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Tatort

Die Aktion war wohl an eine bestimmte Stunde, nicht aber an einen bestimmten Tag gebunden. Hoff hatte sich mit Erfolg gegen ein starres Zeitkommando gewehrt, das bei der kleinsten Willkür der schließlich nicht mathematischen Voraussetzungen alles verderben konnte. Er war es auch, der die Tat von der unbedingten Gefolgschaft der Gegenrevolution loslöste und durchsetzte, daß nach dem Gelingen erst die erfahrungsgemäß reaktiv einsetzende Springflut des Radikalismus bis zu ihrem Abebben abgewartet werden müsse, ehe das in einer nahen Agrarprovinz konzentrierte Freikorps Hartmann mit einiger Aussicht auf Erfolg eingreifen könne. Hoff, der vollkommene Handlungsfreiheit verlangte und deshalb jede Tathilfe ablehnte, hatte als Spielraum eine Woche genannt, vom Beschlußtag an gerechnet. Auf Bitten der Leitung, die auf die Nerven des reizbaren Freikorpsführer Rücksicht nehmen mußte, versprach er, die Zeitspanne nach Möglichkeit abzukürzen.

Es gibt eine Zeit winterlicher Tagesfrühe, um fünf Uhr herum, die fast immer stärker ist als der stärkste Widerstand gegen den Schlaf, und den Menschen überwältigt. In jener Nacht mochte Hoff um diese Stunde eingeschlafen sein. Er wachte auf, als es noch dämmerig war und das magere Gespenst seiner Wirtin eine Last hart vor seinem Bett absetzte. Er war zur Frage zu müde. Außerdem belastete ihn die schwere Nacht mit einer unbestimmten Angst vor den Folgen des Erwachens. Er kroch wieder in den Schlaf zurück. Der neue Gegenstand aber drückte ihm auf die Brust, trotzdem er, Hoff, auch im Schlaf noch gut wußte, daß das Ding auf den Boden gestellt war. Als er vom Lärmklöppel des immer lauten Hauses wieder aufgestört wurde, sah er den lichtscharfen Morgen genau auf den Fremdkörper zielen, von dessen Eindringen er jetzt eine mehr akustische als optische Vorstellung besaß. Es war ein mittelgroßer, schäbiger Handkoffer. Hoff, den Kopf auf dem Kissen, stierte ihn böse und blöde an, bis ihm die Augen wieder zufielen. Auch in diesem Schlaffetzen herrschte der Koffer; aber er war aus Glas und ließ seinen Inhalt sehen.

Es war ein Frack, genauer: der Frack aus dem bolschewistischen Holzschnitt. Es war kein zusammengelegtes Kleidungsstück, sondern ein prall ausgefüllter Frack, als säße ein Körper oder mindestens doch eine Schneiderpuppe darunter. Da der Kopf fehlte, wirkte er grauenhaft und zugleich auch widerlich tendenziös. Hoff stöhnte und wehrte sich. Er wachte auf, ärgerte sich über die Quälerei, sprang aus dem Bett und hatte sofort den Zusammenhang mit seinem Tag wiedergewonnen. Er wußte natürlich, von wem der Koffer gesandt war und was er enthielt; denn es war in der Führersitzung besprochen worden.

Den Schlüssel, den man begreiflicherweise nicht dem Dienstmann, der das Gepäckstück brachte, anvertrauen wollte, mußte die Frühpost bringen. Hoff hatte jede Übermittlung durch Kameraden verboten. Die Witwe brachte den bewußten Brief mit dem Morgenkaffee. Zugleich erzählte sie mit ihrem versagenden Stimmchen von dem Dienstmann, dem Koffer, dem Wetter und ihrem kastrierten Kater Joseph. Die Witwe, eine ganz vertrocknete und verschüchterte Frau von fünfzig Jahren, sah aus wie siebzig und schien sich in jeder Sekunde aufs neue zu wundern, daß sie noch lebe. Aber sie sprach niemals laut und hantierte niemals heftig, um dieses dünne Leben nicht zu erschrecken oder zu zerbrechen. Sie war vollkommen unterernährt, hatte einen Pneumothorax hinter sich und blieb dabei gutmütig und dankbar – Hoff wußte nicht wofür.

Der Umschlag sah gewichtig aus, enthielt aber nichts als leeres Papier und den flachen Schlüssel. Hoff schloß die Tür ab, hängte einen Rock über die Klinke – trotzdem die Wirtin nicht neugierig war – und öffnete den Koffer. Er enthielt eine Maschinenpistole, Modell Mauser, mit aufsteckbarem Anschlagkolben, auch als Karabiner verwendbar (warum nicht gleich ein Maschinengewehr, dachte Hoff giftig), eine unsinnige Menge Munition, einen Garagenschlüssel, einen Zündungsschlüssel, einen schweizerischen Paß und ein Kuvert mit zweitausend Schweizerfranken. Hoff schloß den Koffer wieder zu und schob ihn unter das Bett.

Um die bestimmte Stunde ging er fort. Er tat es nun schon seit Wochen, mit immer dem gleichen Ziel: und seiner militärisch geschulten Umsicht war ja auch der metergenaue Operationsplan zu danken. Aber bis gestern war es Vorarbeit, ab heute war es Aktion: der Unterschied zeigte sich mit Heftigkeit. Die gewohnten Dinge gaben sich dem Auge unterstrichen. Hinter jeder von den tausend Straßenszenen saß ein hallendes Ausrufungszeichen. Das Hirn wurde von tückischen Anreizen gezwungen, mit großem Aufgebot auch die kleinste Aufnahme zu bearbeiten. Alles war schwer und erschöpfend von Anfang an. Die neue Häßlichkeit der Welt gab kein Pardon. Feldgrau herrschte vor, ein furchtbar verjährtes, verschossenes, verschlagenes Feldgrau, erdgrau geworden, grabgrau geworden: bei den Kummerfassaden der Häuser, der Menschen, selbst der Automobile, die mit dem Höllengebräu ihrer Ersatzessenzen erbärmlich und stinkend liefen. Grau waren: Haut, Brot, Mehl, Papier, Himmel, Unzen Fleisch und Milch, allerorten Stahlhelm und Handgranate, selbst die Revolution. Hoff stellte fest: Leben und Tod grau, gewiß auch Zeugung und Tötung.

Ihn interessierte nur die Tötung. Er riß sich mit den Zähnen kleine Hautfetzen von den aufgesprungenen Lippen. Ob es ein Trost war, daß das Leben, das graue Leben, immer doch vorherrschte? Ob Schatten oder nicht, ob Gänger und Fahrer oder der neue Hungerberuf der Steher, in immer gleicher Architektur vor den armseligen Lebensmittelläden: Menschen, Menschen waren da! Ihre Majorität stand fest. Es gab mehr Menschen als Schlafkammern, mehr als Pfunde Mehl und mehr als Stahlhelme. Ihr Sieg stand fest. War es ein Trost oder zum Verzweifeln? Hoff maßte sich keine Antwort an und vermied es in seinem belasteten Zustand, mit Weltanschauungen zu jonglieren. Er war weder sozial noch anarchisch: er dachte weder an die zweitausend Franken, mit denen er der ganzen Straße ein Bankett, dem ganzen Stadtviertel eine Suppenanstalt hätte geben können, noch an seine fünfhundert Schuß Mausermunition für fünfhundert Menschen, die genug hatten, oder für die Dezimierung der Garnison. Er war Soldat: so redete er sich wenigstens ein. Man konnte sich damit seinen Freibrief selber schreiben, nicht wahr? Versoffene Granattrichter waren noch viel häßlicher als diese verlumpten Straßen, nicht wahr? Zwerg Paula allerdings hatte entschieden, er sei Held. Das war, ungeachtet seiner dunklen Gründe für diesen Titel, eine Beleidigung, wenn auch Hoff nicht zu sagen wußte, worin sie bestand.

Als der Revolutionsminister seine Residenz noch kaum verlassen haben konnte, stand Hoff bereits auf dem »Abschnitt«. Mit diesem Griff in den Wortschatz der Kriegstechnik war tatsächlich nicht viel gewonnen, bemerkte er jetzt in seiner nervösen Begegnung mit neuen und alten Gedanken, kaum ein brauchbares Schlagwort für jene paar Quadratmeter mit der furchtbaren Hypothek auf das Schicksal, keinesfalls die halbe Ausrede auf die ehrenwerte und soldatische Herkunft des Ausdrucks, wie sie, uneingestanden, doch wohl beabsichtigt war.

Der gereizte Mann ärgerte sich plötzlich über die gelenkige Transaktion der Begriffe. Man hätte den fatalen Ort anders benennen sollen, treffender und ehrlicher: zum Beispiel »M.-S.«. Das klang immer noch soldatisch kurz und geheimnisvoll technisch und war doch nur das schlichte Initial der Wahrheit: Mord-Stelle.

Hoff klopfte verweisend mit dem Spazierstock auf den Boden.

Das war etwas zu viel, zu laut, zu deutlich. Welche Spekulationen des nachtgedunsenen Kopfes! Welche Überheblichkeit auch! Bitte: da waren Mordstellen von Ostende bis Basel gewesen, von Trient bis Bukarest, von Konstantinopel bis Reval, um sich auf das Zentrum zu beschränken, eine neben der anderen, Mordlinien, Mordmeilen: unter Brüdern viertausend Mordkilometer mit mindestens zwei Toten auf den Meter – vier Millionen mal zwei ...

Halt!

Da ist ein Schüttler, ein Kriegsschüttler, ein Kriegsveitstänzer, ein Verschütteter – man trommelt sie mit elektrischen Schlägen in den bürgerlichen Körperanstand zurück: aber jetzt, bei der schlichten Multiplikation, Verteidigungs- und Entschuldigungs-Arithmetik, schüttelte es mit bei ihm, Hoff, Rittmeister und professeur de danse, in den Schultern vor allem – im Gesicht war es nur Zucken – der Rhythmus ging mit den Schultern durch: nichts Neues, Professeur, wenn auch das Allerneueste damals auf dem Gebiet des Gesellschaftstanzes, gerade kreiert von Umberto und Ly, Hemdabschüttelungstanz, etwas obszön also, später als Jimmy volkstümlich und allgemein geübt. Die dazugehörige Melodie war auch schon in seinen Ohren, ein einfältig grelles, sauber zerhacktes und schwer abzustreifendes Niggerlied mit dem überraschenden Titel: Halleluja.

Hoff schob den Filzhut zurück. Das Innenleder klebte an der Stirn. Er fuhr mit dem Taschentuch über das Gesicht. Er sah auf die Armbanduhr. Es konnten noch drei oder fünf Minuten vergehen, bis der Revoluzzer auftauchte. Und dann würde er an ihm vorübergehen, harmlos, ohne Bedenken, und verschwinden; denn heute war ja nur der erste Tag der Spielraumwoche, Spür- und Übungstag, schwer allein für ihn, Hoff, so schwer, wie er es nicht gedacht hatte. Wenn es in dieser aufreibenden Weise weiterging, mußte er die Woche halbieren und schon morgen oder übermorgen Schluß machen. Hätte er Wagen und Waffe zur Hand, so wäre es das Beste gewesen, der eigenen Erregung den zureichenden Grund zu geben und schon heute zu schießen. War es Angst, die ihm seit gestern abend zusetzte, dann gab es gegen sie nur ein Mittel: die Tat sobald wie möglich, und schnelles Ende dahinter. Vielleicht aber war es nur eine versteckte Grippe.

Er stand an der stillen Querstraße, die den »Abschnitt« beschloß. Er kannte jede Steinplatte des Trottoirs und jede zu vermeidende Stelle des schadhaften Asphalts; denn es mußte unter Umständen auch im Fahren geschossen werden. Er hatte den Wagen ganz nahe am Rinnstein zu halten, um die geringste Erschütterung und die größte Visiernähe zu erzielen. Er durfte wiederum der Bordschwelle nicht zu nahe kommen: die Sache war nicht einfach. Die Kurve in die Seitenstraße war tunlichst zu schneiden, um im Bedarfsfalle das Feuer wirksam fortsetzen zu können; der böse Zufall durfte also kein Gefährt entgegenkommen lassen. Beobachtungen hatten ergeben, daß in fünf Minuten kaum ein Wagen aus der Seitenstraße herauskam. Schließlich war alles Glückssache, wie im Krieg auch. Ein höchst unheimlicher Mathematiker unter den Ligisten, im Zivilberuf Lebensversicherungsfachmann, hatte die Gefahr für das Leben des Täters und die Aussichten für sein Entkommen auf fünfzig zu fünfzig berechnet, wenn ein Kraftwagen benutzt würde; auf fünfundsiebzig zu fünfundzwanzig, wenn das Attentat von einem geeigneten Fenster der gegenüberliegenden Häuser aus geschähe; auf neunzig zu zehn, wenn die Tat von einem Fußgänger ausgeführt würde. Man hatte sich vernünftigerweise auf die Pari-Chance geeinigt.

Wie gefordert werden mußte, hatte das Haus längs des Abschnittes keine Läden, auch kein Erdgeschoß, sondern ein Hochparterre mit Milchfenstern, geschlossene Büroräume einer unlängst verkrachten Inflationsbank. Die anderen Stockwerke brauchten nicht mehr beobachtet zu werden, zumal sich die Hausbewohner in Revolutionszeiten sehr schnell abgewöhnt hatten, bei nahen Schießereien ans Fenster zu treten. Es war im Gegenteil zu erwarten, daß nach den ersten Schüssen – der Täter hatte, um die Verwirrung zu steigern, möglichst das ganze Magazin zu verfeuern, auch wenn der erste Schuß traf – die Mehrzahl der umliegenden Fensterläden geschlossen würden und die meisten Menschen auf der Straße weniger an Verfolgung als an Deckung denken würden.

Halleluja, summte Hoff, es steht al pari. Da ihm das Lied nicht aus den Ohren ging, merkte er, daß sich auch dieser Text zu der Melodie singen ließ. Jetzt ging er den Abschnitt ab wie ein Streckenwärter, den Kopf gesenkt, als prüfe er Schienen, Bohlen und Bolzen, dabei aber die Zahl der entgegenkommenden Passanten zählend. Es waren fünf, als er umkehrte. Der Durchschnitt stand übrigens auf drei. Die Schwankungen als graphisches Bild verrieten den Einfluß bestimmter Wochentage. Montag und Sonnabend zeigten das Maximum, Dienstag und Freitag das Minimum. Diese beiden Tage also empfahlen sich für die Aktion. Auch das hatte er berechnet. Hoff liebte graphische Kurven in gleichem Maße fast wie Generalstabskarten und Stadtpläne, deren Lektüre ihn stärker fesselte als Bücher. Hoff las wenig. Sein Geschmack war etwas antiquiert. In der Lyrik stand er bei dem Grafen Platen, der bei seinen Freunden im Schwange war. Trotzdem liebte er den hebräischen Esprit Heines, und darin wiederum unterschied er sich von seinen Gefährten.

Halleluja, Hoff, es steht al pari! – Die Narretei verdroß ihn. Es war ihm am Ende gleichgültig, ob die Aussichten sich die Waage hielten. Die Tat stand vor ihm wie ein Berg. Er dachte wenig an den neuen Aspekt vom Gipfel und gar nicht an das Leben später, falls er in die fünfzigprozentige Chance hineinschlüpfen konnte: an eine vernebelte und trostlose Niederung höchstwahrscheinlich, aber in maßlose Ferne gerückt wie in einem unverbindlichen Traum.

Hoff ging das Straßenstück zurück und hob den Kopf. Jetzt, kommandierte er, sehe ich jeden Menschen an. Da ich nicht weiß, wie in diesem Augenblick meine Augen sind und mein Gesicht wirkt, mag es nicht ganz vorsichtig sein. Aber nur zu: man lernt wieder, und sei es auch nur für die nützliche Abschnittsstatistik. Ein Mann also, der sich mit der Vernichtung eines Menschen trägt und diese Last nicht auf die leichte Schulter zu nehmen vermag – ich, Hoff, kann es nicht, ich gebe es zu, ich kann es nicht auf die leichte Schulter nehmen – dieser Mann sieht andere Menschen, Zufällige und Ahnungslose, mit seinen belasteten Augen an. Es werden Zufällige und Ahnungslose sein wie der Revolutionsmann selber, dessen Namen er schließlich noch nicht lange kannte – ein Dutzendname wie sein eigener, plötzlich aufrauschend wie ein rotes Tuch vor Stierhörnern und Feind erst durch die Regie der Sekunde. In seiner Welt entschied sich Freundschaft und Feindschaft bis aufs Letzte ungeheuerlich schnell und leicht: durch einen Farbenfleck, durch ein Abzeichen, kleiner und wertloser als ein Pfennig. Kriegsgeschrei war vollkommen unmodern, das Wort überflüssig. Jetzt, bei seiner Augenspiegelei, bekannte er gewiß nicht Farbe: er wollte den Reflex seiner tödlichen Existenz beobachten, nicht mehr. Oder war das schon Farbenfleck und Abzeichen? Man konnte in dieser Welt, die mit einem lächerlichen Druck auf den Kontakt Minen sprengte, nicht mehr die Seele vor dem Teufelsgleichnis der Kriegstechnik retten. Und das Symbol lag als Maschinenpistole im Koffer unter seinem Bett. Es lag ihm ja auch nicht an der Freundschaft oder Feindschaft der Menschen – oder doch?

Es war fatal, daß der Erste, der ihm entgegenkam, der Schüttler war. Da jener sich nur sehr langsam fortbewegen konnte, mußte er unmittelbar nach der ersten Begegnung mit ihm kehrtgemacht haben. Vielleicht hatte er ihn beobachtet, vielleicht würde er ihn wegen des Halleluja zur Rede stellen, den Vorgang peinlich mißverstehend. Hoff wußte nicht mehr, ob er das Lied gesungen oder nur im Ohr gehabt hatte – nein, er konnte sich an den ganzen fiebrigen Wechsel der Eindrücke nicht mehr recht erinnern. Er sah den Mann an. Er mochte in seinem Alter sein und schien einmal ein hübsches und intelligentes Gesicht gehabt zu haben. Jetzt bestand es aus hundert Gesichtern, von denen jedes immer nur den Bruchteil einer Sekunde Bestand hatte und schon durch die nächste Verzerrung verdrängt wurde. Es war ein unaufhörlicher Wandel menschlicher Ausdrucksmöglichkeiten, in furchtbar gerütteltem und gehetztem Tempo vorgeführt, so als jagte ein irrsinnig gewordener Lebensmotor das mimische Material eines Jahres durch die Spanne eines Tages. Die Mehrzahl der Gesichter gehörte – und das war entsetzlich – der heiteren Seite des Lebens. Man konnte zwischen fünf Atemzügen viele Grade der Fröhlichkeit vom Lächeln bis zum Gelächter erleben: aber nur die Momentbilder vom Lachen, keinen Laut. Die Grimasse der brüllenden Lustigkeit war stumm wie der Clown-Ernst, der ihr folgte. Es sieht aus, dachte Hoff und merkte nicht, daß er stehengeblieben war und der Schüttler auch, es sieht aus, als müßte der arme Teufel vier Jahre unterschlagener Fröhlichkeit nachholen: was für eine Verruchtheit des geschenkten Lebens!

Der Schüttler trug noch Hose und Waffenrock der Kummerfarbe, auf dem Kopf aber eine zivile und verwegen zerbeulte Schirmmütze mit der Sichel- und Hammer-Kokarde. Das ist also ein Feind von mir, dachte Hoff erschüttert; doch wenn er mich anbettelt, bekommt er einen Dollar, einen kostbaren amerikanischen Dollar. Der Schüttler zwinkerte ihm in die Augen. Seine furchtbare Lustigkeit steigerte sich, die Gesichter liefen in wilden Fratzen ab wie ein Filmband, die Schultern pumpten immer neue Erlebnisse hinauf, die Hände schlugen eine imaginäre Trommel, aus dem Mund kamen, immer wieder zerstört, die Ansätze zu einem Wort.

Ist das schon die Angst vor mir? dachte Hoff erschrocken, das Erkennen? das Entsetzen? – Er griff nach der Brieftasche, ziemlich hastig, und entnahm ihr einen Dollarschein. –

»Hier, Kamerad«, sagte er etwas forsch.

Der Schüttler entriß ihm den Geldschein. Die Bewegung war häßlich, sogar räuberisch; aber eine andere war jedenfalls den flatternden Gliedern nicht möglich. Doch dann wurde plötzlich das Schütteln gestoppt, der Körper war still, das Gesicht wurde blaurot vor Anstrengung, und jetzt brach der Satz aus dem Mund, heiser und überscharf skandiert:

»Gemütlich ist's im Hauptquartier, in Fetzen fliegt der Grenadier – Grä–na–dier!«

Das Schütteln schlug schon wieder ins letzte Wort ein, das aufreizend wiederholt wurde, und zerbröckelte es. Der Mann machte mit der Hand eine zackige und unbestimmte Bewegung aufwärts zum Mützenschirm und ging weiter.

Ein Herr trat hinzu, beleibt, solide gekleidet: Oberintendanturrat Bitter oder Witter. Der Name war ungewiß, der Titel außer Zweifel; denn der Herr sprach ihn, sich sofort vorstellend, deutlicher als den Namen. Er habe den Vorgang beobachtet; es sei unerhört, unerhört; bitte: es sei die Revolutionsmoral; er glaube, mit dieser Meinung nicht ganz allein zu stehen, nicht wahr? Es gäbe ja, Gott sei Dank, noch ... jetzt wurde er wieder undeutlich. Hoff sah ihn an. Der Auftrittswechsel geschah so schnell, daß er den Übergang und selbst die vorangegangene Szene noch nicht verarbeitet hatte. Beleibte Menschen, wenn nicht Importen aus neutralen Ländern, waren selten zu jener Zeit. Hoff sah ihn an. Erst jetzt fiel ihm ein, daß jener anzuschauen war, auch wenn er nicht an ihn herangetreten wäre. Da er an keine Entgegnung dachte, wurde der andere verlegen. Oder war es nicht Verlegenheit, sondern Unruhe? – Der Herr habe ihm doch Geld gegeben? nahm Oberintendanturrat Bitter oder Witter das Gespräch wieder auf, mit dem Finger den steifen und hohen Kragen lockernd, der augenscheinlich unbequem war; und zwar, wie er gut gesehen habe, eine Dollarnote; Dollarnoten sind in der Form unverkennbar; der Herr sei möglicherweise ein amerikanischer Philanthrop, der nun allerdings den besten Eindruck ... – »Nein«, unterbrach Hoff und sah ihm in die Augen, »es war eine Blüte.« – Der andere riß die Augen hinter dem Klemmer auf, trat sofort drei Schritte zurück, den Kopf nachdrücklich schüttelnd. – »Ich bin kein Philanthrop«, sprach Hoff wieder und bewegte sich auf ihn zu, »Sie können weitergehen.«

Herr Bitter oder Witter ging weiter: er lief sogar fort; und da er es nicht gewöhnt war, lief er stolpernd und denkbar unschön. Nach zwanzig Metern ging er wieder im Schritt, aber erst nach fünfzig Metern wagte er sich umzudrehen. Doch er sah nur noch den Rücken des Amerikaners, an dessen spleenigem Verhalten seine Menschenkenntnis mit Sicherheit den Philanthropen erkannt hätte, wenn nicht der unangenehme Blick gewesen wäre, ein wahrhaft bedrohlicher Blick, der genügte, um sich der Flucht nicht zu schämen. Vielleicht war es nur ein deutscher Geisteskranker, gar ein gemeingefährlicher. In dieser Zeit war alles möglich, und die Revolution brachte rarste Fälle in Schwung. Herr Bitter oder Witter beschloß, aus dem Vorfall zu lernen, ihn, mit Ausnahme des Rückzuges, dem Stammtisch als Material für die Demoralisation des Nachkriegsmenschen zu unterbreiten und für seine Person auf der Straße vorsichtiger zu sein. Da er durch die Geschwindigkeit der letzten Minute wiederum dem langsamen Schüttler zu nahe gekommen war, verließ er, kurz entschlossen, die peinliche Straßenseite.

Hoff fühlte einen Druck zwischen Magen und Herz. War er krank, daß er solche Dummheiten machte? Straßenszenen arrangieren, Dialoge halten, Aufsehen erregen, mit seinem schlechten Gewissen die Leute anblenden wie mit unerlaubten Scheinwerfern, heiß sein statt kalt, bloß statt bedeckt, beschwörend statt berechnend: das ist tolle Travestie des Soldatentums – zum Teufel! des Heldentums, zu dem er sich verpflichtet hat. Und ist es ernst mit dem Gegensatz – ist es ernst mit der Angst, mit der Abkehr, mit dem Schauder: dann bitte, Hoff, bitte! nimm nur den Paß und die Schweizerfranken aus dem Koffer, laß den Rest zurück und verschwinde! Wenn du Glück hast und in Carácas oder Guatemala einen Bordellportier machst, findet dich die Feme nicht mehr. Hoff, neunzig zu zehn! Zehn Prozent für den Ligarevolver am Hinterkopf, neunzig für das Bordellkissen des guten Gewissens! Und da du steppen kannst wie ein Neger, mit Kokotten umzugehen verstehst, älteren Damen gefällst und in der Behandlung Homosexueller Erfahrung hast, öffnet sich südamerikanisches Tor zum Avancement ... Halleluja, Hoff! –

Bis zur Querstraße: ein alter Mann, Blick nach innen – ein Mädchen, Stenotypistin etwa, hübsch, mit einem kleinen, schnellen, gefälligen Blick zu ihm hin – ein Zeitungsverkäufer, der ihn ebenfalls ansah, aber in ihm nur den möglichen Kunden suchte. Hoff kaufte eine Zeitung, um ihn fragen zu können, ob er in dieser Straße einen Stand habe. Nein, er komme nur zufällig durch, sein Stand sei am Landtagsplatz. – Wieder fünf Passanten, überschlug Hoff an der Ecke, hohe Frequenz für einen Donnerstag. – –

Als er sich umwandte, sah er den Revolutionsminister kommen, neben ihm den schiefen Abriß des Sekretärs. Die beiden waren noch gute fünfzig Meter entfernt. Außer ihnen war kein Passant auf dem Straßenstück. So müßte es sein, dachte Hoff, so müßte es sein ... In seinem Hirn rotierte dieses Satzfragment. Er blieb stehen, wo er zufällig war: an der Litfaßsäule, mit der es strategische Bedenken hatte; denn sie war, unweit der Straßenkreuzung gelegen, als Zielstörung zu fürchten, wenn der erste Schuß nicht traf, oder gar als Deckung, wenn das Feuer aus irgendwelchen Gründen zu spät eröffnet wurde. Es war nicht richtig, daß er bei der Anschlagsäule stehenblieb: sie zog, mit blutroten Aufrufen und Ordonnanzen übersät, den Blick an und machte ihn auffällig, wenn er hinter ihr hervorlugte. Er hatte aber bei seinen Prüfgängen dem Schußziel zu begegnen, um es immer wieder abzuschätzen. Er hatte von der Säule fortzugehen.

Doch er ging nicht. Er konnte es mit einemmal nicht. Er fürchtete sich vor seinem Schritt wie vor einem Verräter. Er hätte gehen können, wenn es auf den Verrat nicht mehr ankäme: wenn er schon jetzt zu schießen hätte. Seine Wut war groß nach alledem; sie galt seiner eigenen Person und schon allen Menschen, wie es seine Art war. Er konnte nicht harmlos und zieläugig gehen. Er blieb stehen, entfaltete die Zeitung und stellte einen interessiert Lesenden vor. Er beabsichtigte, sie in der Mitte der Falzung ein wenig auseinanderzureißen und durch die Lücke die Ankömmlinge zu beobachten. Doch es war furchtbar: die Zeitung zitterte. Es ist nicht Angst, rief er sich an, es ist die unterdrückte Wut! Es ist Haß! Es ist Mordlust! Er lehnte sich an die Litfaßsäule, legte die Zeitung zur Hälfte zusammen und hielt sie dicht vor die Augen. Er schloß die Augen. Er hörte die beiden kommen und unterschied den festen Schritt des Ministers von dem ungleichmäßigen und leisen Geschlürf seines verwachsenen Begleiters. Er wagte keinen Blick, trotzdem er unschuldig das Blatt wenden und dabei das Auge schweifen lassen konnte. Wenn er mich jetzt sieht, unterwies sich Hoff, dann weiß er alles. Und wenn man es darauf ankommen ließe? Oder wenn man Atem holte und losschrie: Es lebe der Kaiser! – dann käme man vor das Revolutionstribunal und brauchte nicht zu töten.

Er drückte die Augen zusammen, sah nicht, schrie nicht. Er fühlte, wie der Hut an der nassen Stirn und die Zeitung an den nassen Fingern klebte. Die Schritte waren ganz nahe. – Und jetzt lasse ich die Zeitung fallen! schrie er sich an. Er löste den nassen Rücken vom Hemd und den Anzug von der Litfaßsäule. Er grätschte die Beine und riß die Augen auf. Er ließ die Zeitung fallen und trat schnell mit dem Fuß auf sie, weil ihn die unsinnige Angst anflog, der Minister könne sie aufheben und ihm geben. –

Der Minister sah ihn an. Er hatte ein kluges Auge, ein volles bedeutendes Gesicht, einen blonden Spitzbart und glich, wie Hoff schon früher festgestellt hatte, dem van Dyckschen Gustav Adolf. Er war breitschultrig und bäuchig, hatte einen langen Körper und kurze Beine. Der Sekretär sah ihn an, ein blasses krummes Männchen mit großen, schwarzen, traurigen und mißtrauischen Augen. Hoff fühlte, daß sein Gesicht ohne Blut war und blank vor Schweiß. Zugleich aber brannte in ihm eine so entsetzliche, so wilde, so todessüchtige Scham, daß ein schneidender Schmerz die Gedärme packte. Rettung! schrie er sich an, Rettung!

Die rechte Hand fuhr hoch, ergriff den Hut und riß ihn herunter. Hoff grüßte. Der Minister dankte sofort, sehr höflich, beinahe eifrig, mit nachdrücklichem Oberkörper, sichtlich erfreut. Auch der Sekretär zog die schwarze Melone, jedoch mit einem erstaunten und argwöhnischen Seitenblick.

Bluff, belehrte sich Hoff über seinen Hutschwung, Trick, Taktik, Geistesgegenwart, Zweck heiligt Mittel. Sein Blick hing sich an die beiden Rücken, die allmählich kleiner wurden. Der massige Rücken des Ministers trieb Querfalten in den alten und engen Überrock. Es war ein gutmütiger Christophorus-Rücken, ausladend, treu und blind. Man sieht in ihn hinein, weiß, daß man einer der besten Pistolenschützen der Division war, auf fünfzehn Meter freihändig mit drei Schüssen drei Asse ausschoß, man weiß, daß man bei dieser Breitseite besinnliche Auswahl nach anatomischen Gesichtspunkten treffen könnte: und der Bärenrücken zuckte nicht. So blind! quälte sich Hoff, so gutgläubig! so lächerlich optimistisch! Ich tu dem Rücken nichts! In die Stirn: lieber in die Stirn!

Aber der andere Rücken, der runde, schmale, schwierige (fatale Diskussion seit zehn Tagen: auch der Sekretär? Schwammiges Ergebnis gestern abend: je nach der Situation), der andere Rücken, kaum angeblickt, reagierte wie auf einen Stich. Der Sekretär sah sich um, mit einem Ruck, er allein. Hoff wußte: der Minister fragte nicht einmal, warum sich sein Begleiter umwende. Hoff hob den Kopf um ein Kleines höher – wer kann es ihm verbieten – und sah schon in den Himmel. Natürlich ihn auch, diktierte er in das erdgraue Gewölk, und natürlich schon morgen; denn er kennt mich jetzt – und ich: ich kenne mich vielleicht übermorgen nicht mehr. Morgen – was ist doch morgen für ein Tag? – Wenn man lange in diesen Himmel sieht, friert man. Ich war vor dem Krieg einmal zu Pfingsten in Florenz und sah von Fiesole aus die Domkuppel vor Sonne zittern. Was wollte ich eigentlich werden?

Dann setzte er den Hut auf, den er zwischen den klammen Händen vergessen hatte.

Morgen zumal ist Freitag. Wie günstig!


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