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Menschenfischzug

Er aber sprach zu ihnen: Werfet das Netz zur Rechten des Schiffes, so werdet ihr finden. Da warfen sie und konnten's nicht mehr ziehen vor der Menge der Fische.

Ev. S. Joh. 21,6.

 

Hoff verspürte eine lähmende Müdigkeit. Er schleppte sich zum nächsten Standplatz, nahm eine Droschke und schlief während der Fahrt ein. Zu Hause legte er sich ins Bett und sagte der Wirtin durch die Tür, daß er krank sei und nicht gestört werden wolle, da er durch die Bettruhe seine berufliche Form bis abends zurückzugewinnen hoffe. Dann schlief er ein, mit einem merkwürdig wohligen Anspruch auf den Schlaf, ohne einen abirrenden Gedanken, während das rohe Haus durch seinen Tag lärmte. Nur die Alte war noch leiser als sonst. Sie liebte Krankheit wie eine etwas gemiedene und scheue Heilige, etwa wie die Santa Eufemia, der weder Rad noch Schwert noch Stein etwas anhaben konnte, von der man trotzdem wenig Aufhebens machte und zu der die Greisin ein besonders enges Verhältnis hatte, als innig und gewissenhaft Leidende zur vorbildlichen Schmerzensfrau. Sie weckte Herrn Hoff erst am Abend, glaubte aber, daß er liegenbleiben und sich mit dem Kamillentee zufriedengeben würde, den sie für ihn gebraut hatte; denn Krankheit war für sie niemals eine kurzweilige Freundin. Doch nach wenigen ratlosen und beinahe wirren Blicken beim Aufwachen behauptete der Herr mit etwas fremder Stimme, sich wieder in Ordnung zu finden und ins Geschäft gehen zu können. Das tat der Alten leid; denn der Herr war einer sanften Krankheit würdig. Er war ein vornehmer, ziemlich freundlicher, pünktlich zahlender Herr ohne Frauenzimmer.

Hoffs Behauptung indessen war etwas voreilig und ohne rechtes Bewußtsein geäußert. Er tauchte aus dem bleischweren Achtstundenschlaf nicht so leicht auf, wie sein halber Wille es forderte. Er blieb im Dämmer hängen, kaum daß die Witwe das Zimmer wieder verlassen hatte. Er fiel nicht sehr tief in den Schlaf zurück, keinesfalls in die schöne Besinnungslosigkeit, nach der es ihn verlangte. Er trat nur ein paar Stufen aus dem Leben. Dort fand er noch nicht den sanften schwarzen Samt des Nichts, sondern anderes Leben. Er sah außer ein paar Fetzen von Menschen und Gedanken in boshafter Vollständigkeit jenen Herrn Hoffnung als Wahnsinnigen. Es war eine furchtbar hastige und ausdrückliche Szene, die mit der Begründung kargte. Hoffnung hatte die irre und grelle Heiterkeit der Gesichter von dem Schüttler geliehen, den lustigen Körper aber vom stepptanzenden professeur de danse, die Maschinenpistole wiederum, mit der er sich unaufhörlich und mit schrecklicher, wenn auch sofort wieder aufgehobener Wirkung in den Hinterkopf schoß, aus dem Koffer unter dem Bett, wie der Träumer Hoff durchaus wußte. Als schließlich von allen Seiten Spiegel gegen den wilden Tänzer anrückten, in denen statt des genauen Spiegelbildes der Zuschauer Hoff an gewissen Unterschieden den Tänzer Umberto erkannte und entsetzt sah, wie er wacker und vervielfacht mit vielen Pistolen des immer gleichen Mausermodells auf den Mittelpunkt Hoffnung knallte, gelang es dem Träumer, mit einem Schrei aufzuwachen, kurz bevor Herr Hoffnung, von den in Unzahl gespiegelten Professeurs eingekesselt und zusammengeschossen, durchsiebt und unsterblich die eigene Waffe gegen die Feinde endlich gebrauchte.

Jetzt blieb Hoff wach, weil der Schlaf nach dieser letzten Erfahrung nicht mehr begehrenswert war. Er stand sofort auf, wartete, bis das Wasser eiskalt aus der Leitung kam, wusch sich und fühlte sich in guter Verfassung. Er zog das steife Oberhemd an, den Kragen mit den Ecken, nahm eine Zigarette, bevor er an die Bindung des schwarzen Schlipses ging, band ihn, vorbildlich wie immer, zum breitflügligen Schmetterling und vollendete den Anzug in der erprobten Reihenfolge. Er war mit dem gewohnten Gang der Dinge zufrieden, stellte seine Ruhe fest, seine Disziplin, seinen Willen, der die Erschütterung des Körpers offenbar überwunden hatte. Er nahm die gedankliche Arbeit an seiner Aufgabe wieder auf, prüfte seine Widerstandskraft an dem Versuch, den wüsten Halbtraum zu rekonstruieren, vermochte ihn beiseite zu schieben und aus den Wirren der Vormittagsstunden das Resultat herauszunehmen: den Entschluß, die Aktion für morgen anzusetzen. Er formulierte wörtlich: »die Aktion für morgen anzusetzen«. Dieser Ausdruck war ohne weiteres da; es erübrigte sich, einen anderen zu suchen. Hoff nahm es als den Beweis auch einer geistigen Entscheidung. Er dürfe seine Eignung um so ehrlicher bejahen, als die Widerstände und Zerreißproben beträchtlich waren. Sieh, Hoff, du hast jetzt auch wieder das Wort von der nationalen Notwendigkeit auf der Zunge. Dieses Wort war seit der Führersitzung verschollen.

Er prüfte noch einmal die Gründe für den Entschluß und billigte ihn. Er unterschrieb gleichsam die Order als sein eigener Kommandeur. Jetzt war nichts mehr daran zu ändern, nichts mehr. Er war Soldat: das blieb die beste Form. Die Kräfte, die ihm dieser Beruf übrigließ, hatte er zur Bekämpfung innerer Widerstände zu verwenden. Er gab also innere Widerstände zu, ihre Berechtigung und ihre Kraft; aber er durchschnitt ihre Verbindung mit der Tat. Und da sie möglicherweise wieder wachsen kann wie eine unheimliche Liane, muß die Tat die schnellere sein. Die Tat war das Äußere, der Kampf das Innere. Wenn es geschehen war, schon morgen also, fiel alles in ihn hinein, sogar die Tat. Dann war er allein, in sich Schlacht oder Ruhe: jedenfalls Tod und Teufel. Dann war er allein, ohne Kommando. Das wollte er.

Das Hirn funktionierte. Hoff liebte seine Art Logik.

 

Er verspürte Hunger und geriet darüber in beinahe gute Stimmung. Er war, ohne es recht zu beachten, über normale Äußerungen des Lebens einfältig froh. Er kam sehr früh in die Imperial-Bar, viel zu früh. Selbst der Zwerg Paula war noch nicht auf seinem Posten. Die zwei Herren, die das Lokal betraten, während Hoff sein Taxi entlohnte, waren Kellner. Leutnant Huber war natürlich schon da; aber er amtierte noch als Aufsichtsbeamter, nicht als Pförtner. Er stand auf dem leeren Musikpodium wie ein Kapellmeister und sah mit bösem Gesicht auf die Kellner herab, die die Tische deckten. Als er den Professeur bemerkte, stieß er die Hacken zusammen, daß der Holzboden unter ihm hohl dröhnte, und legte die Rechte an den Admiralshut.

Hoff freute sich über die Geschäftigkeit ringsum, die sich in nichts von gewohnter Übung unterschied und sich morgen wieder in der gleichen Form abspielen würde. Es gab für den Ablauf dieses vielköpfigen und unpersönlichen Betriebes keine Gefahr durch das einzelne Schicksal. Selbst der Tod – wenn er nicht gerade epidemisch auftrat – konnte gegen diese unsentimentale Organisation des Vergnügens nicht viel ausrichten: der Ersatz trat leicht und geräuschlos in die Lücke. Zu ersetzen waren alle. Keiner war einzigartig und keiner hielt sich dafür. Verschwände der echte Graf, so gelänge es dem ersten besten falschen, das bißchen geschäftsnotwendige Feudalität zu erhalten, saß nur der Frack einigermaßen. Und träte selbst Mister Salmon ab, so ändert sich nichts, wenn er nur sein Geld daließe. Der Wechsel bei den Kellnern und Tanzmädchen zumal war so stetig, daß er nicht einmal mehr in Erscheinung trat: es gab immer Kellner und immer Mädchen; es kam ja nicht auf das Gesicht an. Es kam gar nicht auf die Gründe an, die den Mann oder die Frau von dieser Bildfläche trieben. Man konnte sich Tragödien der Täglichkeit in allen Graden vorstellen: sie galten hier nichts; sie hatten niemals die Kraft, diese unbarmherzige Anonymität zu überwinden. – Wo ist eigentlich der hübsche Kellner Joseph? – Liebe Dame, wir haben vier Kellner Joseph und alle vier sind hübsch, wenn man will; und ist Ihr Joseph nicht darunter, dann ist er jetzt vielleicht im Café Fürstenhof oder im Hotel Ritz, Barcelona, oder Alkoholschieber in U. S. A. oder schon längst tot. – Wo ist eigentlich die schwarze Elli mit den schönen Beinen? – Lieber Herr, es gibt hier so viele und es gab hier so viele ...

Die Gedanken glitten in Variationen über das Thema, das ihm wohl tat. Hoff unterhielt sich gut, während er seinen kalten Aufschnitt verzehrte. Die erfreulich rücksichtslose Gemeinsamkeit hier war vollkommener noch als das Soldatentum; denn ihr fehlte ja das warme Wunder der Kameradschaft, die ihm jetzt mit ihrer Verpflichtung zur Aufgeschlossenheit und Mitteilsamkeit eine Qual wäre. Hier konnte man sich ducken – wie vorhin in den guten Schlaf und mit seinem schweren Gewissen verschwinden. Das Gewissen interessierte keinen Barbetrieb.

Hoff schob plötzlich den Teller fort und starrte in die Luft. Vielleicht war dieses kalte Band um ihn und um alle hier so stark, daß es ihn auch nach der Tat noch zusammenhalten konnte. – Der Gedanke ist gut, Hoff. Warum ins Leere hineinlaufen, wenn man hier eine unmütterliche Heimat hat, einen Schlupfwinkel ohne Neugierde, ohne Sinn und Organ für persönliche Verzweiflung? Der Gedanke ist möglicherweise auch taktisch klug – und es ist wohl zu allem noch ein mutiger, ein soldatischer Gedanke ...

Von den beiden Chefs war Salmon immer der erste. Der Graf, wie es sich für ihn gehörte, verachtete die Uhr und ihre mechanische Anmaßung auf das Leben: er kam, wann es ihm paßte. Salmon dagegen trieb mit der Pünktlichkeit einen gewissen Sport: er setzte sich für seinen Tag kursbuchmäßige Zeiten fest und hielt sie ein. Leutnant Huber wußte, daß der Chef abends acht Uhr fünfundzwanzig erschien, und richtete danach die vorbereitende Arbeit. Durch ihn kannte das Personal die Bedeutung dieses Augenblicks. Jeder Kellner sah zwischen acht Uhr zwanzig und fünfundzwanzig auf die Uhr.

Hoff wurde durch die allgemeine Bewegung und die erhöhte Geschäftigkeit, die ihr folgte, an Herrn Salmons Spleen erinnert, den man ihm schon am ersten Abend seiner Tätigkeit in der Imperial-Bar entdeckte. Er war kaum jemals zu so früher Stunde im Geschäft gewesen und hatte den minutiösen Auftritt des Chefs noch nicht erlebt. Da er sich heute über jede Pünktlichkeit und jede gesicherte Einrichtung des Täglichen freuen wollte, über jede Vorhersehbarkeit der normalen Stunde, über jede feste Zeitform als Gegensatz zu den Explosionen der geladenen und heimtückischen Vorsehung, geriet er in eine gewisse Spannung, ob ihm Herr Salmon diese kleine Wohltat der Gewohnheit zuteil werden ließe. Er zählte sich im Nu eine Handvoll beiläufiger Gründe auf, kleiner Zwischenläufe und harmloser Schwenkungen des Zufalls, die den Chef um seine Kurszeit bringen konnten und ihn, Hoff, um diese bescheidene Stärkung durch die Ordentlichkeit. Wie er – im Innern doch schon tief mit dem groben Eingriff des Schicksals verbunden – am deutlichsten eine lappige und verfänglich unansehnliche Bananenschale bemerkte, die Herrn Salmon zu Fall bringen konnte, eine Sehnenzerrung oder gar einen Knochenbruch verursachend – wie sein getriebenes Hirn schon einen Straßenunfall wiedersah, dessen Zeuge er vor einem Jahr gewesen war (eine Frau glitt aus, fiel mit dem Hinterkopf auf einen eisernen Fußabstreifer und wurde schwer verletzt): erschien Herr Salmon mit der fälligen Minute.

Hoff stand vor Freude auf und lachte ihm zu. Salmon wunderte sich sowohl über diesen Empfang als auch über die ungewohnt und unnötig frühe Anwesenheit des Tänzers. Als Geschäftsmann schätzte er keine freiwilligen und unverlangten Dienstleistungen, weil sie zumeist doch Geld kosteten. Als privater Mensch war er bekanntlich neugierig. Er ging geradeswegs auf Hoff zu und sagte: »Nanu, Sir ...«

Hoff setzte sich verlegen. Es fiel ihm erst jetzt ein, daß er, in diesem Raum sicherlich der einzige, der sich mit dem Lob der herkömmlichen und geläufigen Geschäftsordnung beschäftigte, durch seine Person doch offensichtlich gegen die Gewohnheit verstieß; denn er war um acht Uhr, statt um halbzehn gekommen. Vielleicht war es für ihn auch im Kleinsten nicht mehr möglich, von der furchtbaren und einsamen Außenseite des Lebens loszukommen. Ein leichter Frost trommelte ganz kurz gegen sein Kinn. Er blinzelte den Chef an und lächelte zur Entschuldigung.

»Nanu«, sagte Herr Salmon, »was ist denn?«

»Guten abend – nichts ist.«

»Krank?«

»Höchstens ein bißchen Grippe.«

»Dann bleiben Sie doch in Gottes Namen zu Hause.«

»Im Gegenteil.«

»Kognak?«

»Warum nicht.«

Herr Salmon ließ Kognak bringen. Hoff erklärte auf gut Glück sein frühes Kommen. Salmon sah an ihm vorbei, hörte nicht zu und formte an einer intimeren Frage, die Augen zusammenkneifend. Hoff kannte das und verstummte ablehnend. Salmon sah ihn an: er, Hoff, sei ein komischer Mensch – allerhand dahinter, aber doch sympathisch; schade, daß er weggehen wolle, ob er denn weggehen müsse? Salmon betonte das Müssen. – Er verstünde nicht recht, erwiderte Hoff zurückhaltend. – Na, zwinkerte Salmon, man könne doch in dieser Zeit selbst als Gentleman etwas auf dem Kerbholz haben, nicht wahr? – unheimlich leicht könnte man das ... – Unsinn! sagte Hoff grob, Herr Salmon möge nicht von sich auf andere schließen. – Herr Salmon nahm es nicht übel und lächelte gutmütig vor sich hin. Hoff spürte mit einemmal den Wunsch, ihm etwas Freundliches zu sagen. Er hob das Gläschen mit einer hübschen Bewegung:

»Nichts für ungut, Herr Salmon, und auf Ihr Wohl! Wir verstanden uns doch eigentlich recht gut.«

»Ja«, sagte Salmon, trank sein Glas aus und stand auf, »ja, ich schließe immer von mir auf andere, Hoff. Das ist bei uns beiden gar nicht so schlimm: ich habe Sie nämlich gern.«

Er winkte englisch mit der Hand und ging kontrollierend und herrisch durch das Lokal, wie er es um diese Stunde zu tun pflegte.

Hoff sah ihm nach. Er hatte ein wohliges Gefühl in der Brust. Der Kognak tat ihm gut und besser noch tat ihm dieser kleine stämmige Jude mit dem gewölbten Boxernacken. – Wie er gerade heute, gerade heute aus einem groben Dialog zu diesem schönen letzten Satz kommt! staunte Hoff. Aber die Zeit ist ja nicht einmal so wichtig wie der Satz. Der Satz stellt ohne Umstände und Verlegenheit ein freundliches Gefühl fest. Der Mann hat mich gern, mich, Hoff. Was ist daran so wichtig und so wohltuend? – Er hat mich mit meiner verlogenen Grippe und mit meinen ehrlichen Angstaugen gern, er erklärt seine Freundschaft für einen Menschen, der verdächtig ist von innen heraus und der offensichtlich und fragwürdig an der eigenen Last zu schleppen hat. – Das hilft? – – Das hilft! – Dir liegt also an der Freundschaft der Menschen, Hoff? Denke doch ruhig an den Vormittag heute, an dem du dich schlecht aufführtest und es dir schlecht ging: dir liegt also an Freundschaft? Du willst nicht antworten – gut. Drehen wir den Spieß um und lassen wir Herrn Salmon gestehen: ich kann Sie nämlich nicht leiden, Hoff. – Die Folge? Du würdest mit dir selber wieder toben, Hoff, du würdest einen Rückfall haben, du würdest dich wie eine ekelhafte Krankheit mit jedem Atemzug stärker riechen. – Ja und ja! und jetzt bin ich ganz froh und erwärmt durch diese eine Zusage! und auf jeden Menschen ringsum kommt es an! und um jeden will ich, muß ich werben ...

Von den Musikern war der Schlagzeugspieler stets der erste, so wie er nach dem durchtrommelten Nachtdienst immer der letzte war, der fortging. Das hing mit seiner absonderlichen Liebe zum Instrument zusammen, das er nicht mitnehmen konnte, und zum Lärm, den er zu erzeugen und rhythmisch zu verwalten hatte – lieber Gott, dachte Hoff und erwiderte freundlich den Gruß des dünnen und durchfrorenen Menschen, es hängt wohl auch mit dem geheizten Raum und dem freien Abendbrot zusammen. Es war anzunehmen, daß dieses gute und allen Lebensmittelmarken spottende Essen, das Herr Salmon anständigerweise auch seinen Angestellten zugestand, für den Schlagzeugspieler, unbemittelten und etwas verrannten Kandidaten der Philosophie, die einzige Mahlzeit des Tages bedeutete und daß er einen kräftigen Hunger mitbrachte. Aber er stürzte sich nicht auf die Speisen, die ein gutmütiger Kellner stets schon bereit hielt, sondern zuerst auf sein Instrument. Er baute an die stationäre Pauke, die einsam und humorig wie ein Vollmond auf dem Podium hockte, die komplizierte Apparatur der Geräusche: Handtrommeln, Schlagteller, Hupe, Holzrassel und die selbsterfundene nebelhornartige Heulpfeife. Über sein verzehrtes Gesicht ging während der Arbeit eine zugleich verschmitzte und kindliche und abgekehrte Freude auf. Als er fertig war, leistete er sich einen kleinen Donner, ein Wirbelchen, eine winzig freche Folge von Gehup, Geheul, Geknatter und schrillem Messingschlag – rasch, virtuos, in Andeutungen der verfügbaren Gewalten, unaufdringlich und durchaus für sich, mit inwendigem Lächeln.

Hoff hatte ihn beobachtet. Der Schlagzeugspieler verließ das Podium und setzte sich an sein bescheidenes Tischchen in unmittelbarer Nähe der Stufen zum Orchester. Er aß, den langen Hals vorstreckend und ohne Interesse für die Welt. Hoff wartete, bis man dem schnellen Esser den Nachtisch brachte; dann ging er zu ihm. Der Musiker sah gleichgültig auf, kauend. Wie er den Tänzer bemerkte, nickte er freundlich. Hoff hatte das Gespräch, das er herbeiführen wollte, von der Art der Begrüßung abhängig gemacht. Lächelte der Schlagmann nicht, so wäre er mit irgendeinem kleinen Wort weitergegangen. – Der Musiker nickte freundlich mit dem Gesicht des Menschen, der den Begrüßten gern sieht. Hoff sagte dies und das, die Backen leicht gerötet, und bot dem andern eine Zigarette an. Der bediente sich und bat ihn, sich zu ihm zu setzen; man hätte ja noch zehn Minuten Zeit. Hoff setzte sich sofort.

»Kognak, Herr Herrgott? Das gibt Schlagkraft.«

»Mit Freuden«, grinste Herrgott, der nicht so hieß, sondern von seinen Kollegen so genannt wurde, weil er zuweilen während gewalttätigen Spiels in der Verzückung über das eigene Donnern den lieben Gott in dieser Form anrief.

»Wissen Sie schon, Herrgott?« fragte Hoff und trank ihm zu.

»Was?«

»Daß ich gekündigt habe.«

»Exzellenz Charles kolportierte es. – Ist das wirklich wahr?«

»Täte es Ihnen leid?«

»Sehr.«

»Warum?«

»Warum ... – Ich habe vor Zuhältern, vor allem vor gutangezogenen, eine geradezu körperliche Abneigung. Das ist jedenfalls dumm und behindert mich sogar beim Pauken. Nun, bei Ihnen fällt das weg.«

Hoff lachte.

»Also nur, weil ich kein Louis bin? Bißchen wenig, Herrgott.«

»Anspruchsvoll heute?«

»Ja.«

Der Trommler sah ihn an.

»Ich kenne das«, sagte er. »Es gibt Augenblicke, wo man nicht genug bestätigt werden kann.«

»Also ...«

»Ich tue es ja – sogar von Herzen.«

»Was bestätigen Sie denn, Herrgott?«

»Die Sauberkeit – immer nur die Sauberkeit.«

»Danke, danke ...« sagte Hoff leise und riß mit den Zähnen an der Unterlippe.

Herrgott sah fort, um den andern nicht zu bedrängen. Das Podium füllte sich allmählich mit den Musikern, die sich aus dem Hintergrund ihre Klappstühlchen holten und die Instrumente auspackten. Der Saxophonist, des Schlagzeugspielers Freund, Exstudent, tagsüber in einem Wohlfahrtsamt, ein Fünfundzwanzigjähriger von unzerbrechlicher Jungenhaftigkeit, begrüßte die beiden am Tisch mit einer quirilierenden Paraphrase über das Thema des ehemaligen kaiserlichen Hupensignals. Hoff nickte zu dem runden Gesicht hinauf, das blasend eine besondere Form der Lustigkeit annahm, eine aufschwellende und die Augen fast schließende Lachbereitschaft, die aber eben nicht im Gelächter explodierte, sondern sich in die grellen oder weichen Holztöne des Silberhorns umsetzte.

Herrgott stand auf: der Kapellmeister, zugleich die erste Geige, ein ungemein begabter, leider Kokain schnupfender Balte, trat lahm und leise in Erscheinung, gefolgt von dem kleinen fetten Mann am Flügel, der wie ein Börsenjobber aussah und auch der Finanzminister des Orchesters war. – Mir gefallen sie alle, dachte Hoff, wenn mir auch natürlich der Herrgott der liebste ist.

Herrgott war schon auf der ersten Podiumstufe und kam zurück.

»Herr Hoff«, fragte er, »was war das eigentlich gestern abend mit der Damenwahl und dem Hoffnung?«

»Ein Witz«, antwortete Hoff und hatte eine faltige Stirn.

»Na, na.«

»Ein mißlungener Witz.«

Herrgott ging aufs Podium.

»Ob er heute kommt?« fragte Hoff hinter ihm her. Herrgott hörte es nicht, Oder er will es nicht mehr hören, dachte Hoff. Die beiden Banjos zirpten lieblich auf, der Kontrabaß sägte eine tiefdunkle Probe, das Saxophon lachte eine rasende Passage, Herrgott wirbelte bereits leise, kompliziert und selbstvergessen, die Luft war froh und verspielt. Hoff nahm es aufmerksam und dankbar hin. Wie alles gnädig sei zu ihm! Und kommt er heute abend, dann entschuldige ich mich auch bei ihm. –

Hoff war ermutigt. Er stand auf und schlenderte am Podium vorbei. Der baltische Maestro puderte heimlich zwischen den umgelegten Kragenecken den Halsausschnitt, den die Geige immer wieder wund rieb: und schon saß sie ihm wieder wie ein liebes und gefährliches Tier am Hals. Der Geiger stimmte sein Instrument, mit einem müden Blick zum Mann am Flügel, der leise und beharrlich A anschlug. Der Geiger riß den Kopf zurück, als trenne er sich endgültig von den Schleichgiften außerhalb des Podiums – und selbst sein schlapper Frack straffte sich: er klopfte mit dem Bogen leicht auf den Rücken der Geige und hatte eine beinahe gefährliche Energie in den Augen. Hoff, dem während dieser Sekunden der gewisse Vorteil einer kleinen Programmänderung in den Sinn kam, konnte nicht mehr eingreifen. Es war auch vielleicht besser, den Abend in keiner Weise zu beeinflussen. Eine leichte, helle und geschwinde Musik setzte ein. Sie wirkte, da noch kein Gast im Raum war, wie eine übermütige und überschüssige Kraftäußerung des lustigen Lebens und ihrer Aufspieler.

Hoff schlenderte in die Tanzmanege, die Hände in den Hosentaschen und die vertraute Melodie mitpfeifend. Er betastete mit der Fußspitze den Boden. Es sah aus, als prüfte er eine Eisdecke auf ihre Tragfähigkeit. Er stellte mit einem raschen Blick fest, daß der Schlagzeugmann über sein spielerisch bedientes Instrument hinweg ihn beobachtete, und ging an seinen Tisch zurück, pfeifend, den Tanz in den Schultern.

 

Lilly Schmid erschien wie immer um neun Uhr zwanzig. Sie war ein pünktliches und nicht nachtragendes Mädchen. An dem kleinen und etwas verlegenen Blick, den sie während ihres Ganges zur Garderobe dem Partner Hoff zuschickte, erkannte er sofort, daß der guten Lilly ihr etwas jähzorniger Abschied von gestern abend leid tat. Er brauchte auch ihre Freundlichkeit. Er fing sie damit ab, kaum daß sie in ihrem flittrigen, blinkenden, beliebig sich aufspaltenden Kleid Nummer eins (sie zeigte Wochentags vier, Sonnabends und Sonntags fünf verschiedene Kostümierungen) wieder auftauchte. Sie war sofort hilflos, wie immer gegen Erscheinungen ungewohnter Art. Ihre Härte, Glätte und Schlagfertigkeit war aus einer Lebenserfahrung entstanden, die ziemlich einseitig war: Kampf gegen den Hunger, gegen die Männer, die immer das eine von ihr wollten, gegen gerissene Unternehmer und feindselige Kolleginnen. Das war die Front, gegen die sie Übung besaß und der das Wesen der Freundlichkeit durchaus fehlte. Ihr Leben, gegen das sie gewiß nicht zeterte, kam ohne das Gutmütige aus; und daß sie selber davon besaß, verwirrte sie. Zumal verwirrte sie dieser Hoff, der oft und auch jetzt wieder das Unbeholfene unter ihrer Geschicklichkeit hervorholte – und man weiß nie, zu welchem Zweck. Man weiß in dem Augenblick, wo er einem zulächelt, nicht einmal recht, was Schlimmes denn gestern nacht geschehen sei, daß man ohne Gutenacht und mit krampfigem Kinn davongelaufen sei. Man ist doch immer die dumme Gans und nichts als ein ungebildetes und unartiges Barmädchen – und dieser Mann ist ein Herr. Was ist diese Zeit ungerecht gegen Herren!

Sie reichte Herrn Hoff die Hand und war schüchtern. Er sagte ihr einige Liebenswürdigkeiten, die ihr schon deshalb gefielen, weil sie nicht auf das Barmädchen zugeschnitten waren, sondern jeder hübschen Frau hätten gesagt werden können – selbst jenen geliebten, gehaßten, beneideten Göttinnen, die hin und wieder hier zu sehen waren, unverkennbar zwischen den Imitationen, nicht anrührbar und nicht zu erreichen in der merkwürdigen Gloriole ihrer Geborgenheit. Lilly sah ihm in die Augen, die ihr noch niemals heimlich waren; sie dachte noch: er spricht zu mir wie zu einer feinen Dame und er weiß, daß ich, die Ly, eine bessere Nutte bin – und das Besondere ist, man merkt nicht, man merkt ganz gewiß nicht, daß er es weiß. – Sie sah ihn an; sie hatte Augen zu sehen, das gehörte zu ihrer Praxis und zu ihren Gaben. Sie sah eine besondere, vibrierende und bekämpfte Abwesenheit in seinen Augen, selbst in den vielen und eigentlich sanftmütig besorgten Fältchen unter den Augen, selbst auf der Stirn. Sie vergaß sofort die Gedanken, die sie eben hatte und die sie selber betrafen. Sie dachte nur noch: was hat der Mann? Da stimmt etwas nicht!

Er schwieg gestört und sie betrachtete ihre überblanken Fingernägel. Er bewunderte für sich ihren prüfenden Blick, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und über die Augen, als könne er ihre Verräterei wie eine Staubschicht wegwischen, und fragte lächelnd: – »Na, Lieschen Schmid?« Sie sah auf. – »Na, Lieschen Schmid, warum so nachdenklich?«

Sie schüttelte nur den Kopf und nahm eine Zigarette aus seiner Schachtel. Plötzlich fragte sie, ob er, Hoff, eigentlich eine Freundin habe. Er hob überrascht das Gesicht: warum sie frage? – Es war in der Tat das erstemal, daß sie eine Neugierde dieser Art zeigte, und der Augenblick für diese Frage schien ihm merkwürdig gewählt. – »Warum?« wiederholte sie nachdenklich; dann sagte sie statt einer Antwort:

»Sie küssen ihr sicherlich die Hand, wenn Sie von ihr weggehen.«

Er lachte leise, nahm ihre Hand, die etwas knochig war und für die angewandte Pflege nicht recht paßte, und küßte sie. Sie zog sie zurück, wurde rot und sah sich um. Er dachte seit etlicher Zeit das erstemal wieder an das Fräulein Margarete Stern, eine junge Dame mit unverblümten Ansprüchen des Körpers, die er, als Tanzlehrer eines Nordseebad-Hotels, im vorigen Sommer kennengelernt hatte und der es seitdem Spaß machte, ihn hin und wieder in der alten Limousine ihres Vaters, eines angesehenen Justizrates, in irgendein ländliches Gasthaus der Umgebung zu fahren und sich dort für die Nacht als seine Frau auszugeben. Das hatte auch ihm gefallen, zumal sie hübsch und mitsamt ihrer etwas gewaltsamen Exzentrik kurzweilig war; aber sie war auch mitunter von einer fatalen Gescheitheit und bekundete dreist politische Neigungen, die in offensichtlichem Gegensatz zu ihrer sozialen Lage, zu ihrem Herkommen und zu der Religion ihres Vaters standen, dafür aber sich dem radikalen Geheimnis des Liebhabers Hoff bedenklich näherten. Diese politischen Ausfälle in die eigene wohlbehütete Richtung und dann ihr Blick manchmal und ihre klug hantierte Neugier waren für ihn die Veranlassung, auf das hübsche Abenteuer mit ihrem jungen und sicheren Körper zu verzichten. Es ist ein alter Satz für Konquistadoren aller Art, daß man die Frau als eine Quelle der Gefahr zu fürchten habe. Hoff glaubte, ein überaus vernünftiger Unternehmer zu sein. Schon als er das Aktionskomitee konstituierte, sorgte er für den eigenen freien Rücken und schaffte das Fräulein Stern ab. Es war bei der Dame denkbar einfach, es genügte ein Telefongespräch, das weder der sportlich forschen Aufrichtigkeit noch des etwas fischblütigen Humors entbehrte.

Daß so viele von ihnen einen guten Blick für mich haben! dachte er jetzt und betrachtete die Lilly Schmid. Er sagte freundlich:

»Übrigens habe ich keine Freundin, Lieschen.« –

Über die Tanzmanege kam das rote Licht, und die Kapelle spielte einen kleinen Tusch, den Herrgotts Schlagzeug kunstvoll verbrämte. Das waren die Zeichen für das Auftreten des Tanzpaares Umberto und Ly. Beide standen auf. Lilly zeigte ein ernstes und entschlossenes Gesicht, ähnlich dem eines Läufers, der sich an den Start begab und durch das Sperrfeuer der Photographen zu gehen hatte. Hier allerdings waren es nicht Kameraleute, sondern nur zuschauende Männer mit abtaxierenden Augen – zu dieser frühen Zeit erst wenige. Lilly besaß eine einsichtige Technik: das [Gehen] unter den Blicken war etwas anderes als das Tanzen. Sie ging ernst und beinahe abweisend, und sie tanzte mit einem Lächeln von einfältigster Lockung. Der Übergang war äußerst plötzlich und geschah, sowie sie im Licht stand: es war, als brächte nicht sie, sondern der Scheinwerfer ihr Lächeln auf. Hoff belustigte sich immer wieder über diese Konfektion der Gefälligkeit – und so sah es auch immer aus: es lächelte die Ly wie einst die Ballerinen; und der Umberto, als verkneife er sich, es ihr zu sagen.

Zu tanzen war eine Valse Boston, die der baltische Primgeiger besonders liebte und mit äußerst russischen Dehnungen des Gefühls spielte. Herrgott dagegen haßte sie, weil er während des ganzen Tanzes nichts zu tun hatte und weil der weiche und kompromißliche Vorkriegsrhythmus nicht in seine Donnerwelt paßte. Er, der Philosophiekandidat, wollte einmal mit einer Arbeit über das »Phänomen des Erlebens« promovieren, er hatte sie auch begonnen, und es wäre eine gute Arbeit geworden und eine harte Nuß für die Filigrantechniker an den Begriffen, Einschachtler und Zöllner des Geistes, die noch im vorigen Jahrhundert klug wurden und seine Generation im Kriegsmörser zerstampften. Aber dann kam die Revolution, der Hunger und die Zerstörungswut, die sein disziplinierter und aufbauender Geist nicht mitmachen konnte – und er war zum nächtlichen Schlagzeug abgeschwenkt, den verhärmten Tag mit kleinen Reporterdiensten füllend. Weiß Gott, wann er wieder zu dem Werk zurückkehren konnte und ob sein Leben nicht ein sehr kleines Exempel auf das viel zu große Thema des Erlebens bleiben würde.

Immer bei dieser verwaschenen Valse Boston kamen die bitteren Gedanken. Herrgott hockte untätig hinter seinem rosa erleuchteten Paukenvollmond und betrachtete das Tanzpaar. – Dieser Exoffizier, sicherlich anders als die meisten ausgezogenen Uniformen, die er kannte, war wieder einer, den das Zeitschicksal auf besondere Art zum Narren hielt – und dies ist ein undurchsichtiger und abgründiger Außenseiter, aber nicht ohne Anmut. Da ist die körperliche Anmut, die dabei männlich bleibt – und schon das ist selten bei diesen fragwürdigen Ausstellern des bewegten Körpers, von anderen Eigentümlichkeiten solchen Berufs ganz abgesehen. Der Herr Umberto tanzte erfreulich und hielt sich selbst gegen den weichlichen Boston mit straffem Anstand. Es war hübsch zu sehen, wie er aus den Schultern für sich und die gehorsame Partnerin die ruhige und noble Eintracht des Körpers mit den Tönen gewann, den Dreivierteltakt mit einem langen und zwei virtuos kurzen und ausgleichenden Schritten aufteilte, vorwärts, rückwärts, mit rechtem oder linkem Walzer figurierend, oder wie er die beiden eng anliegenden Körper mit reißendem Schwung auf der Stelle drehte, oder in einer unvermutet akrobatischen Laune die leichte Frau in die Höhe warf und mit tiefer Synkope wieder in den Rhythmus aufnahm.

Da ist bei alledem aber auch noch die seelische Anmut, wenn man sich so ausdrücken darf. Sowenig dieser Herr Hoff weiße Strümpfe in ausgeschnittenen Schuhen oder eine weiße Weste mit falschen Brillantknöpfen oder andere Abzeichen des Vortänzers trug: sowenig war in seinem Gesicht ein Schatten des Peinlichen, des Erzwungenen, des Deplacierten solcher Darbietung durch ihn, den Offizier, zu finden. Dabei war es klar, zumal nach ihrem kurzen Gespräch vorhin, daß der Mann litt – und wahrscheinlich doch an seiner Degradierung. Aber was stand in dem Gesicht? Waren heutzutage nicht die meisten Menschen heruntergekommen, die Heraufgekommenen miteingeschlossen? Und sollte gerade diesem gradrückigen Hoff die kleinste der philosophischen Tugenden fehlen: Gleichgültigkeit gegenüber der äußeren und äußerlichen Gruppierung? Es war nicht anzunehmen. Und wenn man sich an sein Gesicht vorhin und an die innere Dringlichkeit seiner Fragen erinnerte, so schien sein Leid aus tieferem Grund zu kommen. Du lieber Gott, was gibt es in unserer heftigen Zeit nicht alles für Gründe!

Herrgott versuchte, das Gesicht des Tanzenden zu erreichen. Es gelang ihm. Hoff sah ihn an. Es geschah das Unvermutete, daß sich das ruhige Gesicht des Tänzers wie unter einem Schlag verzog und verfärbte, einen Augenblick nur, und eine helle Angst zeigte, so als würde das Herz zusammengedrückt und als klappte der Raum auseinander wie ein Kartenhaus, als verlöre das Leben den Boden wie ein berstendes Flugzeug: Herrgott kannte das von der Grippe Anno achtzehn. – Was hatte der Mann, der ihm jetzt schon wieder den Rücken zeigte? War er krank? Aber was erschrak er so sehr über seinen, Herrgotts, bebrillten Blick: werden wir denn vor lauter Unsicherheit des Daseins Großinquisitoren, jeder zu jedem? Herrgott lächelte freundschaftlich.

Dies war der Augenblick gewesen, in dem Hoff, jedenfalls durch eine Blutleere im Hirn, über der transparenten Pauke nicht den guten Herrgott sah, sondern den Sekretär des Revolutionsministers, der sich so hellsichtig suchend und skeptisch gab wie heute vormittag, als er sich nach dem sonderbaren Begrüßer umwandte.

Und in diesem Augenblick hatte er das Mädchen Lilly an sich gedrückt, ohne jede tänzerische Veranlassung, stürmisch, werbend und keineswegs undeutlicher, als es die Kavaliere für ihre bekannten Zwecke zu tun pflegen. Ly kam aus dem Takt, ein sehr seltener Vorfall, und es bedurfte der Hoffschen Technik und Geistesgegenwart, um mit einem extemporierten Drehschwung ihr Gleichgewicht wiederherzustellen. Kurz darauf war der Tanz zu Ende. Es klatschte zuerst Ober Charles, wie es zur Aufmunterung und Überwindung des störrischen Anfanges allabendlich seine Pflicht war und wie es jeder Eingeweihte an dem merkwürdig hohlen Klang des Beifalls erkennen konnte: dann folgten schüchtern ein paar Gäste. Umberto und Ly verbeugten sich gemäß der gräflichen Regie, die für jeden Tanz eine andere Gattung des Dankes vorschrieb: hier war es für sie eine Art Hofknicks, den sie lächelnd und pedantisch ausführte, für ihn ein Bückling romantischer Herkunft, wie ihn Daumier gern karikierte und den Umberto ein wenig ins Zeitgenössische rückte.

Hoff und die Schmid gingen an ihren Platz. Sie setzte sich nicht. Sie sah ihn an und wagte nichts zu sagen. Sie hatte ein erregtes, erhitztes und leicht fleckiges Gesicht, und ihr hastiger Atem hatte mit einem Hüsteln zu kämpfen. Das war leider nach den Tänzen – zumal den anstrengenden, zu denen der langsame Boston nicht einmal gehörte – die Regel; denn ihre Lunge war nicht kräftig. Vielleicht war sie sogar krank; aber das gab sie nicht einmal sich selber zu. Er hatte sich eine Zigarette angesteckt und gab ihr freundliche und harmlose Worte. Sie sagte mit einem armen Lächeln, sie wechsle jetzt das Kostüm. Das war eine überflüssige Auskunft; denn das hatte sie nach jedem Schautanz zu tun. Sie ging in ihre Garderobe.

 

Kurz nach elf Uhr kam der Doppelgänger. Hoff hatte sich viel mit ihm beschäftigt, er hatte auch mit Lilly über ihn sprechen wollen; aber das Mädchen zeigte kein Interesse: es kam nicht über das Ereignis während des ersten Tanzes hinweg und blieb benommen. Hoff half ihr nicht, weil er auf keinen eroberten Menschen wieder verzichten wollte. Seine Angst vorhin, die in dieser beinahe jähzornigen Verwandlung über das Mädchen kam, hatte ihre Form und Wirkung nur halb bewußt gewählt. Jetzt gab er die Beute nicht mehr her. Er war so hungrig auf die Zuneigung der Menschen wie die furchtbare Zeit auf die paar Stunden zwischen dem Heute und dem Morgen. Jetzt lauerte er auf den Doppelgänger; denn er hatte selbst mit dem Grafen ein kollegiales Gespräch gehabt, mit Mister Salmon erneut Liebenswürdigkeiten gewechselt, sogar dem Ober Charles eine der echten Abdulla-Zigaretten aufgedrängt, die ihm neulich ein Holländer schenkte, und hatte keinen Gegner mehr. Der Zwerg Paula, der jetzt draußen amtierte, war ja nicht zu erobern: er war der einzige Mensch, der abgedrängt werden mußte – mit Gewalt, wenn es darauf ankam. Aber der triste Bruder, auf den er wartete, ohne recht zu wissen, wie er die Brücke zu ihm schlagen würde, kam vielleicht nicht: er hatte vielleicht von dem ersten tückischen Zusammenstoß genug, er ahnte vielleicht die Nähe und Ansteckungslust der kranken Seele.

Der verbissene Zufall wollte es, daß der Herr mit dem Namen Hoffnung in dem Augenblick erschien, als das rotbelichtete Paar Umberto und Ly jenen Paso duplo tanzte, den er selber gestern abend nachzuahmen hatte. Hoff sah ihn, wie er traurig und für sich aus dem Barvorraum in die Tanzdiele schritt, ohne Blick für die Vorführung. Umberto sagte während des Tanzes zu Ly: »Jetzt ist er doch gekommen.«

»Wer?«

»Der Halbmastfähnrich.«

»Was haben Sie nur mit diesem Menschen?«

»Er würde jetzt sich selber sehn, wie er gestern abend zu sehen war; das ist doch ganz lustig für einen Menschen – aber er sieht nicht her.«

»Was ist denn daran lustig?«

Wie sie diese letzten Worte sagte und dabei um nichts die vorgeschriebene Heiterkeit ihres öffentlichen Gesichts verminderte, gefiel sie ihm – möglicherweise aus dem Gefühl einer Artverwandtschaft oder wenigstens doch aus dem tiefen Verständnis für jede Form der Tapferkeit. Dazu kam in diesem Augenblick seine Genugtuung über die Ankunft des Erwarteten, eines Menschen offenbar, der ebenfalls nicht ohne weiteres klein beigab. Hoff sah seiner Partnerin in die aufpolierten und filmmäßig aufgerissenen Augen, deren kurze und von Natur helle Wimpern einzeln und starr wegstanden, von einer schwarzen Masse gefärbt und geschient. Hätte er nicht gefürchtet, aufs neue den Tanz zu riskieren und gerade diesen recht komplizierten –, so würde er sie wieder an sich gedrückt haben. Jetzt sagte er nur, ein wenig hinterhältig: »Ich dachte, er gefällt der Lilly seit gestern ...« Sie entließ aus ihrem Maskenmund irgendeine kleine Klage, die er nicht verstand; denn sie kreuzten in diesem Augenblick am Orchester vorbei, das verstärkten Lautes die Schlußtakte des Tanzes spielte. Außerdem sang Herrgott, dem diese argentinische Weise die seltene Möglichkeit bot, seine Schüttelkastagnetten anzuwenden, den Vorübergleitenden laut und frech in der abrauschenden Melodie des Tanzes zu: »Er ist gekommen!«

Zunächst ereignete sich nichts. Hoff versuchte fast eine Stunde lang vergeblich, auch nur einen Blick des Doppelgängers für ihn oder für die Ly zu registrieren. Der andere saß bei seiner Flasche Burgunder, allein, fast regungslos, eingehüllt in seine Schwermut, den kurzsichtigen Blick hin und wieder bei den Menschen, die sich in der Tanzmanege drängten. (Es war voll geworden und der Donnerstag rechtfertigte seinen Ruf als drittbester Wochentag.) Während des Solotanzes, den das Paar Umberto und Ly in dieser Zeit zu absolvieren hatte, blickte Hoffnung überhaupt nicht auf: es mochte Zufall sein oder zu genaue Kenntnis der Darbietung oder Absicht. Hoff, in seine Nähe eine Tanzfigur verlegend, wagte einen vollen und beinahe provokanten Blick zu ihm hin, einen Blick, den man fühlte, auch wenn man ihm nicht begegnete. Das glatte Profil und das verhangene Auge des Gastes regte sich nicht. Er beteiligte sich auch nicht am Beifall.

Ein wenig später, an seinem Tisch, sah Hoff auf die Uhr: sie zeigte zwölf. Jetzt begann also der neue Tag. Hoff sah, daß seine Hand mit der Uhr zu zittern begann, immer stärker. Er steckte die Uhr in die Westentasche und preßte die Hand in die Seite. Jetzt begann also der Tag. Hoff fühlte, wie der Stehkragen in den Nacken schnitt, und rieb sich den Nacken. Er rieb sich das Knie, das vom Boden herauf Kälte spürte, die Zehen und das Schienbein entlang. Das Leben lief plötzlich durch einen furchtbaren Winter, über Polareis. Das Leben lief weg. Es gibt Uhren mit defekter Feder, die mit irrem Ticktack zu rennen beginnen, um stehenzubleiben, endgültig. So tat das Herz; aber es blieb nicht stehen; es stolperte, es stolperte. Hoff hielt das Kinn, das das Ticktack mitmachen wollte. Er preßte Augen und Zähne zusammen und atmete auf, tief, tief, als wollte er einen ungeheuren Schrei ausstoßen. – Dann war es vorüber. Die Musik begann, guter Dinge, derb, negerhaft: das tat wohl – Lärm: zerhackt, bündig, originell – Herrgott war in Schwung, die Luft knallte – das tat wohl.

»Ich weiß nicht, Herr Hoff, ich weiß nicht ...«, setzte Lilly Schmid an, und ihr Gesicht war ganz weiß vor Mitleid oder Angst oder Liebe. Ein Kavalier, ein sehr junger Kavalier mit mühsamem Monokel, kam und forderte sie zum Tanzen auf. Sie folgte mit gequälten Augen.

Hoff stand auf und ging durch den Saal. Er kam an einer der teuren Sektlogen vorbei. Die hübsche Frau, die dort mit einem älteren und sichtlich müden Herrn saß, sah ihn an, wie man einen Eintänzer ansehen darf. Im Programm war zu lesen, daß der Professeur Umberto den verehrten Damen zur Verfügung stand. Umberto war ein schöner Name, und der Professeur sah gut aus. Die Dame sah ihn an, weil sie mit ihm tanzen wollte; vielleicht wollte sie noch mehr. Hoff spürte einen Augenblick Lust, dem berechtigten Blick der Dame nachzukommen und vor ihr seine Verbeugung zu machen: es gehörte nach Beruf und Abkommen hierher – und wenn er recht überlegte, war ihm diese Frau nicht viel fremder als der sogenannte Hoffnung und sicherlich weniger problematisch. Aber während er dies bedachte, war er schon vorbeigegangen, ohne den Kopf zu rücken.

Er machte einen kleinen Umweg, bis er zu Hoffnungs Tisch kam. Er blieb jetzt nicht stehen, sondern ging nur sehr langsam, den guten Zufall erwartend. Aber der andere sah in sein Glas, das er langsam drehte – eine seiner versonnenen Gewohnheiten. Hoff ging sehr langsam. Man pflegt eine Person, die ungewöhnlich hastig oder ungewöhnlich zögernd an einem vorbeistreift, unwillkürlich anzusehen, sei es aus Schrecken oder aus Ärger über das körpernahe Passieren, sei es aus irgendeiner dynamischen Folgsamkeit. Der andere tat es nicht – und dabei gäbe es, dachte Hoff, doch Bewegungen, Gesten und Seitenblicke genug, wollte jener eine Zudringlichkeit bestrafen oder auch nur abweisen.

Hoff war bereits vorbeigegangen. Da er einen kleinen Druck gegen die Schläfen spürte und mit einemmal auch die Luft voll Rauch und Ruch empfand, schlenderte er zum Ausgang, um den Kopf in die frische Nacht zu stecken. Er sagte es auch jovial Herrn Huber, der dienstfertig die Tür zur Straße öffnete. Hoff stellte sich unter den Lichtkranz des Eingangs und fror etwas in der nebligen Luft; aber dem Kopf tat sie wohl.

Er blinzelte zur Seite: Paula kroch schon heran und wünschte in üblicher Formel seinen guten Abend. Vielleicht war Hoff durch die Vergeblichkeit seiner Bemühungen um Hoffnung gereizt, vielleicht wollte er schon jetzt mit dem Zwerg reinen Tisch machen: er tat, als sehe und höre er ihn nicht. – Der Herr Rittmeister möge sich nicht erkälten, bemerkte Paula mit Demut. Hoff antwortete nicht. – Morgen oder eigentlich schon heute sei Freitag, meinte Paula zärtlich. Hoff fuhr herum, er verlor Vernunft und Haltung, er packte den Kleinen an der Brust, daß das fadenscheinige Gewebe des Jäckchens krachte, und schrie auf den gebuckelten Schädel unter sich: »Halts Maul!« –

Die Chauffeure auf den schlafenden Taxis rührten sich und streckten wie Schildkröten die verborgenen Köpfe aus den aufgeschlagenen Mantelkrägen. Herr Huber eilte gleich einer herbeigepfiffenen Polizeipatrouille aus der Bar, romantisch mit Admiralshut und Kugelstab. Zwerg Paula blieb ganz ruhig, lief auch nicht weg, war auch nicht zornig. Er sagte fein und ohne Dialekt, wie immer: »Jetzt doch um Gottes willen nicht die Nerven verlieren, Herr Rittmeister.«

Hoff drehte sich um und ging an dem respektvoll um Auskunft bittenden Herrn Huber vorbei in das Lokal zurück, ohne den Fall aufzuklären. In der Bar trank er einen Kognak. »Sie sehen etwas angegriffen ...«, begann der Barmann. »Ja, ja«, nickte Hoff, stellte das Gläschen hin und ging fort. Der Tanz war zu Ende, Ly saß schon an ihrem Platz. Hoff trat hinzu. Sie sagte sofort, ohne ihn anzusehen, daß der junge Kavalier (sie nannte ihn derber: Fatzke) sie zu einer Flasche Sekt eingeladen habe. Hoff, in innerlicher Unordnung, hob nur die Schultern. Das sollte wohl besagen, wie wenig er sich in dieser Angelegenheit zuständig fühlte. Erwartete sie gar ein Verbot von ihm? Sie saß noch ein Weilchen; dann stand sie auf, ging aber noch nicht. Es sei des Jünglings gutes Recht, ermunterte Hoff. – »Bei Ihnen kenne sich einer aus, Herr Hoff«, entgegnete sie unsachlich. Dann erklärte sie beinahe heftig, der Junge sei wahrscheinlich »scharf«, aber sie würde keinesfalls »nachher mit ihm gehen«. (Das war Bar-Jargon, der eines gewissen Gefühlswiderstandes gegen unnötige Deutlichkeit nicht entbehrte.) Das sei wiederum ihr gutes Recht, sagte Hoff mit der Zigarette im Mund und die Augen zusammengekniffen, zumal der Jüngling nicht nach französischem Sekt aussehe. Sie schüttelte den Kopf und ging an einen ziemlich nahen Tisch, an dem der Kavalier nicht ohne Spannung saß, zwischen der Erwartung des Abenteuers und dem Preis des Sektes hin und her geschüttelt. Weder lächelte Ly noch wiegte sie die Hüften wie die Raquel Meller.

Hoff drückte die Zigarette aus. Mit dem neuen Tag schien auch die kleine Spekulation auf die Gunst der Menschen ringsum an Wert zu verlieren. Aber was sollte er an ihre Stelle setzen? Er konnte sich nicht allein den paar Stunden widmen, die er noch hatte, und sich nur für sie öffnen und sie durch sich hindurchkriechen lassen. Er konnte es nicht, er stand nicht fest genug, er war nicht fest genug gebaut, um eine Schleuse für die Zeit zu sein, sie zu spüren und zu beobachten, noch sieben, noch acht Stunden, zählend, zählend, und sich dann zu schließen, die bewußte und endgültige Stunde in sich stauend. Wer konnte das? – So tut man, was man kann, um nur nicht allein zu sein.

Er wartete, bis die Musik wieder spielte: sie mochte so etwas wie eine Deckung sein, eine Hülle weniger für ihn, als für die anderen Menschen, deren Neugier stören konnte. Daß ein Mann wie Herrgott, der nun einmal über den Tönen stand, alle Ereignisse sah und auch diesen Vorgang sehen würde, war nicht zu verhindern; aber er war doch ein Verbündeter und dazu klug und gütig.

Hoff verließ wieder seinen Tisch, und als er den kurzen und geraden Weg zum Ziel ging, engte sich auch das Gesichtsfeld gehorsam ein. Er sah kaum ein paar Köpfe und Schultern zu beiden Seiten seiner Gasse zwischen den Tischen. Hoffnung, den Rücken gegen den Kommenden, blickte ins Tanzgewühl, das Kinn in der aufgestützten Hand.

Hoff trat an den Tisch und sagte: »Verzeihen Sie.« Der andere hörte es nicht. Möglicherweise war der Lärm von Musik und Menschen so groß, daß die eine Stimme unterging. »Bitte – verzeihen Sie«, wiederholte Hoff lauter; ihm selber schien es, als schrie er jetzt die Anrede. Der andere wandte sich ihm zu und sah ihn fragend an. »Mein Name ist Hoff«, sagte Hoff; er machte eine kleine Pause und fügte hinzu: »Rittmeister a. D. Hoff.« Seine Rangbezeichnung hatte er seit der Dienstzeit bei Vorstellungen nicht mehr genannt.

Der Doppelgänger deutete sitzend eine Verbeugung an und murmelte etwas, das ein Name sein konnte. Hoff fragte, ob vielleicht der Herr sich denken könne, warum er ihn belästige. Der andere verneinte es, nicht sonderlich liebenswürdig. Aber daß er in ihm den sogenannten Professeur de Danse dieses Lokals vor sich habe, wisse er doch, sprach Hoff weiter und lächelte ein wenig. – »Ach, richtig«, ließ der andere verlauten und kniff, ihn ansehend, die kurzsichtigen Augen zusammen, als erkenne er ihn erst jetzt.

»Seien Sie mir nicht böse«, sprach Hoff, fast ohne zu zögern, »haben Sie mich in der Tat erst in diesem Augenblick erkannt? – Das klingt vielleicht etwas dreist; aber es ist wirklich nicht aus Zudringlichkeit, daß ich es wissen möchte.«

Der andere sah auf seine Hände und antwortete beinahe etwas verlegen:

»Sie wollten mich schon gestern abend sprechen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Hoff, »und warum eigentlich ließen Sie es nicht zu – und warum wollten Sie mich vorhin und diesen ganzen Abend nicht sehen?« Hoffnung sah in sein Glas und schwieg. »Man mag doch seine Gründe haben, wenn man so hartnäckig auf ein Gespräch erpicht ist«, meinte Hoff leiser.

»Ich bin sehr auf meine Ruhe erpicht«, sagte der andere mit einem stillen Gesicht und bewegte das Weinglas.

»Hier?« lächelte Hoff.

»Seine Gründe hat jeder, lieber Herr«, bemerkte der Doppelgänger.

Hoff sah über ihn hinweg auf das Podium: Herrgott arbeitete kräftig und ohne Nebenblicke an seinem Instrument.

»Ich hatte also Gründe«, sagte Hoff, »Sie für ein wenig hochmütig zu halten. Deshalb nannte ich vorhin mit meinem bürgerlichen Namen meine frühere soziale Stellung. Es gibt ja einen Hochmut, der sich dadurch besänftigen läßt.«

»Gewiß«, entgegnete Hoffnung, »aber es war nicht nötig. Ich bin nur Landsturmmann gewesen.«

Das war doch Ironie, dachte Hoff; aber wo sieht man in dem sanften Gesicht Ironie?

»Außerdem«, fuhr der andere fort, »wußte ich natürlich schon Ihren Namen und Ihren früheren Grad.«

»Von Paula!« rief Hoff sofort.

»Wer ist das?«

»Der Zwerg draußen.«

»Ja, ja, von ihm.«

Hoff machte dünne Lippen.

»Ich fragte ihn«, setzte Hoffnung hinzu, als wollte er den Kleinen entlasten.

Der Tanz hörte auf, wie abgerissen. Im gleichen Augenblick forderte Hoffnung seinen Besucher auf, sich zu setzen, als begriffe auch er, daß für Hoff die Deckung durch die Musik jetzt fehle.

»Was wollen Sie von mir, Herr Hoff?«

»Ich wollte mich wegen des kleinen Streiches entschuldigen, den ich Ihnen gestern mit der Damenwahl spielte.«

»Das ist doch unnötig. Ein Streich gegen den anderen. Ich habe Sie dafür beim Tanz kopiert.«

»Woher können Sie so gut tanzen?«

»Ich könnte Sie bluffen, Herr Hoff, und sagen, daß ich Berufstänzer sei. Aber das wäre eine etwas billige Lüge. Wahr ist, daß ich vor dem Krieg den Tanz betrieben habe, wie ich hätte die Jurisprudenz betreiben sollen, und daß ich mit einem langbeinigen Serben, dessen Namen ich vergessen habe, dem Modemaler Leonard und dem viel zu hübschen Referendar Schweitzer zu den besten Berliner Amateurtänzern gehörte.«

Der Doppelgänger sprach sehr leise, mit kaum geöffneten Lippen und auf eine pointierte Art, die mit dem traurigen Gesicht und den guten Augen nicht zusammenstimmte. Hoff sah auf das Podium. Der pausierende Herrgott stand auf dem Tritt des Primgeigers und suchte den Saal ab – natürlich nach ihm. Hoff machte sich klein; aber im gleichen Augenblick hatte ihn Herrgott entdeckt, lächelte und drehte dem Saal den Rücken. Jetzt spürte Hoff auch noch andere Blicke. Lilly sah ihn über die Schulter ihres Gegenübers hinweg an, und ganz in der Nähe der zuständige Ober machte bereits seinen Gehilfen auf die stille Sensation am Tisch Hoffnung aufmerksam. Hoff wußte, daß in wenigen Minuten jeder Kellner des Lokals eine Gelegenheit finden würde, an dem Tisch vorbeizugehen und ein Wort aufzuschnappen. Er konnte den Ruheanspruch des anderen und auch die eigene Bemühung nicht in solcher Weise gefährden. Er mußte also aufstehen und weggehen, ehe das geringste Resultat erzielt war. Und dabei wußte er, daß sie beide würden zu einem Ergebnis kommen können. Warum nur hing ihm heute das Auffällige an wie ein Rock von aufreizender Farbe?

»Wenn ich hier sitzenbleibe«, sagte er und preßte die Hände gegeneinander, »dann geraten Sie durch mich in eine ähnliche Situation wie gestern. Das ist Ihnen doch unangenehm?«

»Sehr«, entgegnete der andere.

»Dabei möchte ich gerne hier sitzen«, sprach Hoff und versuchte zu lächeln.

Der Doppelgänger sah ihn ruhig und klar an.

»Wollen Sie von mir eine Hilfe, Herr Hoff?« fragte er dann. Hoff antwortete nicht. Aber er hielt den Atem an und fühlte in seinem Körper die Zeit ticken. Seine Hoffnungslosigkeit in diesem Augenblick war so groß, daß ihm die Kehle eng wurde und das Weinen nahe war – wahrhaftig ihm, dem gar nicht weinerlichen Menschen. Dieses merkwürdige und wehe Gefühl, das keinen anderen Ausgang wußte als die Augen (gerade die Augen, die heute immer wieder geprüften) und das er seit seiner Knabenzeit nicht mehr gehabt hatte, riß sekundenlang die Vergangenheit auf, ganz weit, bis zur Kindheit. Der Knabe Hubert weinte sehr wenig, wohl weil die behütete Jugend ihm nicht viel Grund zum Leid gab; und er weinte immer erst dann, wenn nach der kleinen Verfehlung jemand gut zu ihm war. Gegen Härte setzte er Härte. –

Hoff hustete, um den Hals zu befreien. Aus Verlegenheit lachte er auch ein wenig. Der Doppelgänger sah ihn unverwandt an; aber er sprach kein Wort. Der baltische Primgeiger stieg auf das Podium. Das rote Licht kam über die Tanzmanege. Herrgott donnerte den Tusch ein, Hoff stand auf.

»Ich weiß nicht, lieber Herr«, sagte er, »ob Sie jetzt noch hierbleiben oder weggehen werden. Beides hat allerlei für sich.«

Er verbeugte sich ziemlich förmlich, jedenfalls aus Rücksicht auf die Kellneraugen. Hoffnung sah in sein Weinglas, bekümmert und nachdenklich.

Umberto traf Ly oberhalb der drei Stufen, die zum Tanzraum führten. Sie sahen sich an. Lilly war noch ernst, sehr ernst. Er faßte sie, laut Regie, bei der Hand und schritt mit ihr die Stufen hinunter. Wie der Scheinwerfer auf ihren Körper kroch, lächelte Ly. Die Leute klatschten lebhaft, Lys Kavalier rief, wie er es sich vorgenommen hatte: »Ly!« Herrgott trommelte dreiste und zackige Takte ohne Musik. An ihnen erst erkannte Hoff, was zu tanzen war. Er hatte nicht mehr daran gedacht. Er preßte Lys Hand. »Was ist denn?« fragte sie und hielt den Kopf lächelnd geradeaus.

»Halleluja!« schrie Hoff. Er schrie es. Herrgott nahm es sofort auf, riß das Megaphon an den Mund, trompetete es durch die Luft, mit der Fußpauke wütenden Takt schlagend. Die Kapelle, gut gelaunt, wiederholte es im Chor. Lys Kavalier, Vorbeter des Publikums, im Schwung wie noch nie in seinem kleinen Leben, grölte es vor Glück. Ein paar Mädchen mit gesicherter Nacht kreischten es, ihre Männer machten mit, die Betrunkenen zuerst, die Nüchternen folgten, um ihre gute Stimmung zu zeigen, die Ledigen schrien, um sich Mut zu machen oder um die Gründe ihrer Abstinenz zu verhöhnen: Armut, Ohnmacht, Krankheit. Die Kellner riefen es aus Freude an der Abwechslung oder sozial verbittert. Der Graf murmelte es mit schmalem Mund und dachte: wenn mich hier mein hochseliger Herr Vater sähe. Mister Salmon sprach es englisch aus und sagte dann zum schweigsamen Ober Charles: »Ich bin bald fünfzig und finde das Leben zum Kotzen.« Hoffnung hatte das Kinn auf der Brust und die Augen geschlossen.

Umberto und Ly standen sich tanzbereit gegenüber, schon Arm in Arm, und warteten den höllischen Kanon ab. Hoff war selbst im roten Licht so blaß, daß die Frau ihn fragte: »Was hast du nur?« Sie duzte ihn zum erstenmal. Sie ließ auch das Lächeln, das in dem brüllenden Raum ohne Wert war. Die Musik setzte jetzt scharf ein, um mit dem Chor Schluß zu machen. »Wenn ich nur durchhalte!« rief Hoff in Lys Ohr. Sie hatte schon wieder zu lächeln. Das Saxophon übernahm grell die Melodie. Sie begannen zu tanzen. Herrgott schlug den Takt der bösen Welt in ihre Körper. Er schüttelte die Schultern und schlug die Beine. Er schüttelte und schlug. Umberto riß die Augen auf und preßte die Zähne zusammen. Die Zeit lief fort. Er trat sie immer schneller mit seinen schnellen Füßen. Er trat die Mühle. Er trat sie für sich und für seine beiden Opfer. Er sah gehetzt auf den Boden und fand die Schatten von Umberto und Ly in unförmiger Einheit. Der Schatten trat mit und wurde geschüttelt, bis es der Schüttler war. Hoff würgte es wieder in der Kehle und er weinte auch über so viel Hilfe. Die paar Tränen wurden das verbissene Gesicht abwärts geschüttelt und konnten schließlich auch Schweißtropfen sein. Aber Ly erkannte sie und krallte die Finger in seinen Arm, mit verzweifelten Augen und dem stehengebliebenen Lächeln. Sie sagte auch etwas, aber er konnte nichts mehr hören. Er war beschäftigt. Der Schüttler trat mit und pumpte mit den Schultern die Erlebnisse in die hundert Gesichter hinauf. Hoff mußte aufpassen. Er sah dies und das Gesicht: den Minister, den Sekretär, den Herrgott, den Doppelgänger, zwischendurch auch die Lilly Schmid. Der Kreis blieb ziemlich eng, die gleichen Gesichter variierten nur in ihren Ausdrücken. Der Doppelgänger zum Beispiel wurde ihm immer ähnlicher und tat schließlich, was der Professeur tat. Er zielte und kniff das eine Auge zu. Wer? Er und ich, wir beide. Und so blieb dann das eine Gesicht und blieb und blieb: der tote Gustav-Adolf-Kopf des Ministers, horizontal, starr und tief erschrocken, mehr noch: in Ewigkeit erstaunt, weiß und rot, den Kinnbart steil in der Luft – blieb und blieb ...

Umberto und Ly steppten jetzt getrennt, das Orchester schlug die Paraphrase, Ly lachte mit breitem Negergebiß, wie vorgeschrieben, und schüttelte jetzt auch Kopf und Arme; nur in den Augenwinkeln schielte die Angst nach dem Partner. Umberto steppte mit ganz starrem Körper; das Gesicht war naß und der Mund ein wenig offen. Der Atem ging sehr kurz. Er steppte gegen alle Regel ganz nahe ans Orchester. Sie folgte. Er hob die Arme und schrie:

»Herrgott! Herrgott! Schluß!«

 

Das Orchester hatte mit bewunderungswürdigem Geschick den Tanz zum unmittelbaren Stillstand gebracht, das Publikum hatte nach Gebühr geklatscht, ohne die Abkürzung zu bemerken. Hoff stand, sich das Gesicht mit dem Taschentuch betupfend, am Podium und erzählte den mitleidigen Musikern von dem Grippeanfall. Er nahm diese Anstrengung auf sich, um möglichst schnell mit einer glaubhaften Erklärung den Zwischenfall zu erledigen. Herrgott brachte ihm ein Glas Kognak und Herr Salmon, bereits unterrichtet, kam mit einem zweiten. Die allgemeine Teilnahme wäre wohltuend gewesen, wenn sie eine andere Ursache gehabt hätte. Hoff nickte zu den vielen Ratschlägen und hatte nur den einen Wunsch, still und unbemerkt in einer Ecke sitzen zu dürfen. Wenn nur diese Auffälligkeit von ihm abfiele!

Als er sich umwandte, um an seinen Tisch zu gehen, sah er den Rücken des Doppelgängers in der Tür zum Ausgang. Er geht, dachte Hoff, er desertiert, er hat genug; man soll es ihm nicht verdenken; er scheint klug und scharfsichtig und hat selber allerlei auf dem Buckel; und wer läßt sich gern in ein Schicksal mischen wie in ein Kartenspiel? – Aber er war doch neugierig auf mich, er hat sich doch nach mir erkundigt. Und dieser Zwerg ...

Er merkte nicht, daß sich Lilly immer neben ihm hielt. Jetzt fragte sie ihn, warum er nicht lieber nach Haus ginge. Er sagte leise: »Um Gottes willen nicht!« und achtete nicht auf die bedenkliche Ehrlichkeit seiner Antwort. Er setzte sich an sein Tischchen; das war ein vertrauter und wohlwollender Platz, der ihn noch zwei Stunden halten konnte. Er atmete auf. Ly beugte sich zu ihm und fragte ihn, ob sie bei ihm bleiben solle. Er nickte sofort, und dann erst bedachte er, daß sie von allen guten Menschen des Abends der beste war, daß auch sein Tischchen an ihre Gegenwart gewöhnt war, daß schließlich, saß sie bei ihm, nicht der und jener, Salmon, Herrgott in den Pausen, sich zu ihm gesellte und ihn aus Mitleid sondierte. Auch Mitleid hat Sonden.

Ly ging zu ihrem Kavalier und war sofort wieder zurück. Begründung und Trennung geschahen sehr schnell und wirkten sehr hart. Hoff hatte den jungen Mann angeschaut, vielleicht nur aus Zufall. Er wurde aufmerksam, weil er in seinem Leben nicht oft solche Wandlungen eines Gesichts von der sicheren Erwartung zur gläsernen Enttäuschung gesehen hatte. Die jähe Veränderung des Ausdrucks erinnerte ihn natürlich an den Schüttler und an den Schütteltanz: deshalb schickte er das Mädchen nicht zurück, sondern streichelte stumm ihre Hand. Der Junge drüben war sicherlich der einzige Mensch im Raum, der diese Bewegung beobachtete. Er starrte Hoff mit einem so kindlich offenen Haß an, daß der Mann lächeln mußte. »Ich habe jetzt einen Feind«, sagte er zu ihr. Dann bestellte er eine Flasche Sekt. Er tat es hin und wieder und konnte sich das Vergnügen leisten, weil Herr Salmon ihm die Getränke zum Selbstkostenpreis berechnete oder sogar, an Tagen mit gutem Umsatz, auf sein Konto übernahm. Daß die Ly von der Bestellung eigenartig berührt wurde, lag an den Umständen des Abends. Der enttäuschte Kavalier drüben empfand den Knall der entkorkten Flasche gewiß als klare Herausforderung; denn er stand auf, tat ein paar mutige Schritte in die Richtung des Paares, blieb aber dann in gewisser Entfernung stehen und begnügte sich mit einem ziemlich rüpelhaften Anstarren des Gehaßten.

Hoff hatte Verlangen nach Alkohol: das war der Anlaß zum Sekt; aber er wollte nicht viel trinken. Zugleich allerdings glaubte er, das simpelste Mittel gefunden zu haben, um diese Nacht zu bestehen: das Mädchen nämlich. Im Interesse einer sicheren Hand – daran dachte er wiederum auch – wollte er nur die Gesellschaft der Partnerin, auch über die beruflichen Stunden hinaus, sonst nichts, und es schien ihm keine sehr böse Tat, zu diesem Zweck ihre zärtliche Benommenheit noch ein wenig zu steigern. Er trank ihr zu und fragte sie, auf ihren Mund schauend:

»Weißt du auch, Lieschen Schmid, daß ich jetzt eine Freundin habe?«

Sie antwortete »Ja«, ganz ohne Befangenheit und mit einer so tiefen Überzeugung, daß es ihn doch wärmte. Der herstarrende Junge störte ihn, zugleich aber auch reizte er ihn, die Freundlichkeiten für das Mädchen gleichsam auszubreiten, gewiß auf eine maßvolle und gesetzte Art, die aber wiederum dem jungen Mann die Sicherheit des Besitzes bekunden mochte. – Suche ich Streit? fragte sich Hoff, brauche ich ein Ventil dieser Art? War die abrupte Szene mit Paula vorhin symptomatisch? – Er hob den Kopf und sah dem Jungen stirnrunzelnd in das kochende Gesicht. – Zum Teufel auch, Streit ist auffällig, nicht wahr! Es war, als legte es die Zeit darauf an, ihn immer wieder zu kennzeichnen. Wie es auch sei: der junge Mann ist Gast und der Tänzer Umberto Angestellter. Der junge Mann hat auch ein Recht darauf, mit der Dame Ly zu tanzen, und er wird auf seinem Recht bestehen. Hoff sagte es dem Mädchen, das traurig wurde und keinen Einwand fand; denn das Reglement des Hauses lautet begreiflicherweise einseitig zugunsten des Gastes. – Man könne den Kleinen an den Tisch bitten, schlug Hoff vor. Sie sah ihn bedrückt an. Er sagte leise: »Wir bleiben nachher zusammen.« Sie nickte leicht mit dem Kopf und bekam ein ganz zartes Gesicht.

Hoff ging zu dem jungen Mann, der ihn mißtrauisch und ein wenig ängstlich ankommen sah und seine Einladung schroff ablehnte. Hoff hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, aber er bezwang sich, weil in der Nähe Leute saßen. Er drehte ihm den Rücken und ging zurück. Ly hörte seinen Bericht und nannte den Kleinen empört einen Lümmel. Ein neuer Tanz begann: der Lümmel kam und forderte sie auf, vor seiner Dreistigkeit doch zitternd. Hoff lachte laut, Ly sagte mit erfrorenem Gesicht, sie sei müde. Der junge Mann versicherte, er werde sich beschwerdeführend an die Leitung des Lokals wenden. Hoff sah ihm ins blanke Gesicht und sagte:

»Geh mit der Enttäuschung nach Hause, Kleiner. Die Spesen trage ich.«

Der Junge fuhr herum und sagte merkwürdig leise und deutlich: »Sie Lude Sie.«

Hoff stand auf und hob schon die Hand. Aber da Lilly leicht aufschrie und er den Tumult nach dem Schlag mit seiner gespannten Phantasie schon sehr deutlich sah und hörte, schlug er nicht in das junge Gesicht, das plötzlich jeden Blutstropfen verloren hatte: er hakte sich bei dem jungen Menschen ein, nahm das dünne Handgelenk in einen bestimmten zwangvollen und schmerzhaften Griff seiner muskulösen Finger, spürte bei dieser Kraftentfaltung eine tiefe und wohltuende Entspannung, führte den Kleinen, der den Schmerz verbiß und sich weder losmachen noch sträuben konnte, durch den Saal und die Bar zum Leutnant Huber und übergab ihn dem Wackeren und Strammstehenden mit ein paar erklärenden Worten. Herr Huber war auch Ordnungsmann und freute sich über jeden Amtsfall, die moralische Genugtuung mit Würde und Strenge drapierend. Er verlangte von dem ziemlich erschütterten Delinquenten die Garderobenmarke, soldatisch und unabweisbar, suchte Hut und Mantel aus der Menge, ließ ihm eine kurzbemessene Zeit, sich anzuziehen, wies seine schüchterne Zahlbereitschaft mit dem einen und selbstbewußten Wort: »Unnötig!« ab und schob ihn aus der Tür, ohne ihn anzurühren – eine Meisterleistung.

Es war bei Hoff, während die Nacht weiterging, wie ein Verlöschen. Er lächelte immerzu, nicht unähnlich dem Tanzlächeln der Ly, und fand zum Reden immer weniger Worte. Er sagte hier und da: »Sprich doch!« oder: »Sprich recht viel!« und die Frau, in einem namen- und fragelosen Gefühl der Neigung und Hilfspflicht, sprach und sprach: Gescheites und Dummes, Erinnerungen, Bemerkungen und Wünsche des kleinen Tanzmädchens – und schließlich, von einer unerklärlichen Angst um den Mann gehetzt, Witze, gemeine Späße, schamlose Paraphrasen über das Thema des Geschlechts, wie sie sie von den Männern zu hören bekam. Sie erzählte sie beinahe tonlos, mit hoher und heimlicher Stimme, und lachte auch nicht. Hoff nickte und lächelte, aber er begriff sie nicht mehr. Oder er wiederholte langsam und sinnlos irgendein laszives Wort, das ihm im Ohr saß, und sie wiederholte es, weil sie glaubte, es gefiele ihm. Schließlich mußte sie weinen, wenn auch nur ein paar Sekunden. Hoff bemerkte es nicht, trotzdem er sie anschaute.

Sie gingen kurz vor den Chefs und vor den Musikern und sagten niemandem Gutenacht. Es war erstaunlich, wie die Frau auf seine ungewöhnliche Anregung einging. Er sagte nur, es sei besser, sich von keinem zu verabschieden; man müsse also etwas früher das Geschäft verlassen als sonst. Er wollte es, weil er sich vor der Trennung fürchtete. Sie fragte nicht nach dem Grund und ging unauffällig in ihre Garderobe. Sie wollten sich vor dem Eingang treffen.

Hoff ging langsam zur Tür, die Hände auf dem Rücken, den Kopf gesenkt. Dann sah er sich doch um. Die kleine Welt des Raumes, wie die große laut und heimlich, geregelt und verworren und in dem Augenblick liebenswert, wo die Trennung sich zwischen das Auge und das noch klare Bild schiebt, baute sich geschäftig ab. Die Kellner entkleideten die Tische, die Chefs rechneten mit Ober Charles, über viele verschiedenfarbige Zettel gebeugt, die Musiker packten die Instrumente ein: alle taten den Strich unter das Tagewerk, oder richtiger gesagt: unter diese Nacht. Hoff war neidisch und zugleich gerührt. Das Gefühl arbeitete in solchen Augenblicken ein wenig aufgetragen. Hoff ließ es zu. Nur Herrgott sah nach ihm. Diese Abschiedsstunde vom Instrument war bekanntlich seine traurigste: so war auch der Blick für Hoff sehr ernst. Beide hoben die Hand, wie auf Kommando, und winkten sich zu, ähnlich einem Abschied auf dem Bahnhof, wenn der Zug schon langsam fährt. Dieses Signalisieren über den Saal hinweg, ohne jede Heiterkeit ausgeführt, war fast ein wenig komisch; aber es war ein Schlußzeichen. Hoff hatte zu gehen.

Auch Herr Huber war beschäftigt: er dirigierte den Abzug der Gäste. So konnte Hoff unbemerkt seine Sachen von dem für ihn reservierten Kleiderhaken nehmen und mit dem Gruß eines Mannes, der Eile hat, an dem Hüter vorbei durch die Tür schlüpfen.

Lilly saß bereits in einem Taxi. Der Zwerg, der am Schlag stand und um seines Rittmeisters willen andere Fahrgäste vernachlässigte, lief ihm entgegen und meldete, daß Madame warte; außerdem habe er für den Herrn Professeur eine Telefonnummer erhalten. Paula reichte ihm einen Zettel, ehrerbietig und zutunlich wie immer. Er war nicht nachtragend. Hoff sah an ihm vorbei, durch die Unerschütterlichkeit des Zwerges etwas verlegen. Solche Zettel mit Telefonnummern oder Adressen bekam er übrigens hin und wieder: er dachte an die Dame, die mit ihm tanzen wollte. »Von wem?« fragte er, ehe er den Zettel nahm. – »Der Herr vom Tisch 21«, meldete Paula und setzte verbindlich hinzu: »der Ähnliche«. Das Pseudonym Hoffnung anzuwenden, hielt er offenbar dem Original gegenüber für taktlos. Hoff steckte den Zettel in die Manteltasche und überlegte. Der Herr warte auf den Anruf bis drei Uhr, sagte der Zwerg.

Hoff machte kehrt, ging in die Bar zurück, winkte dem dienstbereiten und etwas erstaunten Herrn Huber freundlich und eilig ab und betrat die Telefonzelle im Garderobenraum. Ein hörbar müdes Fräulein vom Amt, dessen Gleichgültigkeit ihn kränkte, verband ihn. Die sanfte Stimme des Doppelgängers kam sofort; er mußte in der Nähe des Apparates gewartet haben. Er meldete sich mit einem »Ja?« –

»Hier ist Hoff.«

»Wenn Sie noch zu mir kommen wollen, Herr Hoff ...«

»In einer Viertelstunde.«

Der Doppelgänger nannte Straße und Haus; er werde ihn vor der Tür erwarten.

Hoff verließ die Kabine. Er sah Mister Salmon und hinter ihm Herrgott aus der Bar kommen. Er lief hinaus. Huber grüßte wieder ins Leere, etwas verbittert.

Paula stand noch auf dem gleichen Fleck, seinem Beruf zum Trotz. Hoff fragte: »Wissen Sie etwas von ihm?«

Paula wiegte den Kopf. »Er wohnt Park-Allee 1 oder gibt wenigstens immer diese Adresse an, wenn er von hier wegfährt; mehr weiß ich nicht.«

»Und was haben Sie ihm über mich gesagt, mein Lieber?«

Paula schien kein schlechtes Gewissen zu haben; er schien sich im Gegenteil über dieses Referat zu freuen. Er brauchte auch nicht das Gedächtnis anzustrengen; er hatte die Angaben sofort bereit: Rittmeister Hubert Hoff, Frontoffizier, E. K. I., Goldene Tapferkeitsmedaille.«

»Und was noch?«

»Ein paar Worte über meine Verehrung für Sie.«

»Und was noch?«

»Nichts weiter.«

»Na – und das Politische?«

Paula wurde erregt; er wies bedrohlich mit den beiden Zeigefingerchen auf seine Augen: er wolle blind werden, wenn er ein Wort ...

Hoff ging weiter und stieg in den Wagen. Paula, immer nahe bei ihm, hielt die Tür fest, die der Herr zuschlagen wollte, und sagte hinter ihm her, zärtlich und fatal: »Gott schütze Sie.«

Der Wagen fuhr an. Lilly gestand, daß sie vor dem Gnom Angst habe. »Ich auch«, sagte Hoff. Dann schwiegen sie. Eine Kurve drückte die Frau gegen den Mann. Sie blieb an seiner Schulter, er streichelte sie. Dann suchte sie seinen Mund; aber er hielt das Kinn hoch. Sie ließ sofort von ihm ab und lehnte sich in die Ecke. Plötzlich sagte sie:

»Du hast einfach vor irgend etwas Angst. Das ist alles.«

»Richtig«, sagte er. Sie sprach sofort weiter, als wollte sie etwas loswerden und als hielte sie den geeigneten Augenblick für gekommen. Sie habe einmal einen Freund gehabt, der Selbstmord verübte, und er tat es um sechs Uhr morgens, und bis fünf Uhr war sie bei ihm gewesen, und er hatte nichts verraten und nichts merken lassen; er sei nur ein bißchen traurig und ein bißchen wirr gewesen – aber das sei er auch früher gewesen. – Sie schwieg, sie hielt sogar den Atem an, als müßte jetzt seine furchtbare Bestätigung kommen; aber Hoff sagte kurz und gleichmütig: »Falsch geraten – ganz falsch.«

Sie sprachen nichts mehr, als sei der Fall entschieden. Der Wagen hielt vor dem Haus, in dem sie wohnte. Er hatte sie schon oft heimgebracht. Sie stieg aus, er schüttelte ihr die Hand und wünschte ihr eine gute Nacht – wie sonst auch. Jetzt hatte sie doch nicht die Kraft des Willens, ohne eine kleine Frage abzutreten. »Warum kommst du nicht mit?«

»Es ist etwas dazwischen gekommen.«

»Sie sind vorhin noch einmal zurückgegangen.«

»Ich habe telefoniert.«

»Sie haben eine hübschere Frau gefunden.«

»Nein, ich habe mich mit dem ... mit der Trauerfahne verabredet.«

»Das ist so wichtig?«

»Sehr wichtig.«


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