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Geheimbund

Der Doppelgänger stand mit zwei kleinen bellenden Hunden an der Vorgartentür eines Einfamilienhauses. Er ließ den Angekommenen das Fahrzeug entlohnen und öffnete dann erst das Tor. Er gab Hoff die Hand und ging voraus. Die beiden schottischen Terrier ärgerten sich lärmend über den Fremden. Hoff liebte Tiere. Der komisch heisere Eifer der stachelhaarigen und kurzbeinigen Wesen überhob ihn der Verlegenheit des Eintritts und erster Worte. Dann war auch das kleine Haus warm, freundlich und zeugte von einem angenehmen, geordneten und wohlhabenden Geist. Hoff hatte eine feines Gefühl für die Art, wie ihn fremde Wohnungen empfingen. Heute zumal registrierte er empfindlich. Hier war es ihm wohl von Anfang an.

Der Hausherr führte ihn in die Bibliothek, einen großen, stillen, bücherernsten Raum. In einer Ecke, zwischen Bücherwänden, gab eine Stehlampe mit schweinsledernem Schirm ein zugleich männlich klares und behagliches Licht. Dort standen um einen niedrigen Tisch, der Flaschen, Gläser und Rauchwaren aller Art trug, zwei große und zwei kleine Sessel. Der Hausherr bestimmte liebenswürdig die großen Sessel für den Gast und für sich, die kleinen für die Hunde, die sich bereits auf dem Polster um sich selber drehten und als haarige Kugel niederkauerten, mit sich, ihrem Herrn und bereits auch schon mit dem späten Ankömmling zufrieden.

Hoff fühlte sich wohl. Er verschwieg es auch nicht dem Doppelgänger; er sagte es ein wenig anders: er fühle sich geborgen. Der andere hob etwas das Gesicht, aber er antwortete nichts. Er nahm den Deckel von der Zuckerdose: sofort fuhren die beiden kleinen Schotten aus ihrer Ruhe, saßen auf den Hinterbeinen und bettelten mit den dicken Wollpfoten durch die Luft, unter den buschig hängenden Brauen die herrlichen Niggeraugen rollend. Der Hausherr gab mit dem gütigen Blick für die Kreatur, der nicht vielen Menschen eigen ist und den das Tier mit wundervollem Scharfsinn und einer Dankbarkeit ohnegleichen erkennt, je ein Stückchen Zucker, dem einen und dem anderen, genau gleichzeitig auch, damit sich keiner zurückgesetzt fühle; und beide bärtigen Mäulchen zermahlten mit den weißen und starken Zähnen das Köstliche in der gleichen hastigen Zeitspanne, sich gegenseitig anschielend und mit dem Hammelschwänzchen wirbelnd.

Hoff streichelte sie; auch er schon tat es gleichzeitig, und jede Hand spürte das gleiche harte Fell und die festen Körperchen. Die Schotten sahen ihn an, aus dem Dickicht der Haare bedächtig und unschuldig.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte Hoff leise, »sehr dankbar.« Der andere lächelte und stellte die Hunde als Barry und Bia vor, aber von so hohem Adel, daß sie trotz ihrer Winzigkeit die Bernhardinernamen sehr wohl zu tragen vermöchten.

»Aber Ihren Namen kenne ich noch nicht – oder verstand ich nicht, lieber Herr«, bemerkte Hoff.

»Ich heiße Hertz«, sagte der andere nach einem ganz kleinen Zögern, »David Hertz.«

»Hertz ...« sann Hoff und streichelte die Hunde.

Der Name scheine ihm nicht unbekannt, meinte Hertz und lehnte sich zurück, zur Decke sehend.

»Ja, man las doch ...« überlegte Hoff. Plötzlich sah er auf.

Der Hund Barry, dem das Streicheln gefiel, stieß mit der Schnauze gegen die Hand, daß sie fortfahre. Hoff tat es und senkte wieder den Kopf. Es sei schließlich kein so seltener Name, murmelte er verlegen.

»Aber ich bin schon jener David Hertz«, sagte der andere. »Ich bin leider ziemlich berühmt. Vielleicht vergißt man es doch einmal. Es sollte beinahe genügen, daß ich es nicht vergesse. Aber unsere Zeit ist sehr wild, erwiesenermaßen sehr wild auf alle Arten ...« Er suchte das Wort und sah immer noch zur Decke.

Hoff streichelte die Hunde, mechanisch und mitgenommen, aber immer noch mit dem Gefühl des Wohlseins. Es war, als sei die Wand zwischen diesem Raum und der bösen Nacht so stark, daß sie auch als Handlung und Bewegung nicht mehr eindringen konnte. Hier gab es den Kugelfang des guten Geistes, war der Angriff des Lebens auch noch so stark. Hoff dachte auch an Sinn und Kraft der Kirche. – Wäre ich ein guter Katholik: es ginge mir besser draußen ...

»Ich sage nicht: alle Arten Unglück«, fuhr Hertz fort, ruhig und mutig, »ich sage: alle Arten Tod.«

»Aber Sie sind unschuldig«, sagte Hoff schwer; denn er dachte an sich.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Hertz, »ob Sie es als Frage oder Faktum aussprechen. Bekanntlich wurde ich aus Mangel an Beweisen freigesprochen.«

Der Hund Barry schlief unter der fremden Hand ein. Die Hündin Bia, von der anderen Hand ein wenig vernachlässigt, sprang vom Sessel und legte sich neben den Füßen des Gastes auf den Rücken. Das bedeutete die Einsicht, daß die gute Hand ermüdet sei, und die bescheidene Aufforderung, mit der guten Schuhsohle Bauch und Brust zu kraulen, vielleicht auch hin und wieder den behaglich gestreckten Schenkel. Der gute fremde Mann begriff es und tat es.

Was wird aus dieser Nacht? dachte Hoff, und was wird mit mir? Und was will mein guter Bruder dort? Und warum höre ich mit einemmal nicht mehr den Durchmarsch der Stunden? – Er sagte: »Ich glaube nicht, Herr Hertz, daß ein Mensch gerne von seinem Unglück spricht, und ich habe es gewiß nicht anregen wollen.«

»Ich spreche sehr selten davon, weil ich begreiflicherweise immer daran denke.«

So nur könne man es verstehen, meinte Hoff, daß eine allabendliche Imperial-Bar solchem Haus und solchen Hunden vorgezogen werde. – Verstehen könne man alles, sagte Hertz beinahe aggressiv, verstehen sei das Leichteste. Wenn man Leid kenne, erkenne man es auch – er machte eine kleine Pause – erkenne man es auch an.

Hoff nahm sich die Hündin Bia auf den Schoß; er hätte auch den Hund Barry dazugenommen; aber Barry schlief.

»Es tut Ihnen jetzt vielleicht gut, Herr Hertz, wenn Sie auf mich zu sprechen kommen.«

Hertz richtete sich auf und beschrieb mit der Hand einen Bogen. – »Hier hat sie ja gelebt.«

»Wer?«

»Meine Frau.«

Hoff fühlte das warme Tierkörperchen. Bias Kopf lag auf seiner Hand, und wenn er hinunter sah, sah sie hinauf, mit viel Weiß in den Augen und blanker Freundschaft. – »Das Leben ist eine gute Sache«, sagte Hoff in die Hundeaugen hinunter, »und also auch die Erinnerung an ein Leben. Davor sollte man nicht weglaufen.«

»Davor liefen Sie nicht weg?« fragte Hertz geradezu.

Was glaubt er nur von mir? fragte sich Hoff, und er antwortete leise: »Das hängt natürlich von dem Leben ab.«

»Nein, Herr Hoff, das hängt natürlich von dem Tod ab.«

Hoff hatte noch seine Scheu vor den schweren Gedanken dieses Abends. Er kannte auch den Mordprozeß Hertz nicht mehr in seinen Einzelheiten. Es verlangte ihn nicht nach der Schilderung und noch weniger nach den unvermeidlichen Parallelen zum eigenen Zustand, so fast akademisch distanzierend dieses geschützte Zimmer auch war. Er wehrte ab: »So quälen Sie sich doch nicht!«

Hertz sah zu ihm hin und lächelte: »Das wollte ich Ihnen schon während des Abends sagen, Herr Hoff.«

Er springt also doch von sich auf mich über, dachte Hoff, er hat also doch sein Programm, und nach allen Voraussetzungen hier ein menschenfreundliches.

»Ist das, was Sie treiben«, meinte Hoff mit Wärme, »vielleicht eine besondere Strategie, um mir nahe zu kommen?«

»Ich habe darüber noch nicht nachgedacht«, lächelte Hertz, »also ist es keine Strategie.«

»Sie hätten sie nicht nötig, Herr Hertz.«

Man könne das doch kaum so leicht entscheiden, meinte Hertz besonnen, außerdem sei es für ihn im Augenblick tatsächlich ein Bedürfnis, von sich zu sprechen; aber das brauche für ihn, Hoff, keinesfalls den Zwang zu bedeuten, nachher ein gleiches zu tun.

Hoff betrachtete Bia, über deren Augen jetzt eine trübe Hornhaut schlüpfte, hin und her ein paarmal: dann fielen ihre Lider zu.

»Wie lange darf ich hierbleiben?« fragte er sehr leise, als wollte er nicht den Schlaf der Hunde stören.

»Solange Sie wollen«, antwortete Hertz; »ich schlafe sehr wenig und liege nicht gern im Bett.« Er legte wieder den Kopf zurück und sah zur Decke. Sein Mund schien etwas verbittert.

Hoff nahm eine Zigarre und brauchte zwei Streichhölzer, um sie in Brand zu bringen. Seine Finger waren noch fahrig, als hätte er körperliche Anstrengungen hinter sich. »Sprechen Sie doch ruhig«, sagte er, »ich hindere Sie doch nicht, aber was soll ich denn fragen?«

Hertz hob die Hände und ließ sie wieder fallen.

»Ja, Herr Hoff, das Leben mischt die Menschen eigentlich immer nach ein paar bewährten Rezepten, und die Menschen, die so leidenschaftlich vergessen können – nicht wahr, sie wollen am liebsten schon den Krieg vergessen – die Menschen finden sich immer ganz neu, ob sie sich nun lieben oder hassen wollen.«

Hertzens Stimme, ohne Aufwand gebraucht, war deutlich und angenehm; es war eine gänzlich undramatische, eine epische Stimme, der jeder Bericht zuzutrauen war, ohne daß man blaß werden würde. Hoff fand, daß sie in das Zimmer gehöre, auch mit ihrer Sprache, die ein klein wenig artistisch war, wie oft bei noblen Juden.

»Herr Hoff, was nützt es uns, wenn wir die Kombinationen beherrschen, sie auswendig kennen, ihre Tragödien als fingerfertige Psychologen vorauszeichnen und die Einfalt der Ereignisse mit Hoffart kritisieren? Was nützt es denn, wenn wir mitten drinstecken? – Ich liebte die Frau und die Frau liebte nicht mich, sondern meinen Bruder, der es nicht mehr und nicht weniger verdiente als ich – oder doch weniger, weil er nur der Schwager war; ich bin, wenn es mir paßt, ein querköpfiger Moralist, Herr Hoff. Das also war die Mischung des lieben Gottes für uns drei, ein alter, guter, wirksamer Gifttrank. Man leidet, was man kann, und dazu kommen dann die Sonderkonstellationen, an denen es im richtigen Augenblick niemals fehlt. Meine Frau hatte eine kränkelnde, mein Bruder eine kranke Lunge – ich war von uns dreien entschieden der Gesündeste. Die Frau mag aus Liebe für den Kranken krank geworden sein, aus Liebe und um mit ihm in Davos zu leben. Das können Frauen. Meine Frau lebte mit ihm in Davos, monatelang. Meine Frau sagte mir, wenn ich es hören wollte, sie und er könnten beim besten Willen nicht zu dem Bewußtsein kommen, daß sie nicht Mann und Frau seien. Dabei wurde sie gesünder und er kränker. Ich war derweilen vor lauter Toleranz und Einsamkeit dem Tode am nächsten, trotz meiner Gesundheit. Ich dachte an Selbstmord, mit der Intensität meiner Rasse, die dafür eine Neigung hat. Dann beschloß ich es anders – ich bin leider sehr jähzornig, auch gegen mich, ich kommandiere mich gern von einem Extrem ins andere – reiste nach Davos und holte sie. In Zürich telefonierte sie ins Sanatorium und erfuhr seinen Blutsturz, den sie mir schon im voraus während der ganzen Fahrt vorgeworfen hatte. Er lebte noch, und sie wollte zurück. Ich war sehr brutal und fuchtelte eine böse Nacht hindurch mit dem Revolver. Ich bedrohte mich, Herr Hoff, nicht sie. Wir fuhren nach Romanshorn. Dort telefonierte sie von neuem und hörte, daß es ihm besser ginge. An diesem Abend versöhnten wir uns, jedenfalls nur aus einer Überspannung der Nerven, nahmen ein Boot und fuhren auf den See. Nach zehn Worten, die nicht von der Landschaft handelten, zerriß natürlich die Versöhnung. Es war ein Juniabend. Der See war ganz glatt. Sie werden sich erinnern, daß trotzdem während dieser Fahrt das Boot kenterte und meine Frau ertrank. Sie konnte nicht schwimmen. Ich bin ein sehr guter Schwimmer. Ich suchte nach ihr eine Stunde; aber es war stockfinster und ich fand sie nicht. Ich schwamm an Land zurück, schlief irgendwo, alarmierte die Behörde erst am nächsten Morgen und wurde am gleichen Abend verhaftet, weil die Leiche, die man inzwischen gefunden hatte, eine leichte Kopfverletzung aufwies. Zu allem Überfluß bezichtigte mich mein Bruder, nachdem er die Nachricht erfahren hatte und bevor er das wahnwitzige Quantum Veronal schluckte, in einem ausführlichen Brief an das Eidgenössische Polizeidepartement in Bern des Mordes. – Wie leicht es sich erzählt, nicht wahr, Herr Hoff?«

Er kreuzte die Hände im Nacken und schlug die Beine übereinander, dabei traf er mit dem Schuh den Tisch, ein wenig nur; aber doch klapperte leicht der Deckel auf der Zuckerdose. Durch die Bia ging das Geräusch nur in einem kleinen Zucken des Körperchens, wie auch andere schöne Träume. Barry aber wurde aus dem Schlaf gerissen; er saß gähnend auf, stemmte sich gegen den Tisch, entdeckte nichts, was die Störung verlohnte, und blickte seinen Herrn an, nicht eigentlich vorwurfsvoll, sondern nur sehr erstaunt. Es machte auf Hoff, der unverwandt und heftig berührt den Erzähler ansah, einen starken Eindruck, daß Hertz den Blick des Hundes spürte, ohne zu ihm hinunterzuschauen; denn er winkte ihm wie einem Menschen und sagte: »Komm her, mein gutes Tier.« Barry sprang bedächtig auf den Boden, ging das Streckchen, die eckige Schnauze fast auf dem Boden, mit dem Schwanz wirbelnd, und sprang bedächtig auf den Schoß. Hertz streichelte ihn, ohne den Kopf von der Sessellehne zu heben. Hoff streichelte die Bia. – Welche furchtbare Ähnlichkeit zwischen uns, kam es ihm durch den Sinn, bis zu den glückseligen Tieren auf unseren armen Körpern ... Und warum, warum gibt mir diese Nacht diesen Partner ...

»Was denken Sie jetzt, Herr Hoff?« fragte Hertz plötzlich.

»Wir haben beide ein Häufchen Glück auf unserem Schoß – wir haben es wohl beide nötig.«

»Was denken Sie über das Gehörte, Herr Hoff?«

»Ich komme damit nicht zu Rande«, flüsterte Hoff gepreßt, »ich weiß ja nicht – ich begreife ja noch nicht, warum Sie mich in Ihre Beichte zwingen.«

»Ich beichte nicht – ich berichte nur.«

»Sie fangen mit dem Bericht an und wollen in die Beichte hinein!«

»Warum haben Sie Angst davor, Herr Hoff, Sie können ja still bleiben.«

»Warum haben Sie mich hergeholt?« wehrte sich Hoff, immer gesteigerter, »ich empfahl mich heute abend keineswegs als Beichtiger!«

»Sie beschäftigen sich also«, sagte Hertz leise und hart, »Sie beschäftigt also doch die Frage, ob ich es tat oder nicht tat.«

Hoff bückte sich und hob den Kopf der Hündin an seine Wange. Bia machte die Augen auf und zu. Ihre kleinen weichen Biberohren kitzelten seine Haut. – »Sie wollten mir doch helfen«, klagte er, »und Sie haben mir auch geholfen – aber jetzt quälen Sie mich sehr ...«

Hertz hob langsam den Kopf von der Lehne und sah ihn an. Auch der Hund Barry sah ihn an.

»Sind Sie denn ein Mörder, Herr Hoff?«

»Nein«, sagte Hoff sofort, als ob er die Frage erwartet hätte; aber es machte ihm große Mühe, den Zusatz: »noch nicht« zu unterdrücken.

»Als ich Sie heute abend sprach und beobachtete«, meinte Hertz in seinem milden Dozierton, »sah und hörte ich natürlich das, was man gemeinhin mit schlechtem Gewissen bezeichnet. Nun, ich bin durch meine persönlichen Erfahrungen so etwas wie Spezialist für diese Erkrankung. Durch allerlei Anzeichen, vor allem durch Ihre Tanzerei, kam ich zu der Überzeugung, daß Sie ungewöhnlich schlimm dran seien. Mich interessieren extreme Fälle, weil ich selber einer zu sein glaube. Das klingt viel wissenschaftlicher oder kühler, als es bei mir der Fall ist. Es ist echtes Mitleid dabei. Mitleiden kann nur der, der selber zu leiden hat. Außerdem gefiel mir Ihre gute Haltung bei alledem. So überwand ich die verständliche Abneigung, die eigene Fracht noch mit fremder zu belasten. Sie brauchen deshalb nicht zu beichten, wie Sie es nennen. Sie sind für mich eine Belastung, auch wenn Sie stumm bleiben. Aber die einzige Therapie für unsere Krankheit ist die gelegentliche Mitteilung unter bestimmten seelischen Voraussetzungen. Vielleicht begreifen Sie bei solchen gesetzten Worten, daß ich manchmal an meinem klaren Verstand leide. Die mystischen Beladenen haben es entschieden besser. – Sicher ist, Herr Hoff, ich helfe mir und Ihnen durch meinen Bericht.«

Wie leicht, dachte Hoff, während der andere sprach – wie leicht müßte meine gewöhnliche Vorsicht solcher Möglichkeit einer glatten und klugen Lockung mißtrauen und wie böse würde ich einen anderen Menschen ansehen, der solches redet, und ihn für mich oder ihn ins Gesicht Spitzel schimpfen! Mag sein, daß ich außerhalb dieses Hauses selbst dem David Hertz nicht traue und mich in meine vernünftige Angst einschließe. Aber hier glaube ich ihm! Hier glaube ich an seine Bruderschaft! Ich werde mit ihm mitgehen.

»Machen Sie, Herr Hertz, zwischen persönlicher und, sagen wir, kollektiver Leidschickung keinen Unterschied?«

»Nein; denn für mich ist auch gemeinsames oder öffentliches Schicksal immer nur unterschiedliches Passional vieler einzelner. – Übrigens weiß ich nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe. Ihre Frage war nicht klar.«

»Ich bin politisch tätig«, sagte Hoff.

Er beobachtete dabei das Gesicht des anderen. Hertz schaute ihn nachdenklich und klug an, das Gesicht in die Hand gestützt.

»Das ist eine ziemlich klare Auskunft, Herr Hoff. Sie geben mir dadurch natürlich allerhand Material. Wenn ein Mann in Ihrer Lage des Lebens – also mit dem Gegensatz der gehobenen Vergangenheit und der erniedrigten Gegenwart – sich als politisch erklärt, so meint er damit aktivistisch im Sinne des Kampfes gegen den bestehenden Staat, der ihn degradiert hat. Rechne ich Ihre seelische Verfassung dazu, wie sie mir bekannt geworden ist, so ergibt sich kein unsympathisches Bild. Sie machen sich den Kampf gegen den Staat nicht leicht, wie die vielen anderen, die ihre Leichtfertigkeit für Fanatismus oder gar nur für Jugend ausgeben. Sie machen es sich schwer. Aber trotzdem – nein: gerade deswegen gestatten Sie mir eine Grundfrage: warum machen Sie es sich schwer? Warum wollen Sie Schmied werden, wenn Ihnen das Handwerk nicht bekommt? Ich meine: warum überhaupt betätigen Sie sich in solcher bedrückenden Form politisch, wenn es Schichten in Ihnen gibt, die Widerstand leisten?«

Es ist für scharfsichtige Leute eine winzige Änderung im Gesicht des Gegenübers wahrnehmbar, eine kaum merkliche Verwandlung, die aber wichtig ist; zu vergleichen etwa mit dem Anblick einer Tür, deren Schloß leise und höflich gesperrt wird. Hertz merkte jetzt, daß Hoff sein Gesicht zuschloß. – Wir sind durch die Grundfrage gründlich verschiedene Menschen geworden, dachte Hertz und lächelte fein, er wird jetzt unseren Grundgegensatz betonen; aber das macht nichts: es ist ganz gut für ihn, wenn er sich in seiner heutigen Stimmung einmal vormacht, wie fest er an seiner Gruppe klebt.

Hoff sagte: »Lieber Herr Hertz, ich fürchte, diese Grundfrage werde ich nicht nach Ihrem Geschmack beantworten können.«

»Das verlange ich ja auch nicht«, entgegnete Hertz freundlich, »ich frage ja nicht einmal, ob Sie Antisemit sind. Ich würde Sie überhaupt nicht fragen, hätte ich nicht gesehen, daß Sie vorhin Menschen fischten, wie nur je ein Jünger in Not. Ich frage – ich darf fragen, weil ich ganz gerne in Ihr Netz gegangen bin, lieber Herr.«

Solcher Ton machte es Hoff nicht gerade leicht. Aber Menschen seiner Art werden dadurch nicht verlegen, sondern geistig sogar etwas grob. »Ja«, sagte er, »man hat also zunächst seine Tradition und dann sein gelebtes Leben, seine Vorstellungen von staatlicher Ordnung, seinen Begriff von Recht und Unrecht, und wird dabei zweiunddreißig Jahre und weiß, was man will – und man hat seine Wut auf gewisse Menschen, die den schönen Bau zerstörten. Ich halte diese Wut nicht nur für gerechtfertigt, sondern sogar für notwendig ...« Er holte Atem und riß die Augen auf; sein Gesicht bekam einen zugleich fanatischen und stumpfen Ausdruck; er fuhr mit der Hand in die Luft: »Ich halte sie sogar für sakrosankt.«

»Ich für meine Person würde der Wut keinen Heiligenschein aufsetzen«, sagte Hertz mit höflichem Ernst.

Jetzt sah Hoff ihn böse an. »Lieber Herr«, entgegnete er, »fremden Gefühlen kann man auch nicht mit Sophismen beikommen. Ich bin mit der gleichen Leidenschaft und mit derselben Überzeugung ein Feind des neuen Staates wie ich im Krieg ein Feind der Feinde meines Landes war. Ich habe die gleiche Pflicht zu kämpfen.«

»Ich halte den Vergleich für gefährlich, Herr Hoff.«

»Auch unser Begriff von Gefahr ist verschieden!« rief Hoff. »Für mich mag die Gefahr anziehend sein, für Sie abstoßend. Wir sind aus verschiedenem Teig gebacken, Herr Hertz, ich kenne einen Taumel oder einen Stoß oder einen Sturm nach vorwärts, den Sie nicht kennen. Wenn wir es Mut nennen wollen, so liebe ich Mut, auch wenn er keinen Zweck hat.«

»Sehr schön«, bemerkte Hertz, »Sie setzen ›Mut‹ gegen ›Spekulation‹; das gefällt mir sogar, trotz meiner anderen Stofflichkeit. Sie bringen als Offizier Mut in die Politik: aber Offiziere hatten doch nicht politisch zu sein, Herr Hoff, oder sie hatten es doch nicht gelernt.«

»Was bleibt uns denn übrig?« erregte sich Hoff. »Wie können wir denn den Staat schonen, der uns nicht schonte. Wir haben doch unsere Gesinnung! Wohin sollen wir denn mit unserer Gesinnung? Mein Vater war Divisionär, als er fiel. Und als er lebte, war er aus Gesinnung Offizier, aus Liebe, Herr Hertz, nicht aus Spekulation. Er hatte kein Vermögen, keine Möglichkeit, es zu erwerben, wahrhaftig keinen Gedanken, es zu erwerben. Er hatte ein strenges, geordnetes und bis zum Rande vom Dienst erfülltes Leben, ganz ohne Zweifel an dem Zustand seiner Welt; und er hatte den Tod, der dazu gehörte. War das nichts, Herr Hertz? Es war für uns eine Erfüllung, der Triumph unserer Gesinnung und die beste aller Welten. Unsere Gesinnung galt nicht nur dem Stand und dem Beruf, sondern auch dem Staat, der sie uns gab: also war sie politisch. Der Staat wurde zerstört, aber nicht unsere Gesinnung; also kämpfen wir aus Gesinnung gegen die Zerstörer. Das ist wieder Politik.«

»Das ist Sentimentalität«, sagte Hertz, »das ist Egoismus und Gleichgültigkeit gegen das größere Leid der Mehrheit; denn für sie ist es keinesfalls die beste aller Welten gewesen.«

»Wir sprechen ja von mir und meinen politischen Motiven«, wehrte sich Hoff. »Ich bin aus Treue, aus Pflichtgefühl, aus Gehorsam gegen mich selber, aus Gründen der Herkunft, der Lebensart, der Lebensanschauung, des Lebenswillens politisch. Hier ist die Antwort auf die Grundfrage.«

»Sie sind aus Zwangsvorstellungen politisch, Sie unpolitischer Mensch«, sagte Hertz.

»Ja! Ja! Auch das!« rief Hoff außer sich. »Sie kennen auch nicht den hohen Begriff des Zwangs! Ich bin ein zwangvoller Feind des Umsturzes! – Zum Teufel, ich liebe meinen Zwang!« –

Hertz wollte ihn nicht treiben. Er wollte ihn nicht zu sehr verbittern und in einen Widerstand hetzen, der schließlich auch die tiefen Gründe seines Menschenfischzugs verleugnet. »Gut«, sagte er, »nehmen wir die Zwangsläufigkeit Ihrer politischen Haltung als erwiesen, Herr Hoff. Wiederholen wir uns das Wichtige: Sie machen es sich schwer, trotz Ihrer Überzeugung. Sie machen es sich schwer, Herr Hoff. Das tat Brutus auch. – Wenn ich mich verirre, Herr Hoff, dann unterbrechen Sie mich.«

»Ohne einen Cäsar gibt es keinen Brutus, scheint mir.«

»Richtig«, lächelte Hertz; »aber welthaltige Namen sind immer schon Idee oder doch Begriff. In namenlosen Zeiten teilen sich unter Umständen Staat und Opposition in die Rollen der beiden. Es wechselt ja auch der Geschmack an den beiden. Einmal steht der Ermordete und ein anderes Mal der Mörder höher im Kurs. Dante und Goethe sind für Cäsar, Petrarca und Rousseau für Brutus, Shakespeare und Michelangelo verteilen die Gewichte des eigenen Rieseninhalts auf beide. – Wir leben wieder einmal in einer Brutuszeit. Sie neigt also sowohl zur Katastrophenpolitik als auch, trotz scheinbarer Sittenauflockerung, zur katonischen Weltanschauung. Das ist für Leute, die nun einmal auf die äußerste Seite solcher Zeit geschleudert worden sind – Leute also, wie Sie und ich – natürlich günstig.«

»Wieso?« fragte Hoff.

»Ich zum Beispiel hatte die Thurgauer Bauerngeschworenen von Anfang an auf meiner Seite, sicherlich nicht wegen der mangelhaften Indizien, sondern wegen der sinnfälligen und billigen Moral der Geschichte vom betrogenen Ehemann.«

Wie er springt! dachte Hoff; von sich auf mich und von mir auf sich! Wie er die Fäden legt! Und wie anständig er dabei bleibt!

»Der Mörder steht höher im Kurs«, erklärte Hertz lauter als eben noch und nahm Barrys Kopf zwischen die sanften Hände.

»Soll das für uns ein Trost sein?« fragte Hoff.

Hertz schüttelte den Kopf und schwieg. Er hatte wieder den verbitterten Mund. Es war ein paar Sekunden sehr still im Zimmer. Man hörte nur das kleine Schnauben der schlafenden Hunde.

»Warum ist die Zeit auch für mich günstig?« ermunterte Hoff den Fürsprecher. Hertz zog die Brauen zusammen und sah merkwürdig streng aus.

»Man wird Ihnen Motive und Sympathien für Ihr Tun in Massen zuschaufeln«, sprach er.

»Was nützt mir das?« fragte Hoff leise.

David Hertz nickte ihm zu, als kenne er selber diese Frage viel zu gut.

»Nichts! – Da Sie fragen und es nicht wissen, nützt es Ihnen nichts, Herr Hoff. – Sehen Sie, ich bin vorhin etwas von Ihrem Weg auf das Sentenziöse abgewichen, wie es leider meine Unart ist. Aber schon sind wir wieder dort, wo es sich gehört. – Lieber Herr, ich glaube, ich könnte jetzt Ihre ganze politische Basis erschüttern, einfach durch Ihr ›Was nützt mir das!‹ – Kurz: Sie leiden natürlich nicht aus einem Gefühl für den Staat, und Sie machen es sich nicht schwer, weil Sie auf Ihren Schultern die klassische Last der Staatsaktion und die übergroße Verantwortung gegen ein Volk oder doch gegen einen Volksteil spüren ...«

»Sondern?« fragte Hoff, vergaß zum erstenmal in diesem Zimmer den Hund auf dem Schoß und hakte die Finger ineinander. Hertz hob die Hand, zugleich besänftigend und vorbereitend.

»Nehmen wir den krassesten Fall an«, sprach er mit seinen sparsamen Lippen, »weil Sie einen Menschen umzubringen haben.«

Hoff löste die Haut des Halses von den einschneidenden Kragenecken und warf sehr mühsam hin: »Vier Jahre Krieg ...«

»Was soll das heißen!« unterbrach Hertz mit ungeahnter Schärfe und das Gesicht jähzornig verändert. »Gibt Ihnen das den Gewerbeschein auf Totschlag?«

»Auf Gehorsam, Herr Hertz.«

Hertz zog etwas den Kopf ein und strich mit dem Handrücken über Wange und Kinn, wie man es nach dem Rasieren tut. Jetzt wirkte es wie eine Geste der Resignation. Er schwieg eine Weile und sah entmutigt vor sich hin. Dann sagte er:

»Ach Gott, ich will nicht mehr klugsprechen. Mit der Dialektik bringt man den Nebenmenschen im besten Fall auf den schiefen Weg, aber nicht auf den geraden. – Und wer bin ich denn, daß ich etwas verhüten könnte ...«

»War ich schon so deutlich?« fragte Hoff etwas verwirrt.

»Es ist schon so, als zöge ich wie ein verwünschter Rutengänger ...« Hertz schwieg und hielt seinen abrutschenden Hund.

»Soll ich gehen?« fragte Hoff demütig.

»Wohin denn?« meinte der andere beinahe grob.

Hoff dachte dennoch in diesem Augenblick an die Zeit, die draußen lief, aber ohne die Erschütterung vom Abend, als das eigene Herz zum Räderwerk der infamen Stunden gehörte. Es war jetzt schon wie eine Auflösung der Zusammenhänge, jedenfalls wegen des magischen Bündnisses zwischen ihm und David. Er nannte im Geiste den Freund beim Vornamen. Er dachte an die Zeit allein durch die unwidersprochene Gewalt des Wortes Gehorsam, das er eben angewandt hatte, ohne es lange zu suchen. Er wollte auf die Uhr sehen, weil in diesem Zimmer das Zeitgefühl aufgehoben war und weil er nicht mehr wußte, wie lange er hier schon saß. Die Armbanduhr war an dem linken Handgelenk. Die Hündin Bia schlief mit dem Kopf auf der linken Hand, in den weißen Tunnel der Manschette hineinatmend. Hoff hatte zwischen ihrem Schlaf und der Kenntnis der Zeit zu wählen. Da er das Tier höher schätzte, störte er es nicht auf.

»Herr Hoff«, sprach Hertz vorsichtig in das Schweigen hinein, »ich berichtete Ihnen vorhin, daß ich zu Lebzeiten meiner Frau, eben während ihrer Davoser Zeit, hin und wieder an Selbstmord dachte und daß ich für solche Entscheidung nicht ungeeignet bin. Haben Sie nicht daran gedacht, mich oder sich zu fragen, warum ich es nicht nach ihrem Tod getan habe? – Ich hatte doch eigentlich Veranlassung und Gelegenheit genug gehabt.«

Will er mir jetzt zum Selbstmord raten? überlegte Hoff und blieb ganz ruhig dabei. Sonderbar genug ist es, daß ich selber es niemals bedachte, so viel und so weit ich gestern abend mit den Gedanken und mit den Gefühlen herumkreuzte, und daß ich sogar die Geschichte der Lilly Schmid mit ihrem Selbstmörderfreund (vielleicht hat sie es nur für mich erfunden) sofort vergaß, eben weil sie mich nichts anging. – Er habe nicht daran gedacht, entgegnete er ehrlich. – »Warum nicht?« – Hoff schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, Herr Hertz, Sie wollen die Entscheidung erzwingen. Also: ich halte Sie für unschuldig.«

»Warum fangen Sie jetzt zu lügen an?« wandte der andere traurig ein. »Das ist doch gar nicht nötig! Warum brauche ich denn Ihr Diktum zu erzwingen und noch ein falsches dazu? Und seit wann ist der Tod an Schuld oder Unschuld gebunden?«

»Auch ich habe noch nicht an Selbstmord gedacht«, sagte Hoff und senkte den Kopf.

»Das glaube ich Ihnen, Herr Hoff, gerade Ihnen. Das hängt mit Ihrer Disziplin zusammen. Ich aber bin bestenfalls geistig diszipliniert. Daß ich mich weiter leben ließ, hat einen ganz anderen Grund – und ich kann mich über ihn nicht beruhigen. Der Grund ist das Leben selber, – jawohl, dieses Leben, diese tolle, verblüffende, ewig ungehobelte Realität! Seitdem die Frau tot ist, hänge ich am Leben. Da sind weder Rache- noch Freiheitsgefühle im Spiel. Je mehr dann das Leben auf mich einschlug, desto enger umklammerte ich es. Es ist also der Eros im Spiel. Ich saß drei Monate in Untersuchungshaft, und die Hölle der Verhandlung dauerte acht Tage: ich wurde immer wilder auf das Leben, und diese Wildheit gab mir die Kraft zu der keineswegs durchschnittlichen Hartnäckigkeit der Inquisition gegenüber. Ich habe auch gesiegt. Dann schlug ich mich mit meinem Gewissen herum; aber es war wie ein Schaukampf vor einer ungeheuren Arena, und es steckte ein vermessener Ehrgeiz zu siegen dahinter. Keiner zwar wird mit dem anderen fertig – vielleicht will ich jetzt gar nicht mehr mit mir fertig werden: vor lauter Lebensunruhe ...«

Er will mir auch den Selbstmord fortnehmen! dachte Hoff, und über seinen Körper fuhr es wie kleines Fieber. Er wurde auch unbeherrschter und unterbrach: »Ich warte, Herr Hertz, ich warte auf die Verbindung – gerade auf diese Verbindung mit mir ... auf die Übertragung ...«

»O nein! O nein!« rief Hertz schon erregt, »ich bin kein Katechet und keine Seelenapotheke. Nehmen Sie von mir, was Sie brauchen, jetzt oder später; aber verlangen Sie nicht, daß ich es Ihnen eingebe!«

»Herr Hertz!« rief Hoff geschüttelt, »David Hertz! Ich bin nicht so neugierig auf den Ringkampf! Ich bin nicht so überzeugt von dem Remis! Ich bekam meinen Teil schon ab – in der Vorübung!«

»Und was den Kampf anlangt«, ging Hertz in die Parade, sehr lebhaft, »so gibt es einen Jiu-Jitsu-Griff des Gewissens, der die Knochen bricht, gehst du nicht zu Boden. Das ist die Rekapitulation der Tat – und hast du sie nicht einmal begangen! – und hast du sie doch begangen! – Da fällt der Körper über Bord, immer wieder – – und schließlich hast du sie mit dem Ruder auf den Kopf geschlagen, ob du es willst oder nicht ...«

»Ich nicht! Ich nicht!« rief Hoff außer sich, »ich habe zu schießen!«

»Und du weißt nachher nicht mehr«, beteuerte Hertz und ließ den Kopf gegen die Lehne fallen, »du weißt nicht mehr: hast du geschossen oder nicht geschossen, – geschlagen oder nicht geschlagen – – du sagst den Fragern Nein! und Nein! Und wenn du dich selber fragst, dann siehst du die Tat, ob du willst oder nicht ... Und du schreist dich an: das ist nicht wahr! Das war nicht! Das war nicht!«

»War es?« schrie Hoff ihn an.

»Ja«, sagte Hertz tief erschöpft und drückte die Augen zu.

Das Gespräch war so laut geworden, daß die Hunde aufwachten. Sie sahen sich an, spürten vielleicht das Abholde ihrer Träger und beschlossen, sie zu verlassen. Sie kannten sich gut und verstanden sich mit rätselhafter Feinheit. Barry reckte sich zuerst, scheinbar nur verschlafen und ohne Initiative, stieß dann mit der Schnauze gegen die Herrenhand, die unlieb neben ihm auf der Sessellehne lag, und sprang ohne weiteres vom Schoß. Bia beobachtete ihn mit steifen Ohren. Hoff fing heuchlerisch an, sie zu streicheln; aber die Hündin verließ ihn unter der Liebkosung. Die Tiere begrüßten sich still auf dem Boden und hüpften dann kurz hintereinander auf einen Sessel. Dort kauerten sie sich zusammen, ein jeder den Kopf auf dem Kreuz des anderen. Sie schliefen sofort ein, gleichsam mit Betonung für sich.

Trotz der Trennung der Tiere von den Menschen und trotz des letzten Dialoges war der Frieden des Zimmers nicht gestört worden. Es war jetzt sogar schon zweifelhaft, ob so laute und so gefährliche Worte gewechselt waren. Hertz lag auf seinem Sessel, als schliefe er. Hoff fühlte so etwas wie eine letzte Bekennerschuld gegen ihn. Er hatte noch zu sagen, daß er morgen früh das Haupt der revolutionären Regierung abzuschießen habe, einen behäbigen Mann mit einem Gustav-Adolf-Kopf, den Hochverräter – sonst wüßte er von ihm persönlich nicht viel. – Oder hatte er es schon gesagt? – Habe ich nicht schon alles gesagt – und er mir?

Welche schöne Ruhe – und welche Duldsamkeit des Lebens! –

»Herr Hertz!« sagte Hoff sehr leise, jedenfalls nach einer langen Zeit, »Herr Hertz! Wenn Sie jetzt die Polizei benachrichtigen – jetzt noch! jetzt noch! – kann noch alles anders werden ...«

Der Mann schläft tatsächlich. Er kann also doch schlafen mitsamt seiner Last. Oder vielleicht schläft er heute, weil er mir gebeichtet hat – oder weil er mir geholfen hat. Er hat schon recht: das ist ein und dasselbe. Er hat seine Tat getan und ich werde meine Tat tun. – Vielleicht gibt es dann ein Remis, wie bei ihm. Vielleicht hält mich das Leben. Vielleicht komme ich morgen ... nein: heute wieder hierher. Ich fühle mich wohl hier. Ich bin hier nicht allein, sondern zu zweit. – Auf seinem Schreibtisch steht das Bild seiner Frau, und an der Wand hängt ein anderes. Also auch das kann man. – Die Frau ist hübsch, sie hat ein klein wenig Ähnlichkeit mit ihm: Stirn, Augen, Mund ... Aber sie ist gegen uns, auch als Bild noch, die Hunde übrigens auch. Wir beide sind augenblicklich recht allein; aber es ist auszuhalten, ehrlich gesagt. – Ich könnte jetzt doch nach der Uhr sehen, ich brauche ja nur die Hand zu heben: aber wozu denn? wozu denn? Ich weiß, ich habe noch zwei Stunden Zeit, mindestens noch zwei Stunden und David wird mich wecken ...


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