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Via mala

Es war eine mangelhafte, eine jämmerliche Entscheidung; aber es war eine Entscheidung. Hoff hatte nicht viel Zeit mehr, oder richtiger: er wies sich eine bemessene Zeit zu, um zu Hause noch das Wichtigste zu erledigen, einige Briefe zu vernichten, kurz: aufzuräumen. Er war ein ordentlicher Mensch. Außerdem wollte er ja noch Frau Hansmann beruhigen, wie er es nannte.

Er ging wohl den kürzesten Weg nach Hause. Gewiß war es nicht; denn der erste Wegteil zumal stand noch unter der Herrschaft seines Fiebers – oder was es war. Er konnte sich später keine Auskunft geben, wie er aus dem Haus Nr. 55 herauskam, welche Straßen er wählte, welche Gedanken er hatte. Er war seiner überhaupt nicht mehr sehr sicher. Nach der Hälfte des Weges, als er nicht mehr einen brennenden und schwitzenden Körper hatte und der Kopf leichter wurde, fehlte ihm zum Beispiel die Kontrolle des Gedächtnisses über diese und jene Stelle seines Gespräches mit der Frau des Ministers. Er wußte vor allem nicht mehr mit Sicherheit, ob er das Geständnis zum Schluß ausgesprochen oder nur gedacht hatte. Er wußte nur, daß er mit Ach und Weh das Ziel erreicht und daß sie doch schließlich nichts Besseres zu sagen gewußt hatte als das Verschen vom reuigen Sünder und den einfachsten Weg für ihn. Daß er bei dem Aufgebot an Widerständen und bei seiner geistigen und körperlichen Verfassung nicht mehr viel Zeit zu vertun hatte, spürte er.

Nicht mehr Kämpfe der Gedanken und Gesichte, nicht mehr reden, nicht mehr reden, kein Für und Wider mehr – und vor allem: keine neue Nacht mehr in der Unsicherheit! Keine neue Nacht mehr! –

Es war inzwischen schon Nachmittag.

Hoff hatte Hunger. Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn er der Frau mit vollem Magen gegenübergetreten wäre. Das körperliche Versagen kam zu einem guten Teil von der Unterernährung. Wenn er sich halten wollte, mußte er essen.

Er kaufte sich Brot und Schokolade. Er hatte so großen Hunger, daß er die Schokolade noch unterwegs verzehrte, im Gehen.

 

Im Haustor stand Paula und sagte: »Endlich!« Er hatte seit dem Auftritt vor Hertzens Gartentür an Devotion verloren. Stände er stumm und ergeben, so hätte ihn Hoff angebrüllt. Jetzt sagte er nur sein: »Ich habe keine Zeit!« und lief an dem Kleinen vorbei ins Haus. Er nahm zwei Stufen auf einmal, um möglichst rasch in Sicherheit zu sein. Er lief eigentlich davon.

Er war im Augenblick nicht sonderlich mutig; denn er wollte auch nicht sofort Frau Hansmann auf dem Hals haben. Nur nicht gleich wieder sprechen müssen! Er schloß seine Tür vorsichtig auf, machte sie recht leise zu und ging auf Zehenspitzen. Er setzte sich auf das Bett und mußte den Mund öffnen: so schnell ging das Herz und der Atem. Er sah sich im Zimmer um. Es war aufgeräumt und traurig, wie ein gesäubertes Totenzimmer nach Abtransport der Leiche. So fand er es wenigstens. Er spürte noch nachträglich an jedem getanen Handgriff die Sorge und das Gefrage der Alten um ihn und ihren trauervollen Schwatz.

Jetzt hörte er sie wirklich. Sie redete in der Küche, natürlich mit dem Kater Joseph. Um zu verstehen, was sie sprach, hätte er aufstehen und an die Tür gehen müssen. Aber er war nicht neugierig; er konnte es sich ja ungefähr denken. »Wo mag nur unser Herr sein, Joseph?« oder so ähnlich, dazu ihre weltanschaulichen und moraltheologischen Betrachtungen. Sie hatte gleichsam ein Abonnement auf den lieben Gott.

Er war sehr abgespannt und ihn fror ein wenig, im Gegensatz zu den letzten Stunden. Es brauchte nicht wieder Fieber zu sein. Das Zimmer war nicht geheizt. Warum also immer die Schlüsse auf die Gesundheit? Wenn das Zimmer kalt ist, friert man. Wenn man nichts im Magen hat, kommen Schwindel. Wenn das Biedermeierzimmer der Ministerfrau überheizt ist, schwitzt man. (Er hatte vergessen, daß es nicht überheizt war.) Hoff war abgeschlagen und hatte Bedarf nach Vereinfachungen, aus Überdruß gegen die vielen Windungen der letzten drei Tage.

Heute war Sonnabend, gestern war Freitag, vorgestern war Donnerstag. Großer Gott, am Mittwoch abend erst war die Führersitzung! Großer Gott, seine Geschichte lief erst drei Nächte und drei Tage!

Wie soll man mit dem Leben zurechtkommen, wenn der kleinste Zeitteil größenwahnsinnig wird! Er wurde dabei ja uralt im Nu! Sein Motor lief so irrsinnig, wie bei dem Schüttler, den er einstmals traf. Wann traf er ihn doch? Vorgestern – in der grauen Vergangenheit von vorgestern.

Da ist ja noch ein Brother, sagte sich Hoff zähneklappernd, noch ein Held: er kam vor lauter Zeitbedrängnis seiner Gesichtermenge nicht nach, trotz Pumpen und Grimassieren und fortwährender Arbeit – wie ich, wie ich, nur daß ich kein scheußlicher Ein-Person-Film bin wie er, sondern die Handlungen dramaturgisch besser verarbeite und verteile. Aber er will doch auch zu einem Resultat kommen und bei einem Gesicht stehenbleiben und seine menschliche Entscheidung haben und von der tobsüchtigen Zeit abgekuppelt werden. Es ist im Grunde bei ihm wie bei mir ...

Daneben hörte er den ununterbrochenen Monolog der Frau Hansmann. Die Alte, um nicht närrisch zu werden, glaubte natürlich, es sei ein Zwiegespräch. – Sieh an, lächelte Hoff, steh an, auch sie! Ich finde immer mehr Brüder und Schwestern. Frau Hansmann spricht mit dem Kater Joseph, wie ich mit David Hertz. Weiß Gott, mit wem alles der hundertgesichtige Schüttler spricht. Wir müssen alle unsere Partner haben ...

 

Jetzt aber hörte er jemand die Haustreppe heraufkommen. Die Lärmstiege krachte dabei so wenig, daß der Aufsteigende einen sehr leichten Körper haben mußte. Es war also entweder ein Kind oder Zwerg Paula.

Es klopfte an Hoffs Tür. Es war natürlich der Kleine. Er war wie eine Wanze. Eine Wanze schlägt man schließlich tot, so ekelhaft der Brei ist, der dann immer noch zurückbleibt. Paula wollte gewiß das Beste; aber nun stand es ja anders. Er, Hoff, war endlich umgekrempelt. Während dieser Arbeit kamen ihm die Begriffe von Gut und Böse und Gutmeinen und Schlechtmeinen gehörig durcheinander: so behandelte er auch seine Umgebung und vor allem den Zwerg höchst unterschiedlich: einmal gut und einmal schlecht. Aber nun stand es anders. Er war Gott sei Dank zu einem eindeutigen Standpunkt gekommen, auch seinen sogenannten Freunden gegenüber. Er war ihr Gegensatz geworden. Die es also am besten zu meinen glaubten, handelten an ihm am schlechtesten. Er lobte sich die Remis-Leute wie Hertz, die Inaktiven: sie ließen ihn wohl jetzt in Ruhe. Die Wanze natürlich nicht.

Hoff saß auf dem Bett und rührte sich nicht. Paula klopfte ein zweites Mal, ein drittes Mal. Er pochte keineswegs schüchtern und zum Schluß mit dreister Faust. – Ob ich nicht die Tür aufreiße und ihn die Treppe hinunterwerfe, überlegte Hoff.

Paula ließ plötzlich von der Tür ab, trat nebenan zur Hansmannschen Wohnungstür und klingelte. Er tat es nicht zaghaft, wie bei seinem ersten Besuch (wann war das? – gestern, wahrhaftig erst gestern!), er klingelte auch nicht auf eine normal energische Art, wie es der Anstand auch dem Eiligen vor fremden Wohnungen gebietet: er läutete sofort Sturm. – Ich muß ihn so verprügeln, daß er von mir genug bekommt und gerne abzieht, sagte sich Hoff.

Frau Hansmann eilte entrüstet und kampfbereit den Gang entlang. »Ja, was ist denn das für eine Unverschämtheit!« rief sie mit ihrem zarten Sümmchen, das vor Zorn in spitzigen Diskant kam. Sie öffnete.

»Da sind Sie ja schon wieder, Sie ... Sie ... – Und was fällt Ihnen ein, so zu läuten, Sie ... Der Herr ist doch nicht da, sage ich Ihnen!«

»Natürlich ist er da«, sagte Paula mit Bestimmtheit.

»Er ist nicht da, Sie ...«

»Er ist vor ein paar Minuten gekommen. Sehen Sie doch nach!«

Hoff stand auf, öffnete die Tür zum Treppenhaus und trat hinaus. Paula wartete vor der offenen Tür der Frau Hansmann, die gerade in die Wohnung zurückgegangen war, jedenfalls um in das Zimmer des Mieters vom Korridor aus hineinzusehen. Der Zwerg drehte sich um und erwartete Hoff mit großer Ruhe. »Sie werden mir unbegreiflich, Herr Rittmeister«, sagte er.

Hoff ging zu ihm hin und nahm ihn am Kragen. »Wollen Sie mich in Ruhe lassen oder muß ich Sie die Treppe hinunterwerfen?« drohte er.

In der Wohnung rief Frau Hansmann: »Herr Hoff! Herr Hoff! – Ach du lieber Gott, da sind Sie ja wirklich!«

Sie lief herbei. Hoff mußte den Kleinen loslassen. Paula reagierte überdies nicht auf seine Drohung. Er ordnete den Rockkragen, zog den grauen Halsschal fester und meinte: »Wir dürfen Sie leider nicht in Ruhe lassen, Herr Rittmeister.«

»Wer: wir?« fragte Hoff aufgebracht.

Frau Hansmann erschien in der Tür, mit erhobenen Händen, vor Freude strahlend: »Ja, Herr Hoff! Ja, Herr Hoff! Ich war schon ängstlich! Ja, wie Sie aussehen! Schlecht, sage ich Ihnen! Kaum zu erkennen! Ja, wann sind Sie denn gekommen?«

»Vorhin«, sagte Hoff verlegen und zog sich über den Treppenhausflur in sein Zimmer zurück, »ich hatte sehr viel zu tun. Ich sage es Ihnen nachher schon.«

Paula folgte ihm ohne weiteres und schloß hinter sich die Tür. Man hörte Frau Hansmann auf ihrem Weg durch den Korridor zur Küche dem Kater Joseph die Ankunft und das Aussehen des Vermißten verkünden.

Hoff saß auf dem Bett. Der Kleine stand noch an der Tür. Er sagte: »Der Hertz hat mich zu sich kommen lassen. Er sagte mir, daß man auf Sie aufpassen müsse.«

Hoff gab keine Antwort. – Warum bin ich nach Haus gegangen, tadelte er sich, das ist jetzt die Folge, das war wieder einmal eine Schwäche; denn was geht mich im Grunde die alte Frau Hansmann an; sie hätte es noch früh genug erfahren und wäre auch darüber hinweggekommen. Oder legst du vielleicht auch noch auf ihre Meinung in dieser Frage Wert? Hast du von den Konsultationen immer noch nicht genug?

»Haben Sie eigentlich gehört, was ich eben sagte, Herr Rittmeister?« fragte Paula.

»Natürlich«, sagte Hoff.

»Sind Sie wirklich in der Lage zu hören, zu verstehen und auf die Worte anderer Menschen einzugehen? – Verzeihen Sie die Frage, Herr Hoff.«

»Ich verzeihe Ihnen nicht, Sie Flegel.«

Hoff machte kleine böse Augen. Dieser Zwerg war der unverfrorenste von allen, die bisher an seinem Verstand zweifelten. Er schien durch Hertz, den unsicheren Kantonisten, großzügig unterrichtet. Am besten wäre, man ließ ihn bei seinem Zweifel, schritte recht wahnsinnig auf ihn zu, stopfte ihm den Waschlappen ins Froschmaul, bände ihn an den Bettpfosten und ginge seines Weges.

»Ich wollte Sie nicht beleidigen«, erklärte der Zwerg und wiegte bekümmert den dicken Kopf.

»Aber ich Sie«, fuhr Hoff dazwischen.

»Das tut nichts zur Sache«, meinte Paula; »meine Frage eben, die Sie so aufbringt, hätte natürlich anders lauten sollen. Ich müßte fragen, ob Sie noch das geringste Interesse für andere Menschen haben oder für das, was andere Menschen Ihnen noch zu sagen hätten.«

»Allerdings nicht«, sagte Hoff.

»Sehen Sie«, bedauerte Paula, »da hat Hertz schon recht.«

»Womit?« fragte Hoff.

»Mit seiner Befürchtung, daß Sie sich immer mehr isolieren und in Ihrer Verzweiflung dann natürlich Dummheiten machen.«

»Was für Dummheiten?«

»Schlappmachen.«

»Deutlicher!«

»Sich stellen.«

Hoff schwieg eine Weile und dachte nach. Wie übel muß David dran sein, daß er sich diesen Verbündeten holt! Er hat noch immer nicht auf mich verzichtet. Er fingert immer noch nach meinen Rockschößen. Wie kann er mir so unmännlich nachlaufen? Er holt mich doch nicht mehr. Er könnte sich vor mir eine Kugel durch den Kopf schießen: und ich könnte nicht mehr stehenbleiben. Aber er tut es nicht; er vegetiert in den Parzellen Feigheit, die ich einmal hatte. Die Allianz mit Paula ist doch verächtlich ...

Er sprach langsam und verschränkte die Arme wie in Gleichmut: »Schlappmachen und Dummheiten? Sagen Sie einmal, Paula, sind das seine oder Ihre Ausdrücke?«

Der Zwerg sah ihn unsicher an und sein feiner Mund wurde vor Kummer noch schmaler. Herr Hoff, Rittmeister und Professeur, sein Held schien wahrhaftig ein Irrer. Nach solchem Hin und Her der Worte und solchem Schweigen diese ganz abseitige und unsinnige Frage? Dann auch nannte er ihn zum erstenmal mit dem kränkenden Spitznamen, den die rohen Chauffeure für ihn gesunden hatten. Herr Hoff hatte noch niemals Paula zu ihm gesagt. Der Kleine wußte es genau, weil er darauf achtete. Der gesunde Herr Hoff war viel zu taktvoll, um nicht eine geschmacklose Anrede zu umgehen. Der Kleine hieß doch nicht Paula, sondern François Schopp und stammte aus dem Elsaß.

»Aber die Ausdrücke sind jetzt doch wirklich nicht so wichtig, Herr Hoff«, wandte er leise ein.

»Sie sind sehr wichtig«, behauptete Hoff; »hat Hertz die Selbststellung tatsächlich eine Dummheit genannt?«

»Ich kann es Ihnen nicht beschwören«, räumte Paula ein, »ich heiße übrigens François Schopp.«

Hoff ging ohne weiteres über die Vorstellung hinweg. »Bitte überlegen Sie, wie er sich ausgedrückt hat«, verlangte er hartnäckig.

Paula fügte sich. »Er sprach wohl nicht gerade von Dummheiten. Er sagte etwa, er befürchte, daß Sie die Nerven verlieren ...«

»... den Verstand verlieren«, verbesserte Hoff. Paula schwieg verdrossen.

Hoff stand auf. Er fühlte, er war in Fahrt. Mein Gott, wo gab es denn Schwierigkeiten für einen Willen, der sich so aus allen Himmelsrichtungen Zufluß und Nahrung geholt hatte und langsam, langsam kräftig wurde wie der seine? Das Männchen dort? Paßt einmal auf, was ich mit dem Männchen mache.

»Passen Sie mal auf«, sagte er auch zu Paula, ging auf ihn zu, nahm ihn bei den Ellbogen und stemmte das Körperchen mühelos in die Höhe. Paulas Kopf war jetzt recht nahe der Zimmerdecke, die nicht eben hoch lag. Der Kleine machte als alter Artist den Körper steif, drückte die Arme an die Seiten und schloß nach Möglichkeit die krummen Beinchen, die Fußspitzen nach abwärts drückend. Er hielt es nämlich nicht für ausgeschlossen, daß ihn der nicht mehr berechenbare Herr Hoff kurzerhand zu Boden fallen ließ, und die Höhe war für ihn beträchtlich. Zum Glück hatte er als Clown zu fallen gelernt, eine anspruchsvolle Kunst, die Geistesgegenwart und die Ausbildung besonderer Muskeln verlangte. Seine Spezialität war das Fallen in die Sitzlage gewesen, wozu er durch seine Kurzbeinigkeit begabt war. Er konnte in seiner Glanzzeit im Marschtempo und schneller auch vom Stand in den Sitz und vom Sitz in den Stand springen, mit gestreckten Beinen, und sich dabei noch fortbewegen. Er konnte auch von ziemlicher Höhe, von drei aufeinandergestellten Stühlen nämlich, in den Sitz fallen. Heute waren natürlich die Glieder steifer, es fehlte die Übung und selbstverständlich auch die wattierte Kleidung. Immerhin war er auf den Sturz gefaßt und spannte die Muskeln des Gesäßes und der Oberschenkel. Er trug dabei ein aufmerksames, ruhiges und entschlossenes Gesicht.

Hoff hielt ihn in die Höhe. Die Anstrengung war für ihn eine Befreiung und eine Lust. Er hätte mit dem Zwerg hanteln mögen. Paulas stummer Mut machte ihm Freude. Hätte der Kleine gezetert oder mit den Beinen um sich geschlagen, so würde er ihn auf den Kopf gestellt und geschüttelt haben, daß ihm Hören, Sehen und Schreien verginge. »Also Sie wollen mich überwachen, Kerlchen?« fragte er ganz freundlich hinauf. Paula sagte nichts und schielte auf ihn herunter. Er wollte den wilden Mann durch keinen Trotz reizen. Hoff ging mit ihm langsam zum Fenster. Paula zog die Knie an. Er hatte also doch Knie. »Sie brauchen ja nicht hinunter zu sehen«, sagte Hoff, »Sie können so und so nichts machen, wenn ich Sie Häufchen Unglück durch das Fenster werfe. Ich taxiere die Höhe auf zwanzig Meter. Unten ist ein scheußlicher Hof mit Mülleimern.«

Paula bekam blinzelnde Augen und krallte die Finger in das lappige Revers feines Jäckchens, als wollte er sich an sich selber festhalten. Sonst benahm er sich bewundernswert. Hoff sah zu ihm hinauf, als erwartete er eine Äußerung. Paula sagte auch schließlich etwas unfrei: »Es ist Ihnen schon zuzutrauen.«

»Das genügt mir fürs erste«, meinte Hoff und ließ ihn sachte zu Boden, hielt ihn aber noch bei den Schultern. »Sie merken sich also, daß es mit der Überwachung eine böse Sache wird. Haben Sie mit diesem Hinweis genug?«

Paula hatte wieder glasierte Augen. Ihn kränkte nicht die Behandlung, die ihm widerfuhr; es war auch nicht die Drohung, welche ernst genug genommen werden mußte: es war der Kummer um den geliebten Menschen und zum erstenmal auch über die eigene Hilflosigkeit. Ach Gott, er hatte doch allerlei für Herrn Hoff getan – und Herr Hoff konnte ja nicht wissen ... ach Gott, Herr Hoff durfte ja nicht wissen, was er gerade heute für ihn getan hatte. Aber im Grunde genommen blieb es ja doch bei der furchtbaren und nicht zu verringernden Distanz wie zu jenem schönen italienischen Todesfahrer und ersten Helden – Gott ja, wie schließlich zu allen mit richtigem Gliedermaß, also zu den meisten Menschen. Aber die anderen Menschen liebte er ja nicht, sondern haßte er gar. Und an das ewige Hinaufsehenmüssen hatte er sich gewöhnt: das gab keinen tragischen Kontrapunkt mehr.

Paula hob abwechselnd die Schultern, weil ihm Hoffs Hände auf den Achseln weher taten als vorhin unter den Ellbogen. »Lieber Herr Hoff«, bat er zärtlich, vielleicht um abzulenken, »rufen Sie um Gottes willen den Hertz an. Er bittet Sie ganz dringend. Er wartet sicher schon lange drauf. Er sitzt schwer im Druck, scheint es. Er ist vielleicht auch in einer gewissen Zeitbedrängnis. Er bekümmert sich sehr um Sie. Ich glaube, ich habe ihm arg Unrecht getan. Sie tun es jetzt vielleicht auch. Er ist gar kein Brother – Sie wissen schon, was ich damit meine. Er ist sehr anständig.«

Hoff nahm nicht die schweren Hände fort. Es war kaum noch zum Aushalten. Er hatte auch jetzt wieder das taube und verbohrte Gesicht. Er hatte gewiß nicht zugehört oder die Worte einfach nicht angenommen. Ihn interessierte nichts mehr, nicht einmal mehr der einst gepriesene und von Anfang an vorgezogene Hertz, den er doch selber, schien es, ziemlich übel zugerichtet hatte – den er also nicht besser behandelte als ihn, François Schopp. Dies war wohl eine gewisse Genugtuung; aber sie kam zu spät. – Paulas roter Kopf wurde noch röter.

»Also Sie haben noch nicht genug«, redete Hoff unbarmherzig auf ihn herunter. »Sie haben zwar Angst; aber Sie wollen noch nicht verschwinden ich meine diesmal nicht durch das Fenster – denn das hängt ja nicht von Ihnen, sondern von mir ab –, sondern noch durch die Tür. – Oder wollen Sie lieber doch gehen?«

Hoff nahm den Kleinen zwischen seine Hände und trug ihn mit ausgestreckten Armen in die Nähe der Tür, wie eine Puppe. Hoff spürte eine merkwürdige Spielwut der Muskeln. Er hätte mit dem fremden Körperchen umgehen mögen wie gewisse japanische Parterre-Akrobaten mit den Jungen ihrer Truppe, die sie in die Luft wirbelten, auffingen, drehten, prellten und schwangen wie Turnkeulen.

»Herr Hoff«, sagte Paula gequält, »Sie vergessen sogar, daß ich ein Mensch bin.«

»Sie sind eine böse Gotteslaune«, zitierte Hoff aus einer halben Erinnerung, »wollen Sie also gehen?«

»Nein«, sagte Paula, »ich mache mir nichts aus schlechten Launen.«

Hoff ließ ihn los, blieb aber bei ihm stehen. »Dann passen Sie bitte noch ein zweites Mal auf«, begann er, und seine Lippen zuckten wie bei einem Kartenspieler mit dem Trumpf in der Hand. »Jetzt werden Sie von selber in die Luft gehen. Jetzt brauche ich Sie nicht mehr hochzuheben. Tu l'as voulu, Georges Dandin

Er weiß sicherlich nicht mehr, wie abstoßend er geworden ist, entschuldigte ihn sich Paula.

Hoff steckte die Hände in die Hosentaschen. »Kurz und gut, mon vieux, die besagte Dummheit habe ich schon getan.«

Er erwartete, auf den Fußspitzen wippend, Paulas Explosion. Doch der Kleine rührte sich nicht und sah zu Boden.

Hoff fuhr fort: »Also Sie glauben es mir nicht. Gut, ich versuche Sie zu überzeugen. Ich versichere Ihnen, daß ich weiß, was ich rede. Ich lüge Sie auch nicht an; denn das habe ich nicht nötig. Sehen Sie mich bitte an.«

Paula sah ihn nicht an. Hoff, in seiner körperlichen Anmaßung, nahm den Kleinen am Kinn und drehte das Gesicht sich zu.

»Aufpassen!« sagte er, wie zu einem unfolgsamen Schuljungen. »Ich komme geradewegs von der Frau des Ministers, Peterswalderstraße 55, zweiter Stock. Ich habe ihr gesagt, wer ich bin und was ich getan habe. Es bleibt sich also gleich, ob ich mich stelle oder ob mich die Polizei stellt. Sehen Sie das ein?«

Paula drückte die Augen zu und sagte nichts; aber seine Kinnbacken zitterten, wie der andere an der Hand spürte. Dieses kleine Beben machte auf Hoff Eindruck. Es sitzt, sagte er sich, und er tut mir schon wieder leid.

Hoff wandte sich ab und trat ans Fenster. Paula hinter ihm rührte sich nicht. Ich will zum Schluß noch freundlich zu ihm sein, überlegte Hoff. Er drehte sich nicht um, weil ihn der Anblick des Zwerges leicht zur Gewalttätigkeit oder doch zur Unfreundlichkeit reizte – das war schon immer so, schon am ersten Tag, an dem ihm Leutnant Huber die Funktion des Kobolds erklärte. Er sagte zum Fenster hin: »Sehen Sie, Herr Schopf – so ist doch Ihr Name, nicht wahr? ...«

»Schopp«, berichtigte Paula leise. Hoff machte eine Pause. Paulas Korrektur zeugte nicht gerade von großer Erschütterung. Überlegte der Zwerg vielleicht nur, ob das Gehörte glaubhaft war? –

Wenn ich mich umdrehe, dachte Hoff, gehe ich wieder auf ihn los. Ich bin gar nicht so weit von der Gewalttat entfernt, die er mir zutraut. Ich werde ungeduldig und habe mich heute schlecht in der Hand. Er stiehlt meine Zeit.

Hoff zwang sich zu sagen, was er sagen wollte: »Herr Schopp, ich bin nicht der Held, von dem Sie gerne faseln. Ich habe mich immer darüber geärgert und wußte schon, warum. Ich bin kein Held, sondern ich bin ein Mensch, der mit dem, was er verbrochen hat, nicht fertig werden kann. Es gibt für mich also keinen anderen Ausweg. Wenn Sie wirklich an mir hängen, werden Sie es respektieren.«

Paula hinter ihm weinte. Herr Hoff hatte diesmal klar und vernünftig gesprochen. Man konnte ihm im Augenblick nicht einmal das Requisit der geistigen Störung belasten. Paula weinte lautlos; es war eigentlich nur ein Überquellen der Augen. Hoff merkte es nicht.

»Also adieu«, sagte er.

»Aber die Partei ...«, würgte der Zwerg.

Hoff fuhr herum. Hörte es nicht auf? »Gehören Sie zur Partei?« fragte er scharf.

»Nein«, sagte Paula.

»Wozu gehören Sie überhaupt?« rief Hoff, »ich hielt Sie für einen Spitzel.«

»Das war ich auch schon«, gestand der Kleine, »aber man beschäftigte mich nicht lange, wegen meiner auffälligen Statur. – Und jetzt gehöre ich nur zu Ihnen.«

»Sie Narr«, schrie Hoff, »suchen Sie sich doch einen anderen Helden! Da gibt es zum Beispiel den Boxer Jack Jonson, allerdings ein Neger ...«

Paula schluckte Tränen. »Das sind bei Ihnen nur die Nerven, Herr Hoff. Sie sind nicht mehr recht beieinander. Vielleicht wissen Sie doch nicht ganz genau, was Sie tun - und die Folgen, Herr Hoff ...« Paula redete schneller, weil er merkte, daß er nicht mehr lange werde sprechen können. »Die Folgen – Sie sind keine Privatperson – ein Mann wie Sie darf nicht auf den ersten Anhieb kapitulieren. Können Sie nicht noch zwei Tage wenigstens ...« Er stockte. Hoff kam auf ihn zu, gefährlich. Paula zog einen Brief aus der Brusttasche. »Hier ist außerdem noch etwas von Madame Ly.«

»Behalten«, schrie Hoff. »Ich will nicht mehr!«

»Rufen Sie um Gottes willen Herrn Hertz an!« flüsterte Paula, »er ließ sich von mir Ihre Adresse geben. Ich kann nicht beschwören ...«

Hoff hatte ihn schon am Genick, besann sich eine Sekunde – jetzt überlegt er wahrhaftig, ob Fenster oder Tür, dachte Paula und ging in die Knie. Hoff riß die Tür zum Treppenhaus auf, schaute hinaus und setzte den Kleinen auf der ersten Stufe ab. Paula brachte wortlos seinen Jackenkragen in Ordnung und stieg langsam die Treppe hinunter, ohne sich umzudrehen. Hoff beugte sich oben über das Geländer; er konnte den Treppenschacht hinunter bis zum Erdgeschoß sehen; er verfolgte den Abstieg des Zwerges bis zur untersten Stufe.

 

Hoff ging ins Zimmer zurück. Auf dem Boden lag Lys Brief, von Paula verloren, oder, was wahrscheinlicher war, mit Absicht fallen gelassen.

Hoff hob ihn auf und öffnete ihn. Er enthielt zwei Hundertdollarnoten, sonst nichts. Das gute Mädchen wollte jedenfalls damit seine Flucht finanzieren und hütete sich andererseits für alle Fälle, sich durch einen Begleitbrief in die Affäre hineinzubringen. Auch der Briefumschlag war unbeschrieben. Es war ungefähr so, wie gestern abend der schöne Händedruck und dann das vorsichtige Schlüsselumdrehen.

Gestern abend erst? Die Zeit war maßlos. Er hatte sich zu beeilen. Die Zeit zwar war nicht zu fassen: sie trieb um ihn wie ein wildgeschwungenes Lasso mit immer größerem Radius. Aber die Brothers und ihre Zudringlichkeit waren zu fürchten. Paula hatte noch keinen Verzicht ausgesprochen, wie es auch sei, und Hertz wartete vielleicht nicht mehr lange am Telefon, sondern kam her. Was wollte er anders als betteln und bremsen.

Hoff öffnete die Tischlade und nahm die wenigen Briefe an sich, die er noch vorfand: Briefe von Freunden, früheren Regimentskameraden, Agenten und ein paar Frauen. Es waren harmlose Dokumente; aber er wollte keinen Namen in den Filter der Behörde kommen lassen. Die meisten Briefschaften hatte er schon im Laufe der letzten Wochen vernichtet. Mit der Liga zumal und mit ihren Mitgliedern war jeder schriftliche Verkehr verboten. So konnte er ihnen auch keine Begründung seines Schrittes schreiben, hätte es ihn dazu gedrängt. Es wäre eine Gefährdung der Organisation gewesen. Aber er dachte nicht einmal daran, sondern an die Schweizer Franken, die er los werden wollte. Soll ich sie zwischen Ly, Frau Hansmann, Herrgott und Paula teilen? fragte er sich. Er schüttelte den Kopf: er dürfte es nicht, es wäre Unterschlagung – und er würde allein schon durch seinen Schritt Panik genug über die Liga bringen. Denn wer sich stellt, ist auch zum Verrat fähig. So werden die Kameraden denken. Aber das wird ein Fehlschluß sein.

Ich überlege doch vernünftig, kam es ihm in den Sinn. Keiner von den Zweiflern könnte im Augenblick an meinem Kopf etwas aussetzen. Ich denke ganz klar. Ich leiste mir noch nicht einmal das menschenfreundliche Vergnügen, mit Hilfe einer kleinen Geistesstörung das fremde Geld an die Vier zu verteilen, die es nötig haben.

Er zählte das eigene Vermögen durch. Da er sparsam lebte, nicht schlecht verdiente und durch die Wechselleidenschaft der Kellner sich stets fremde Devisen verschaffen konnte, war es nicht einmal wenig: außer einem Haufen Papiermark brachte er fünfzig Dollar, zweihundert Schweizer Franken und zweihundert holländische Gulden zusammen. Er konnte also zunächst mit Leichtigkeit die zweitausend Franken der Liga, von denen er hundert Franken dem Mechaniker Bremser gespendet hatte, wieder in Ordnung bringen.

Dann verteilte er die Legate. Für Frau Hansmann, zugleich als Mietsentschädigung: das gesamte Papiergeld und hundert Franken. Für Ly fünfzig Dollar als Zins für die gute Tat, und außerdem natürlich die gesandten zweihundert Dollar. Für Paula und Herrgott je hundert Gulden. – Dieser Herrgott, dachte Hoff, könnte doch auch ein Brother sein; aber er ist es nicht. – Hoff überlegte ein wenig, nahm dann die hundert Franken, mit denen er das Ligageld vervollständigt hatte, und legte sie zum Legat Herrgott. Er lächelte jetzt sogar; denn er dachte an den Hunger, den der Schlagzeugmann jeden Abend in die Bar mitbrachte. Zweihundert Gulden und hundert Franken waren zu dieser Zeit ein Vermögen, mit dem ein Mann wie Herrgott ein halbes Jahr leben konnte. – Welch ein Prachtzeus! freute sich Hoff. Wie er donnern konnte! – Und der Liga-Rechnungsführer sollte die fehlenden hundert Franken ruhig auf Spesenkonto rechnen. So viel dürfte er, Hoff, ihnen doch kosten. – Ach Gott, der Leutnant Huber! fiel ihm ein, armer Teufel mit Generalshosen und abgerissenem Lodenmantel, braver Hartschier. Wie war es zu machen? Wem konnte abgezogen werden? Dem Zwerg Paula? – Keinesfalls; die Differenzen mit ihm haben nichts mit seinem Elend zu tun. Eher schon der Ly, die gut verdient; aber wie lange? Es ist ein unsicheres Brot, es kann durch einen venerischen Kavalier vergiftet werden. – Wem sonst? – Schließlich nahm Hoff noch zwei Zwanzigfrankenscheine vom Ligageld und schuf damit das Legat Huber.

Er musterte nochmal die sechs Abteilungen Banknoten und tat auf jede einen leeren Briefumschlag.

Dann ging er in die Küche. Die Alte hob wiederum vor Freude und Genugtuung die Hände und schilderte in längerer Rede ihre Sorge um sein vierundzwanzigstündiges Ausbleiben, ihre Angst, die schon gestern abend kräftig einsetzte, als sie, mit Kamillentee kommend, das leere Bett und seine Flucht entdeckte. Hoff ließ sie sprechen und trat an den Herd. Es brannte ein gutes Feuer. Hoff schob den Suppenkessel fort und sah sich nach einem Schürhaken um; denn er wollte ein paar Herdringe von der Feueröffnung entfernen. Frau Hansmann fragte ihn nicht nach dem Grund seines Hantierens, sondern versicherte, daß selbst Joseph unruhig gewesen sei und ihn gesucht habe. »Ich möchte etwas verbrennen«, unterbrach Hoff und zog die Briefe aus der Tasche. Frau Hansmann machte den Feuerkreis frei und schwatzte weiter. Hoff zerriß die Briefe und warf die Fetzen einzeln in die Flammen. Dann nahm er den Paß auf den Namen Furrer aus der Brieftasche und verbrannte ihn ebenfalls. Der Kater Joseph sah ihm von einem Tellerregal aus zu und schnurrte. Die Alte machte ihn auf Josephs Zufriedenheit aufmerksam.

»Haben Sie etwas zu essen, Frau Hansmann«, unterbrach Hoff, »ich habe Hunger. Brot habe ich mitgebracht.«

Die Alte zählte die Speisen auf, die sie teils vom Mittagstisch aufwärmen, teils in Kürze bereiten könnte: Erbsensuppe, die Joseph trotz ihrer Qualität verachte, etwas Rindfleisch und Eierkuchen. – »Vortrefflich«, lobte Hoff und trat vom Herd weg, um der Wirtin Platz zu machen.

Sie arbeitete eifrig und erzählte auch dabei dies und das. Hoff lehnte hinter ihr am Küchenschrank. Er betrachtete ihren Kinderrücken, die abfallenden Schulterchen, den winzigen weißen Haarknoten und hatte sie gern. Ob auch sie mir mit ihrem Evangelium zusetzen wird? fragte er sich.

»Frau Hansmann«, sprach er, »Sie wissen doch von dem Ministermord.«

Und ob sie es wisse, entgegnete sie in voller Tätigkeit. – Was sie von der Tat halte, fragte Hoff.

»Was ich davon halte?« meinte sie und schlug mit einem Holzlöffel unabweisbar auf die Herdplatte. »Es heißt, du sollst nicht töten. Es gibt läßliche Sünden, Todsünden, himmelschreiende Sünden und Sünden wider den Heiligen Geist. Mord gehört zu den himmelschreienden Sünden. Da gibt es kein Hin und Her.«

»Es war ein sogenannter politischer Mord, Frau Hansmann.«

»Der liebe Gott macht da keine Unterschiede, glaube ich.«

»Aber der Mörder macht sie vielleicht.«

»Aber der arme Präsident hat gar nichts davon.«

»Was sollte der Mörder nach Ihrer Meinung machen?« fragte Hoff und war ganz ruhig.

»Sich stellen«, antwortete sie sofort und gab auch einen Kommentar. »Wenn er kein gemeiner Mörder sein will, muß er sich stellen. Raubmörder dürfen weglaufen und sich suchen lassen.«


»Frau Hansmann«, sagte Hoff, »ich habe es getan.«

Die Alte drehte sich herum; aber sie schob doch vorher noch die Töpfe vom Feuer. Sie war sehr blaß und riß die Augen auf. »Nein ...«, flüsterte sie.

»Ich habe es wahrhaftig getan«, sagte Hoff. »Es war furchtbar, vorher und nachher. Die Tat selber ging am glattesten.«

»Und jetzt müssen Sie sich stellen«, zog sie sogleich den Schluß, tonlos.

»Ja«, sagte er, »und ich habe nur noch wenig Zeit.«

Sie nickte. Er ging ins Zimmer zurück, mit ihr zufrieden. – Sieh nur diese alte Frau, dachte er, wie sie zu mir steht! Sie kennt gar keine andere Lösung und keine Debatte. Sie hätte mich vielleicht schon gestern überzeugen können, aber die Reihenfolge mußte wohl so sein und hat ja auch ihr Gutes.

Es war in der Küche still. Frau Hansmann sprach weder mit sich noch mit Joseph. Dann kam sie mit dem Tablett, das immer gewaltig wirkte, weil sie es trug. Jetzt sah sie noch schmaler und verschrumpfter aus als sonst und weinte leise. Hoff nahm ihr das Tablett ab und stellte es auf das Bett. Er bat sie, sich an den Tisch zu setzen und ein paar Adressen zu schreiben. Sie begreife, daß seine Handschrift den Empfängern Unannehmlichkeiten bereiten könne. Es handle sich nur um Erledigung alter Schulden, wie sie sehe.

Sie nickte schluchzend, sie müsse aber ihre Brille holen, sie könne ohne Brille nicht schreiben, sie schreibe überhaupt nicht sehr schön. Sie holte ihre Brille. Der Kater Joseph folgte ihr, den dicken Schweif freundlich in die Höhe gestreckt. Sie setzte sich, hielt den Kopf schief und schrieb nach dem Diktat Hoffs mit sehr schrägen, dünnen und zitterigen Buchstaben.

Die Sendungen seien morgen vormittag durch einen Dienstmann besorgen zu lassen, ordnete Hoff an; der Dienstmann sei nicht etwa in die Wohnung zu rufen, sondern unauffällig auf der Straße zu beauftragen, am besten durch eine dritte Person, zum Beispiel durch eines der vielen Kinder im Haus.

Dann gab er ihr das für sie bestimmte Geld: Entschädigung für den Mietausfall. Sie stand auf. »Nein«, sagte sie ängstlich, »doch lieber nicht.«

»Ich habe es dem Minister nicht aus der Tasche geholt«, sagte Hoff heftig, »es gehört schon mir, Sie dürfen es ruhig nehmen.«

Sie nahm es still. Er trug das Tablett auf den Tisch und aß. Sie sah ihn an, kopfschüttelnd, schluchzend. Hoff glaubte, sie wundere sich, daß er unter solchen Umständen essen könne. Er gab viel auf ihre gute Meinung und verteidigte sich sofort: »Ich habe nämlich gestern fast gar nichts, heute früh nur eine Tasse Kaffee und vorhin etwas Schokolade genossen, Frau Hansmann. Man muß etwas in den Magen bekommen, sonst macht man schlapp.«

»Natürlich, natürlich«, flüsterte sie; aber vor Mördern habe sie Angst, schon wenn sie von ihnen lese oder ihr Bild sehe. Vor Herrn Hoff habe sie nicht die geringste Angst.

Sie weinte lauter. Er aß hastig und sah auf den Teller.

»Ach, Herr Hoff! Ach, Herr Hoff! Sie sind doch kein Mörder!«

Er zuckte unruhig mit den Augenbrauen.

»Aber wenn Sie es selber sagen, Herr Hoff ...«

Hoff aß hastig. Frau Hansmann schluchzte auf und nickte heftig mit dem Kopf. Sie sagte ihre persönliche Entscheidung: »Für mich nicht! Ach Gott, für mich sind Sie eben keiner! Das kann jeder halten wie er will! Für mich sind Sie nicht anders geworden, Herr Hoff. Für mich sind Sie ein guter Herr. Für den lieben Gott sind Sie natürlich auch der arme Sünder. Aber das sind wir alle, Herr Hoff, und der liebe Gott versöhnt sich auch mit Ihnen, weil Sie nicht davonlaufen – und er täte es noch schneller, wenn Sie den Bart stehengelassen hätten ...«

»Ich lasse ihn mir ja wieder wachsen«, verteidigte sich Hoff und preßte den Handrücken an den Hals, als hätte er Schluckbeschwerden; »aber jetzt kann ich nicht mehr sprechen, Frau Hansmann, und auch nicht mehr sprechen hören ...«

Frau Hansmann nickte und ging gehorsam hinaus, auf Zehenspitzen.

 

Hoff ging dann fort. Frau Hansmann schaute ihm aus der halbgeöffneten Haustür nach, weinend, und hatte Joseph im Arm, damit auch er nachschaue. Doch Hoff wandte sich nicht mehr um.

Er hörte jemanden die Treppe heraufkommen und beugte sich über das Geländer. Doch es war schon dunkel und das Treppenhaus schlecht beleuchtet. Eine Treppe tiefer erkannte er David Hertz. Hoff blieb einen Augenblick stehen; dann ging er weiter. Sie trafen sich zwischen dem zweiten und ersten Stockwerk.

Hoff fühlte wieder die Lust am Gewaltsamen aufsteigen, nicht am Hanteln mit dem Körper wie bei Paula, sondern am ebenbürtigen Ringen mit dem Widerstand und am Sieg um jeden Preis. Es ging schnell mit seinen körperlichen Entschlüssen, fast jähzornig; er machte einen Schritt auf Hertz zu, als wollte er ihn anpacken, und Hertz wich einen Schritt zurück. Beide schwiegen. Beide sahen ruhig und entschlossen aus. Hoff hatte Frau Hansmann als eine Art Rückendeckung, Hertz jedenfalls den Zwerg Paula.

Er hält mich für irrsinnig, sagte sich Hoff, ich habe es eigentlich leicht. Und ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht mehr reden. Es gibt nichts mehr zu reden; denn er ist ja durch Paula von allem unterrichtet. Ich bin ich und er ist er: ich lasse keine Grenzverwischung mehr zu, ich gebe nichts mehr, kein Wort, kein Wort mehr von mir her.

Hoff ging plötzlich weiter. Hertz war einen Augenblick verblüfft; dann folgte er ihm.

Hoff lief die vertrauten Treppen sehr rasch hinunter, Hertz mußte vorsichtiger sein, denn die ausgetretenen Stufen waren ungleichmäßig. Fiele er hin, dachte Hoff, ich bliebe nicht stehen.

Im Haustor stand wahrhaftig Paula. Der eine Türflügel war geschlossen, der Zwerg versperrte die offene Hälfte. Hoff nahm die Hände aus den Manteltaschen und stürmte wie ein Boxer mit vorgestreckten Fäusten auf ihn los. Paula rettete sich rasch hinter die Tür. Hoff hörte Hertz hinter sich rufen: »Aufpassen, wo er hinläuft!«

Hoff war auf der Straße. »Er geht rechts!« rief Paula.

Dieser verfluchte Streik! schimpfte Hoff für sich, ich kriege ja keinen Wagen!

Er ging sehr schnell, aber er lief nicht, um nicht den Passanten aufzufallen. Darauf hatte Hertz gerechnet. Er lief hinter ihm her, holte ihn ein und hielt sich neben ihm. Auch Paula versuchte mitzukommen. Das war schwieriger, weil er mit seinen Beinchen das Tempo nicht halten konnte. Hertz drehte sich um und sah den verzweifelten Nachläufer. »Gehen Sie doch etwas langsamer«, bat er den stummen Hoff, »der Kleine kommt nicht mit.«

Hoff ging nicht langsamer. Hertz hakte sich plötzlich bei ihm unter und mäßigte das Tempo durch das Gewicht des eigenen Körpers. – Er bremst, er hat noch immer den Mut dazu, dachte Hoff, er geht Arm in Arm mit mir und bremst durch das Mittel der Freundschaft. Was für eine tückische Technik mit Hilfe des Symbolischen! Und ihn auf der Straße abschütteln? Zum Teufel, das bleibt dann nicht bei einer stummen Szene. Der Hertz oder der Zwerg bekäme fertig, noch fremde Menschen auf mich zu hetzen!

Paula kam schnaufend näher, blieb aber hinter den beiden. Sie gingen zu dritt den Weg, den Hoff bestimmte. Wehe ihnen, dachte Hoff, wenn sie die Richtung ändern wollen.

Es war neblig. Die Luft war schwer, feucht, mißfarbig. Die Laternen steckten ihr Licht in Nebelsäcke. Sie sahen aus, dachte Hoff, als wollten sie uns nicht sehen und nicht sehen lassen. Man sah von den Leuten auf der Straße den Atem aus Mund und Nase quellen, aber die Gesichter blieben undeutlich. – Der Atem ist etwas Heimliches, dachte Hoff; daß man ihn so sieht, hat etwas Schamloses an sich. Daß mich Hertz unterfaßt und Paula mir nachläuft, ist auch schamlos. Daß mir nichts Heimliches gelassen wird, ist eine überflüssige Unfreundlichkeit, die man mir auf den Armesünderweg mitgibt.

»Hoff«, sagte Hertz und sah ihn an (Hoff fühlte es), »hoffentlich betrügen Sie sich nicht.«

Er ist ein Lügner, dachte Hoff; denn er hofft immer noch, ich betrüge mich und ihn.

»Ihr Kopf betrügt Sie schon«, sagte Hertz; »denn er verspricht Ihnen Erleichterung und glaubt selber nicht daran. Oder er glaubt daran, weil er nicht mehr gesund ist. Das ist auch Betrug.«

Ob er immer noch glaubt, ich antworte ihm? fragte sich Hoff. Sie gingen wieder eine Zeitlang stumm. Hoff ärgerte sich, daß Hertz im gleichen Schritt mit ihm ging. Er versuchte, ihn aus dem Takt zu bringen. Es mißlang.

»Sie sind kleinlich, Hoff«, sagte Hertz, »Sie gönnen mir nicht einmal Ihre Schrittlänge; dabei sind wir mit unseren gleichlangen Beinen für den Gleichschritt wie geschaffen. Bei Paula ist es etwas anderes.«

Er macht sich über mich noch lustig! erboste sich Hoff und ging wieder schneller. Hertz drückte ihn zurück. »Ich halte Sie nur ein wenig auf«, sagte er dabei, »aber Sie brauchen keine Angst zu haben, daß ich Sie vor dem Polizeipräsidium festhalten werde. Sie sehen, ich kenne den Weg so gut wie Sie. – Und das ist großzügig von mir; denn Sie drängen mich mit Ihrer Entscheidung in meine Entscheidung. Ich will mich nur überzeugen, ob Sie es auch wirklich tun.«

Kommt er mit mir mit? fragte sich Hoff, ist er mutig geworden? Oder will er mich nur in die Debatte locken. Aber wir wissen doch genug voneinander. Wir könnten schweigend gehen, wenn wir dasselbe Ziel hätten und einander trauten. Das wäre Freundschaft: er aber redet und schleift noch den Kleinen mit.

»Es ist sehr schwer«, sagte Hertz, »bei Menschen, die die Vernunftsgrenze überschreiten, zu entscheiden, ob sie noch gesund oder schon krank sind. Ich persönlich halte Sie nur für verzweifelt, Hoff, aber noch durchaus für fähig, nach Belieben in die Überlegung zurück oder in die Sinnlosigkeit hinein zu springen. Doch ich bin selber bis an diese Grenze getrieben und kenne die Verzweiflung als Zünglein an der Waage. Die Institution aber, der Sie sich überantworten wollen, hat kaum solche Erfahrung.«

Er kennt ja auch diese Institution, dachte Hoff, er will mich gegen sie aufhetzen.

»Gehen Sie doch langsamer!« bat Hertz erregter, »wir sind bald da und Sie haben eine verruchte Technik gegen mich gewählt. Ich muß alles allein tun, ich muß wieder Ihre eigenen Bedenken und Zweifel aussprechen.«

Das ist nicht wahr! beruhigte sich Hoff, das ist seine furchtbare Anmaßung, die Grenzen zwischen uns zu verwischen! Das kenne ich schon.

»Sie überschätzen die Menschen, zu denen Sie jetzt gehen«, sagte Hertz giftig; »das ist noch nicht das Jüngste Gericht. Die erlösen Sie nicht, helfen Ihnen nicht, nehmen Ihnen nichts ab. Die haben nicht mehr von Gottes Atem als Sie – oder weniger. Die machen Sie nur verstockt und lassen Sie Ihre Reue bereuen – ich garantiere Ihnen.«

O nein, dachte Hoff, David geht nicht mit. Er ist ja giftig vor Angst und Ressentiment.

Hertz wurde immer gereizter: »Wissen Sie, Hoff, was das ist: Einschluß? Das ist der eingeschlossene Mensch. Das ist der Gefangene in der Zelle. Das ist so entsetzliche, so äußerste Feindschaft gegen das Leben, daß jede Vorstellung vom Einschluß, auch die heftigste, mangelhaft und lahm bleibt wie die vom Tod. Aber den Einschluß muß man zu alledem erleben!«

Er soll jetzt bald aufhören, dachte Hoff und zog ihn nach vorwärts.

Hertz umklammerte seinen Arm: »Wissen Sie, was das ist: kübelngehen? Das wissen Sie auch nicht. Das ist sechs Uhr dreißig morgens. Das ist der Kübel mit deiner Notdurft. Du bist so geschändet von diesem Kübel, nachtlang neben dir, daß das Kübelngehen, sechs Uhr dreißig, den Wärter hinter dir, gar nicht mehr so schlimm ist.«

Wenn er nicht aufhört, schlage ich ihn auf den Mund! dachte Hoff.

Er ging schneller und schleifte Hertz mit.

Hertz hielt sich mit beiden Händen an seinem Arm. Er keuchte: »Die Verhöre, die Verhöre, die Verhöre! Kreuzverhöre, Trickverhöre! Es gibt die immer freundlichen Inquisitoren: sie sind die schlimmsten. Sie sagen immer ›Danke‹ und ›Sehr schön‹ und ›Durchaus glaubhaft‹. Und wenn du aufpaßt wie ein Luchs, lassen sie dich nicht schlafen. Sie können sich ja ablösen, und das geht dann die Nacht hindurch und sie bieten dir höflich einen Stuhl an, wenn du dich nicht mehr auf den Beinen halten kannst, und wenn du doch einschläfst, ist es nicht sicher, ob du ihnen nicht im Schlaf antwortest und weiß Gott was ...«

Jetzt versuchte Hoff ihn abzuschütteln. Hertz stolperte, hielt sich aber. Paula rückte wieder auf und fragte ängstlich: »Sie quälen ihn doch nicht, Herr Hertz?«

»Ich höre schon auf!« rief Hertz nach hinten. Er war auch eine Zeitlang ruhig. Doch als die Straße auf den großen Platz mündete und die breite böse Front des Polizeipräsidiums mit vielen hellen Fenstern aus der grauen Luft tauchte, machte er sich wieder schwer und bat verzweifelt: »Langsamer, Hoff, langsamer!«

Hoff ging auch langsamer, nicht aus Gefälligkeit für Hertz, sondern weil das brutale Gebäude schwerer angegangen werden konnte, so als wäre der Widerstand der Luft größer geworden.

Hertz drückte jetzt auch die Schulter gegen Hoffs Schulter und kam seinem Ohr näher. »Ich habe schon die Waffe dabei«, sagte er leise.

Hoff machte keine Bewegung des Staunens oder des Zweifels und dachte auch nicht derlei; aber Hertz fragte sofort: »Sie glauben es mir nicht?« ergriff Hoffs Hand und führte sie in seine Manteltasche.

Hoff fühlte die Konturen eines kleinen Browning. Er riß die Hand zurück, als habe er sie sich verbrannt.

Hertz erklärte erregt, als kämpfe er immer noch gegen skeptische Bemerkungen des anderen: »Sie glauben wohl, das ist Bluff? Um Gottes willen, Hoff, glauben Sie es nicht! Sie bluffen nicht – gut, ich auch nicht. Sie meinen vielleicht, ich gehe dann noch einmal nach Haus? Ich denke nicht daran, mein Lieber. Ich gehe dann in den Stadtpark, setze den Kleinen irgendwo ab, vielleicht fünfhundert Schritte vorher, so daß er es hören kann, und krauche dann in ein Gebüsch. Ich will nämlich, daß er es hört und das weitere veranlaßt. Ich will nicht weiß Gott wie lange liegen und die Menschen erst durch den Gestank heranlocken.«

Das ist entsetzlich! dachte Hoff, das ist entsetzlich! Das ist entsetzlich, wenn er zu solcher Lüge greift, um mich zu halten. Das ist entsetzlich, wenn er die Wahrheit spricht. Jetzt müßte ich zu ihm sprechen. Aber was soll ich sprechen? Ich kann nicht mehr sprechen. Er dreht mir aus dem kleinsten Wort den Strick und zieht mich fort. Aber ich müßte sprechen, aus letztem Anstand. Das Wort sitzt mir im Hals ...

Er schloß vor Angst die Augen und ging ein paar Schritte unsicher. Hertz fühlte sofort seine Schwäche und hielt ihn fester: »Kommen Sie mit, Hoff«, flüsterte er. »Ich schwöre Ihnen, ich mache es Ihnen vor. Dann machen Sie es nach. Und wenn nicht – vielleicht ist der Schreck zu stark –, dann weiß ich es ja nicht mehr.«

Hoff riß die Augen auf, befreite sich mit einem Ruck des Körpers und eilte weiter.

Er prostituiert sogar den Tod, dachte er geschüttelt.

Er war schon auf dem Platz. Er sah schon die Postenkette vor dem Vorgitter des Präsidiums.

Hertz war dicht hinter ihm. »Bleiben Sie noch einen Augenblick stehen!« rief er. »Ich spreche nicht mehr von Ihnen! Ich verdiene diesen Augenblick, Hoff!«

Hoff blieb stehen, von dem Ton angerührt. Hertz kam und atmete heftig. Er wischte sich mit dem Taschentuch das nasse Gesicht. Er drückte das Tuch vor den Mund. Paula stand in einiger Entfernung.

Hertz hatte sich etwas beruhigt. Er flüsterte hastig: »Ich saß mit meiner Frau in dem Boot. Wir zankten uns. Wir beschimpften uns. Sie schrie, sie könne nicht ohne Robert leben. Robert ist mein Bruder. Ich bin jähzornig. Ich sagte: ›Dann spring ins Wasser!‹ Sie schrie, sie sei noch in der letzten Nacht mit ihm zusammen gewesen. Ich sagte: ›Spring ins Wasser!‹ Sie schrie mir gemeine Dinge von ihrem Zusammensein mit ihm ins Gesicht. Ich sagte: ›Spring ins Wasser!‹ und hob das Ruder. Sie sprang auch oder wollte springen, oder sie stand nur aus Angst auf und trat auf das Bootsheck, oder sie tat es, um mich zu erschrecken. Das weiß ich wirklich nicht mehr genau. Ich gab ihr dabei mit dem Ruder den Schlag auf den Kopf. Sie fiel ganz stumm ins Wasser.«

Hertz schwieg und drückte wieder das Tuch an den Mund. Hoff dachte: er hat diesen Augenblick verdient, er steht wirklich da, wo ich stehe; er meint es so ernst wie ich. Man tut sich immer recht und unrecht. – Aber, wenn ich jetzt mit ihm spreche, widerruft er vielleicht, wie schon einmal.

Hoff gab ihm die Hand und ging.

Paula kam wacklig herangelaufen und rief: »Adieu, Herr Hoff!«

Hoff blieb stehen. Der Zwerg streckte ihm das haarige Händchen hin. Hoff konnte es nicht gut übersehen. Er gab ihm die Hand; aber er wischte sie sich unauffällig am Mantel ab, als er sich zum Gehen wandte.

Paula rief ihm nach: »Ich stehe zu Ihnen, Herr Rittmeister!«

Das war eine fatale Schlußbemerkung, wie er sie auch früher anzuwenden beliebte. Hoff ärgerte sich. – Ich hätte ihm nicht die Hand geben sollen, dachte er und wischte sie nochmals ab.

 

Die Postenkette vor dem Außengitter war nur eine Sicherheitsmaßregel gegen Angriffe auf das Polizeipräsidium; aber sie kontrollierte nicht die Eintretenden. Warum nehmen sie keine Notiz von mir, dachte Hoff, als er an ihnen vorbei durch die seitliche Tür ging, die für den Passantenverkehr im Vorgitter offen war.

Rechts vom Eingang war die Loge mit dem Auskunftsbeamten. Hoff sah von ihm, der kurzsichtig über einer Schreibarbeit saß, nur die Glatze. Er erkundigte sich nach der Stelle, die in der Attentatsache die Nachforschungen führte. Der Beamte nannte Stockwerk, Zimmernummer und den Namen eines Polizeirates. Er gab die Auskunft, ohne den Kopf zu heben und seine Arbeit zu unterbrechen.

Er sieht mich nicht einmal an, dachte Hoff und ging die breite Steintreppe hinauf.

Hertz und Paula standen vor dem Außengitter und sahen Hoff im Hauptportal verschwinden. Sie warteten noch eine Viertelstunde.

Dann gingen sie.


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