist jetzt verblichen. Aber an dem Künstler kommt sie wieder heraus! — Ebenso bedeuten alle Formen und Gestalten ursprünglich etwas in Hinsicht auf Lust und Unlust des lebenden Geschöpfes (- sie bedeuten Gefahr, Ekel, Behagen, Sicherheit, Freundschaft, Frieden). — Ich meine, es stecken bestimmte Schätzungen, bestimmte Vorstellungen über Nützlichkeit und Schädlichkeit in allen Empfindungen, z. B. beim Ekel noch ersichtlich. Lust und Unlust als Zuneigung oder Abneigung-?

27 [64]

Wir empfinden nur alles das von den Dingen, was uns irgendwie angeht (oder angieng) — der ganze organische Prozeß zieht in uns sein Resultat. „Erfahrung” d.h. das Resultat aller jener Reaktionen, wo wir auf etwas außer oder in uns reagirt haben. — Wir haben unsere Reaktion verschmolzen mit dem Dinge, welches auf uns agirte.

27 [65]

Die gewöhnlichen Irrthümer: wir trauen dem Willen zu, was zahlreiche und complicirte eingeübte Bewegungen ermöglichen. Der Befehlende verwechselt sich mit seinen gehorsamen Werkzeugen (und deren Willen)

27 [66]

Muß nicht überall der umgekehrte Prozeß da sein z. B. beim Klavierspieler, der Wille zuerst, dann die entsprechende Vertheilung der Aufgaben an die subordinirten Willen, dann das Anheben der Bewegung von der letzten untersten Gruppe aus — dem gröbsten Mechanismus bis hinauf in die feinsten Tast-Nerven?

Nämlich: Akkord, Stärke, Ausdruck, alles muß vorher schon da sein —: Gehorsam muß da sein und Möglichkeit zu gehorchen!

27 [67]

Zum Plan

(Wir sind mitten im Feststellen von Thatsachen)

Beschreibung, nicht Erklärung. (z. B. Morphologie als Beschreibung des Nacheinanders)

Letzte Absicht solcher Beschreibung: praktische Bewältigung, im Dienste der Zukunft.

Vorläufige Menschen und Methoden — Abenteuer (thatsächlich ist alles in der Geschichte ein Versuchen)

Eine solche vorläufige Conception zur Gewinnung der höchsten Kraft ist der Fatalismus (ego — Fatum) (extremste Form „ewige Wiederkehr”)

Um ihn zu ertragen, und um nicht Optimist zu sein, muß man „gut” und “böse” beseitigen.

Meine erste Lösung: die tragische Lust am Untergange des Höchsten und Besten (es wird als beschränkt empfunden in Hinsicht des Ganzen): doch ist dies Mystik in Ahnung eines noch höheren „Guten”

Meine zweite Lösung: das höchste Gute und Böse fallen zusammen.

27 [68]

Dadurch, daß ich die subjektive Entstehung zeige z. B. vom Raum usw., ist die Sache selber weder widerlegt, noch bewiesen. Gegen Kant — —

27 [69]

Zur Empfindung gehört Dauer — die Zeit ist “Sach-Zeit”, ist causal — — —

27 [70]

Was am complicirtesten ist, enthält mehr Anlaß zum Vertrauen als das Einfache (z. B. das Geistige –) Der Leib als Leitfaden.

27 [71]

Zarathustra 1. Zarathustra unter Thieren zu denen redend, die ihn besuchen — Theorie der Moral nach zoologischen Gesichtspunkten.

Zarathustra 2. Höchster Fatalismus doch identisch mit dem Zufalle und dem Schöpferischen. (Keine Werthordnung in den Dingen! sondern erst zu schaffen.)

27 [72]

Wenn einer, aus Sprache und Geschichte, die Entstehung der menschlichen Ansichten über Ernährung ergründete und die Genesis und den Verlauf dieser „Werth-Urtheile” darstellte — so hätte er über den Wert der Ernährung für den Menschen noch gar nichts ausgemacht. Und ebenso wäre eine Kritik der thatsächlichen Arten der Ernährung in der Geschichte auch damit noch nicht gegeben. Ebenso steht es mit der Moral: die Entstehung der moralischen Urtheile ist zu beschreiben — damit ist das thatsächliche Verhalten des Menschen die Geschichte seiner Moralität noch nicht beschrieben, noch weniger aber kritisirt. Am wenigsten aber ist der Werth der Handlungen überhaupt damit schon gegeben, daß die Geschichte der Urtheile über Handlungen gegeben wird. — — —

27 [73]

seelische Gefühle — leibliche (Begleit- und Folgezustände Schmerz ist leiblich.

27 [74]

Ich betrachte alle metaphysischen und religiösen Denkweisen als Folge einer Unzufriedenheit am Menschen eines Triebes nach einer höheren, Übermenschlichen Zukunft — nur daß die Menschen sich in's jenseits flüchten wollten: statt an der Zukunft zu bauen. Ein Mißverständniß der höheren Naturen, die am häßlichen Bilde des Menschen leiden.

27 [75]

Dühring, oberflächlich, sieht überall Corruption — ich empfinde vielmehr die andere Gefahr des Zeitalters, die große Mittelmäßigkeit; es gab nie so viel Rechtlichkeit und Gutartigkeit.

27 [76]

Von der Unehrlichkeit der Philosophen, etwas abzuleiten , was sie von vornherein als gut und wahr glauben (Tartüfferie z. B. Kant praktische Vernunft)

27 [77]

Ich will das höchste Mißtrauen gegen mich erwecken — ich rede nur von erlebten Dingen und präsentire nicht nur Kopf-Vorgänge.

27 [78]

Mißverständniß meiner Jugend: ich hatte mich noch nicht ganz von der Metaphysik losgemacht — aber das tiefste Bedürfniß nach einem andern Bilde des Menschen. An Stelle der Sündhaftigkeit erlebte ich ein viel volleres Phänomen — ich durchschaute die Armseligkeit in aller modernen Zufriedenheit.

“alles Falsche an den Dingen an's Licht zu bringen” p. 49 — ich als ernsthafter Fortsetzer des Schopenhauerschen Pessimismus.

27 [79]

Die neue Aufklärung.

1. Die Aufdeckung der Grundirrthümer (hinter denen die Feigheit Trägheit und Eitelkeit des Menschen stehen) z. B. in Betreff der Gefühle (und des Leibes)

2. Die zweite Stufe: die Entdeckung des schöpferischen Triebes, auch in seinen Verstecken und Entartungen.

3. Die Überwindung des Menschen.

27 [80]

Die ewige Wiederkunft. Eine Wahrsagung.

Grosse Vorrede.

Die neue Aufklärung — die alte war im Sinne der demokratischen Heerde. Gleichmachung Aller. Die neue will den herrschenden Naturen den Weg zeigen — inwiefern ihnen alles erlaubt ist, was den Heerden-Wesen nicht freisteht:

  1. Aufklärung in Betreff „Wahrheit und Lüge” am Lebendigen.
  2. Aufklärung in Betreff “Gut und Böse”
  3. Aufklärung in Betreff der gestaltenden umbildenden Kräfte (die versteckten Künstler)
  4. Die Selbst-Überwindung des Menschen. (die Erziehung des höheren Menschen)
  5. Die Lehre der ewigen Wiederkunft als Hammer in der Hand der mächtigsten Menschen,— — —

27 [81]

Hat schon je ein Mensch auf dem Wege der Wahrheit gesucht wie ich es bisher gethan habe — nämlich allem widerstrebend und zuwiderredend, was meinem nächsten Gefühle wohl that? und — — —

27 [82]

Die ewige Wiederkunft.


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