Friedrich Wilhelm Nietzsche
Die Fragmente von Frühjahr 1884 bis Herbst 1885, Band 5
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Herbst 1884 — Anfang 1885]

[Dokument: Heft]

30 [1]

Möge Europa bald einen großen Staatsmann hervorbringen, und der, welcher jetzt, in dem kleinlichen Zeitalter plebejischer Kurzsichtigkeit, als “der große Realist” gefeiert wird, klein dastehen.

30 [2]

Zum ersten Theil: meine Werthschätzung in die Logik einführen z. B. Hypothese gegen Sicherheit usw.

30 [3]

Wo darf ich heimisch sein? Darnach suchte ich am längsten, dies Suchen blieb meine stäte Heimsuchung.

Wozu sich in häßliche Sprachen verlieben, weil unsere Mütter sie sprachen? Warum dem Nachbar gram sein, wenn an mir und an meinen Vätern so wenig zu lieben ist!

30 [4]

  1. Zarathustra
  2. der Wahrsager
  3. der erste König
  4. der zweite König
  5. der häßlichste Mensch.
  6. der Gewissenhafte.
  7. der gute Europäer
  8. der freiwillige Bettler.
  9. der alte Papst
  10. der schlimme Zauberer.

30 [5]

Es gereicht einem Zeitalter nicht immer zum Vorwurf, wenn es seinen größten Geist nicht erkennt und für das erstaunlichste Gestirn, das aus seiner eigenen Nacht emporsteigt, kein Auge hat. Vielleicht ist dieser Stern bestimmt, viel ferneren Welten zu leuchten; vielleicht wäre es sogar ein Verhängniß, wenn er zu früh erkannt würde — es könnte sein, daß damit das Zeitalter von seiner Aufgabe weggelockt <würde> und dadurch wieder einem kommenden Zeitalter Schaden zufügte: dadurch daß es ihm eine Arbeit übrig ließ, die bereits hätte abgethan sein sollen und welche vielleicht gerade den Kräften dieses kommenden Zeitalters weniger angemessen ist.

30 [6]

Kritik der moralischen

Werthschätzungen.

30 [7]

Aber Zarathustra, ein Wort zu guter Zeit! Du hast mich heute zu deinem Abendmahle eingeladen: ich hoffe, du willst mich nicht mit solchen Reden abspeisen?

30 [8]

Der Bezauberer.

Ich bin müde; umsonst suchte ich zeit Lebens einen großen Menschen. Aber es giebt auch keinen Zarathustra mehr.

Ich erkenne dich, sagte Zarathustra ernst, du bist der Bezauberer Aller, aber mich dünkt, du hast dir selber allein den Ekel eingeerntet.

Es ehrt dich, daß du nach Größe strebtest, aber es verräth dich auch: du bist nicht groß.

Wer bist du? sagte er mit entsetzten und feindseligen Blicken, wer darf so zu mir reden? —

Dein böses Gewissen — antwortete Zarathustra und wandte dem Bezauberer den Rücken.

30 [9]

Im Leben todt, ins Glück vergraben, — wer so — — — wie viele Male muß der noch auferstehen!

Oh Glück, ich kam durch Haß und Liebe selber zu meiner Oberfläche: zu lange hieng ich in einer schweren Luft von Haß und Liebe: die schwere Luft trieb und schob mich wie einen Ball

Heiter, wie Einer der seinen Tod voraus genießt.

Steht nicht die Welt eben still? Wie mit dunklen Zweigen und Blättern umwindet mich diese Stille,

Willst du singen, oh meine Seele? Aber das ist die Stunde, wo kein Hirt die Flöte bläst. Mittag schläft auf den Fluren.

die goldene Trauer aller, die zu viel Gutes geschmeckt haben.

Wie lange schlief ich mich aus? Wie viel länger darf ich nun mich auswachen!

30 [10]

Die Nöthigung bei großer Gefahr, sich verständlich zu machen, sei es um sich einander zu helfen oder um sich zu unterwerfen, hat nur vermocht, jene Art Urmenschen einander anzunähern, welche mit ähnlichen Zeichen ähnliche Erlebnisse ausdrücken konnten; waren sie zu verschieden, verstanden sie sich, beim Versuche einer Verständigung durch Zeichen, falsch: so gelang die Annäherung, also endlich die Heerde nicht. Daraus ergiebt sich, daß im Großen und Ganzen die Mittheilbarkeit der Erlebnisse (oder Bedürfnisse oder Erwartungen) eine auswählende, züchtende Gewalt ist: die ähnlicheren Menschen bleiben übrig. Die Nöthigung zu denken, die ganze Bcwußtheit, ist erst auf Grund der Nöthigung, sich zu verständigen, hinzugekommen. Erst Zeichen, dann Begriffe, endlich “Vernunft”, im gewöhnlichen Sinn. An sich kann das reichste organische Leben ohne Bewußtsein sein Spiel abspielen: so bald aber sein Dasein an das Mit-Dasein anderer Thiere geknüpft ist, entsteht auch eine Nöthigung zur Bewußtheit. Wie ist diese Bewußtheit möglich? Ich bin fern davon, auf solche Fragen Antworten (d. h. Worte und nicht mehr!) auszudenken; zur rechten Zeit fällt mir der alte Kant ein, welcher einmal sich die Frage stellte: “wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?” Er antwortete endlich, mit wunderbarem deutschem Tiefsinn: “durch ein Vermögen dazu”. — Wie kommt es doch, daß das Opium schlafen macht? Jener Arzt bei Molière antwortete: es ist dies die vis soporifica. Auch in jener Kantischen Antwort vom “Vermögen” lag Opium, mindestens vis soporifica: wie viele deutsche “Philosophen” sind darüber eingeschlafen!

30 [11]

Wissen und Gewissen.

Von

Friedrich Nietzsche.

30 [12]

Meine Freunde, ihr versteht euren Vortheil nicht: es ist nur Dummheit, wenn höhere Menschen an dieser Zeit leiden: sie haben es nie besser gehabt.

30 [13]

Geburt der Tragödie.

Im Anfang des Jahres 1872 erschien in Deutschland ein Buch, das den befremdlichen Titel führte: “die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik” und nicht bloß durch seinen Titel reichlich Anstoß zu Verwunderung und Neugierde gab. Man erfuhr, daß sein Urheber ein junger Philologe sei, insgleichen daß gegen ihn von Seiten philologischer Handwerker, und vielleicht sogar auf Anregung irgend eines philologischen Schulhauptes und Kuhhirten — — —

— ein unabhängiges selbstgenugsames Buch, dem die Zeichen einer mystischen Seele aufgeschrieben waren, ohne Absicht auf — — —

— voll Jugend und Ungeschick, schwül, übervoll, aussi trop allemand — in dem sich fast entgegengesetzte Begabungen drängten und stießen, auch

— mit einer Geistigkeit, welche auf die Sinne wirkt

— man gesteht sich mit einigem Schauder ein (vorausgesetzt daß man an der Haut empfindlich ist –) daß hier jemand von der unheimlichen Welt der dionysischen Dinge wie aus Erfahrung redet, wie nach großer Nähe und Berührung zurückgekehrt aus dem fremdesten aller Länder, nicht alles sagend, nicht alles verschweigend, unter die Kutte und Kaputze des Gelehrten versteckt und nicht genug versteckt.

und Richard Wagner errieth aus der Tiefe jenes wahrsagerischen Instinktes heraus, der so sehr in Widerspruche zu seiner mangelhaften und zufälligen Bildung stand, daß er jenem verhängnißvollen Menschen begegnet sei, der das Schicksal der deutschen und nicht nur der deutschen Cultur in den Händen habe.


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