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Brothers

Hoff stand auf der Straße. Gewiß, er stand auf den Beinen, die Beine trugen ihn dann fort, der Kopf wußte die Richtung, die Augen sahen diesen Menschen an und den anderen nicht, in den Ohren waren die gewohnten Geräusche des Lebens, des äußeren Lebens, nicht wahr? – und nicht etwa das Sausen des eigenen Blutes, das regelwidrig wäre: der Organismus funktionierte einwandfrei, soweit er es beurteilen konnte – aber es stimmte etwas nicht. Das Gehirn arbeitete schwerfällig und trug so etwas wie Scheuklappen. Aber das war es nicht. Es stimmte etwas nicht. Er war auf die Straße gesetzt und hatte nicht alles mitbekommen, was er einmal besaß. Er wollte damit nicht sagen, daß er bestohlen worden sei, Gott bewahre, – es waren wohl überhaupt schiefe Formulierungen. Das, was fehlte, gehörte vielleicht sogar weniger zu ihm als zur Straße oder zur Allgemeinheit, die ihn wieder hatte oder ihn wieder geholt hatte. Er war wieder eingefügt worden, aber er paßte nicht in den großen Umgang. Es fehlte etwas oder es war etwas zu viel. Er ragte über die Lauffläche oder er verursachte eine Einbuchtung. Es stimmte nicht mit ihm und der neuen Welt.

Was war denn? – Wo ist zum Beispiel das Gewissen?

Diese beiden Fragen erinnerten ihn an David Hertz und er sagte sich sofort: Wo soll ich hingehen? Es ist vollkommen gleichgültig, wohin ich gehe. Ich habe die Wahl. Mich hindert nichts zu wählen. Also gehe ich zu ihm.

Hoff genoß nicht etwa Samariterdienst von einem inwendigen Schock, der barmherzig das, was war, mit einer Hülle versieht und als leeren Raum ausgibt. Er hatte keine Ausrede auf das gesprungene Gedächtnis. – Dies war: eine Maschine, die zum Fahren, und eine Maschine, die zum Schießen verfertigt war. Er fuhr mit der einen und schoß mit der anderen. Da er mit beiden umzugehen verstand, gelangte er ans Fahrziel und traf das Schußziel. Die Handhabungen waren leicht und die Anstrengungen gering. – Und? Und? – Er war wieder an die Ausgangsstelle zurückgefahren, die Zeit war kreisrund gewesen, das Gedächtnis schien es auch, und man mußte sich hüten, nicht wie in einem gewaltigen Karussell ins Sausen zu kommen. Das machte schwindlig, wie in der Fahrmitte, als ihm übel wurde. – Und? – Vom Wagen aus, zumal auf der Rückfahrt, waren ihm die Menschen unangenehm. Die Entwöhnung geschah so rasch wie die Wiedergewöhnung. Jetzt waren ihm die Menschen weder lieb noch unlieb: sie waren ihm gleichgültig. – Und?

Es stimmte mit ihm nicht, also stimmte auch sein Bericht nicht.

Er blieb, wie andere Leute, vor der Telegrammtafel stehen und las. Es waren fette Buchstaben und lapidare Sätze. Er las langsam und verstand den Inhalt. Natürlich verstand er ihn. Er wußte, um was es sich handelte. Er hätte sogar dieses oder jenes korrigieren können. Aber sein Besserwissen war von der gleichen entrückten und fragwürdigen Art wie das Lesen und wie sein Selbstbericht. Er las zum Beispiel das Wort »Meuchelmörder« und versuchte, wenigstens diesen einen wichtigen und wuchtigen Ausdruck in die richtige Beziehung zu bringen. Es mißlang. Das Wort rührte sich kaum aus der Buchstabenreihe, geschweige denn sprang es von der Tafel auf ihn oder gar in ihn hinein.

Hoff ging weg, wie die anderen, die sich wenig oder gar nicht äußerten. Man wußte nicht, was jetzt kommen würde, war an Erschütterungen und Telegramme gewöhnt und hatte das Mißtrauen gegen den Nächsten als erste Lebenspflicht gelernt.

Hoff ging an den Häusern entlang, nicht als Aussätziger und noch weniger aus Angst. Er fühlte ja weder das eine noch das andere. Vielleicht war es diese vollkommene Gefühllosigkeit – Verloschenheit, Erfrorenheit, Abgestorbenheit des Gefühls –, die ihn fremd, überzählig, bestohlen und beziehungslos machte. Er ging an den Häusern entlang, weil er wie ein Einfältiger auf sich neugierig war. – Wie mag ich aussehen? Ich habe mich seit dem Fahrkreis noch gar nicht gesehen – und, ganz ohne Hysterie gesagt, ich weiß im Augenblick nicht mehr recht, wie ich vorher ausgesehen habe. Oder ich weiß es nur indirekt, weil ich einigermaßen deutlich mir nur den David Hertz vorstellen kann.

Er streifte an den Läden vorbei und versuchte, sich in den blanken Fenstern zu erhaschen. Was er sah, war nur gläserner Schatten, dessen Transparenz ihn störte. Im besten Fall erkannte er eine Statur mit Hut, Mantel und Hosenenden, die jedem gehören konnte. Prüfte er das Gesicht, auf das es doch ankam, so bespöttelte ihn die leidige Leere: er suchte sich im Glas und sah in den silbrigen Umrissen des Kopfes fremde und nichtige Gegenstände der Auslage liegen. Endlich fand er eine Spiegelrückwand. Es war der Laden eines Herren- und Damenfriseurs, wie mit dicken Porzellanbuchstaben geschrieben stand. Vor dem Spiegel entfalteten sich drei schwanenhalsige und barock gelockte Wachsbüsten: eine Schwarze, eine Braune, eine Blonde. Hoff betrachtete sie und verzögerte dadurch den Blick auf sich, der dahinter stand. Die drei zeigten noch den Ansatz der Brüste; dann waren sie brutal abgeschnitten. Die Gesichter, die Hälse und die halben Busen waren vollkommen gleich: es war ein kleines Geschäft, das für Physiognomik kein Geld aufwenden konnte. Davor und dahinter also war Hoff. Er sah sich an und fand sich nicht fremd, aber auch nicht vertraut. Sein Bild wirkte ungefähr so, wie vorhin die Telegrammtafel. Er erkannte es, aber es ging ihn nicht viel an. Er sagte sich: dieses Gesicht gehört dem Täter; aber er sagte es zu dem Gesicht, das anderthalb Meter von ihm entfernt war. Er staunte es ein wenig an und dachte nicht an eine Feststellung, sondern an Panoptikumsbesucher vor dem Mörder aus Wachs. Dann aber dachte er persönlicher, wenn auch nicht an sich, so doch an David Hertz. Es waren drei merkwürdige Gedankensprünge.

Er klinkte die Ladentüre auf. Dabei und auch beim Zumachen schlug mit häßlichem Ton – mehr mit einem Hieb als mit einem Klang – die Ladenglocke an. Hoff verzog das Gesicht und schaute belästigt hinauf. Ein weißer Kittel trat auf. – »Eine scheußliche Glocke«, bemerkte Hoff. Der Kittel entschuldigte sich und öffnete das Glastürchen zum Herrensalon. Hoff setzte sich in einen Lehnstuhl mit zerweichtem Polster. – »Rasieren der Herr?« – Hoff wunderte sich über das Deutsch, sah mit schmalen Augen in den Spiegel und befahl auf das kürzeste: »Schnurrbart.« Der Kittel drückte Hoffs Kopf gegen den Genickhalter und stellte sich zwischen ihn und den Spiegel. Um nicht den schmutzigen, groben und mit Härchen bedeckten Kittelstoff aufdringlich vor den Augen zu haben, schloß er sie und roch dann nur den Duft schlechter Seife an den Händen, die sich auf seiner Oberlippe zu schaffen machten. Es ging sehr schnell. Hoff hatte kaum Zeit, an Hertzens Lippenbärtchen zu denken, als der Kittel schon zurückwich. – »Bedient der Herr.« – Hoff stand auf und sah in den Spiegel. Das neue Gesicht machte auf ihn keinen besonderen Eindruck; aber es unterschied sich augenfällig von dem Hertzschen. Der Kittel lief voran, um die getadelte Tür zu öffnen, bevor der Kunde aus dem Salon trat. Er schloß sie auch erst, als der empfindliche und wortkarge Herr schon auf der Straße verschwunden war. Hoff bemerkte diese Zuvorkommenheit nicht. Er hatte für die feineren Bezüglichkeiten des Lebens kein Organ mehr.

Ihn juckte ein wenig die nackte Oberlippe. Das hörte bald auf, weil die Luft wie eine Kühlsalbe wirkte; und damit erledigte sich für ihn der Vorgang. Seine Gleichgültigkeit, zumal gegen sich, war so groß, daß ihm auch die Motive für die Gesichtsveränderung zwanzig Schritte weiter nicht mehr beachtenswert erschienen. Er dachte jetzt, weil er eben die Brieftasche in der Hand gehalten hatte, an das viele fremde Geld, das er besaß. Dadurch kam er auf den einstmals sauber ausgearbeiteten Fluchtplan, nach welchem er bereits im Zug nach Basel hätte sitzen sollen. Aber er sah wiederum keine Veranlassung zum Fortfahren ein, ohne sich an seine Überlegung von gestern abend zu erinnern, die das Hierbleiben als eine taktische Klugheit anerkannte. Welcher Unterschied bestünde denn für ihn zwischen dieser und einer anderen fremden Straße? Weil sie ein paar hundert Kilometer entfernt liege, einer anderen Stadt und einem anderen Land gehöre? Was bedeute das für ihn? Nichts, gar nichts, oder doch nur die Trennung von Herrn Hertz und der alten Frau Hansmann. – Andere Namen fielen ihm im Augenblick nicht ein. – Aber er beschäftigte sich in einem absonderlichen Empfinden von Ehrlichkeit mit dem fremden Geld, das ihm nicht zukam. Wie konnte er es zurückerstatten, ohne mit der Liga in neue Verbindung zu kommen? Denn das wollte er nicht – nein, das wollte er nicht! Er pfeife auf ihre Heldenverehrung! Er wolle ungestört zusehen, wie es mit ihm weiterginge; denn so windstill würde es doch in ihm nicht bleiben. Er wolle abkommandiert bleiben, für immer. Und es war sogar angenehm zu denken, daß die Kameraden ihn außer Landes vermuten. – Ich muß wohl das Geld behalten, schon um nicht unter Umständen – weiß man denn, was wird? – aus dem allersimpelsten Grund vor die Hunde zu gehen.

 

Hoff stand vor Hertzens kleinem Haus. Er sah es zum erstenmal am Tag. Es wirkte so schlicht, gepflegt und gutgeistig wie in der Nacht. Übrigens war kein Namensschild am Vorgartentürchen. Hoff sah näher hin und entdeckte im Holz vier Löcher von kleinen Schrauben und zwischen ihnen dünn gekerbte Linien, die von dem Abdruck der Metallplatte herrührten. Es war also einmal ein Namensschild vorhanden gewesen und dann entfernt worden. Welche unerfreuliche Arbeit, seinen Namen von der Tür zu entfernen, dachte Hoff. Ob Hertz es wohl selber getan hat?

Hoff stand vor der Tür und drückte nicht auf die Glocke. Das fehlende Schild wurde ihm unbehaglich. Wieviel mußte an einem Namen hängen, die Last welchen Geschehnisses, der Laut welcher Verrufenheit, daß man ihn von der Straße entfernt! Was ist das für ein Gefühl, in dem Haus zu sitzen und jedem Menschen, der vorübergeht und das Schild lesen mag, die Rekognoszierung zuzutrauen: aha, der wohnt hier? – Hoff wußte, was an Hertz hing. Die anderen wußten nur von dem Verdacht, der an ihm hing. Das genügte schon zum Bedürfnis nach Namenlosigkeit.

Hoff läutete nicht. Er ging sogar ein paar Schritte weiter. Was lief der Mitwisser zum Mitwisser? Er, Hoff, war in seiner eigenen Angelegenheit noch nicht so weit oder fühlte noch nicht so weit, wie sicherlich dieser überkluge Mann; und vielleicht hatte er sogar Angst, von Hertz über das Fehlende aufgeklärt zu werden. Es ging doch ganz gut bisher, und das Manko zwischen ihm und der Wirklichkeit war zu ertragen, nicht wahr? – Aber ein abgeschraubter Name war bedenklich, und der abgekratzte Schnurrbart wirkte mit einemmal wie die Vorstufe zur großen Angst.

Es mußte also mit der Angst anfangen, ginge es bei ihm mit rechten Dingen zu. Angst als Anfang bedeutet wiederum, daß sie nur die Stufe zu erhöhten Bedrängungen ist. – Ich gehe weg, beschloß er.

In diesem Augenblick wurde im Haus die Gardine eines dem Vorgarten zugewandten Fensters zurückgezogen und David Hertz hinter der Scheibe sichtbar. – Jetzt ruft er mich hinein, dachte Hoff. Aber Hertz öffnete nicht das Fenster. – Ob er mich nicht erkennt? fragte sich Hoff; doch er machte dem Freund kein Zeichen. Hertz stand hinter dem Fenster und rührte sich nicht. Hoff konnte sein Gesicht nicht erkennen, weil Licht auf den Scheiben lag. – Er ist so klug, dachte Hoff, daß er mir die Entscheidung überläßt, die Entscheidung, hineinzugehen oder wegzugehen.

Hoff wandte sich ab, ohne Gruß, und ging quer über die Straße. Auf der anderen Seite drehte er sich um, von einem Alleebaum gedeckt, und sah die Gardine wieder geschlossen.

Ob er enttäuscht ist? fragte sich Hoff, oder ob er erwartet hat, daß ich gehe? Oder ob er mich in der Tat nicht erkannt hat? – Nein, er hat mich erkannt. Er weiß natürlich auch schon, daß der Minister erschossen ist.

Und wenn er mich anzeigt? – Dann zeige ich ihn an.

Das, Hoff, waren zwei böse, niedrige und dumme Gedanken. Das waren Gedanken, die du vor der Fahrt nicht gehabt hättest. Es stimmt dies und das nicht mit dir. Du weißt nicht einmal, wann du Herrn Hertz aufzusuchen fähig sein wirst. Du weißt nicht einmal, wo du jetzt hingehen sollst.

Hoff ging schließlich nach Haus.

 

Sein Zimmer war sich so gleich geblieben, es war so in sich ruhn geblieben, es war ihm so bekannt – bis auf den Balken im Fußboden, der besonders knarrte, bis auf den Geruch, der je nach der Zimmerhälfte von der Küche draußen oder von den Kosmetika auf dem Waschtisch bestimmt wurde – das Zimmer war so ahnungslos, daß Hoff verwirrt in der Mitte stehenblieb und sich nicht rühren mochte. Ob Frau Hansmann schon weiß? fragte er sich und lauschte. Die alte Frau sang mit einem ganz dünnen und sauberen Stimmchen eine getragene Melodie auf den Kater Joseph. Der Text bestand aus dem Namen Joseph, der, immer wiederholt, einmal gedehnt wurde, einmal wie einsilbig einen kurzen Ton füllte und sich jedenfalls der Modulation lückenlos anpaßte. Hoff legte seine Sachen ab und schüttelte den Kopf. Sein Zimmer, die Wohnung, der Kater und die Witwe Hansmann wußten noch nichts. Hoff verwunderte sich nicht einmal so sehr über diese Ausnahme des politisch sehr radikalen Hauses, das durch den Ministermord in ein großes Kochen gekommen war. Er bestaunte vielmehr, wie unbekümmert und unschuldig nahe die Welt von früher ihm hier auf den Leib rückte. Es stand doch nun anders mit ihm. Trotzdem tat ihm die Ahnungslosigkeit des Ortes und der alten Frau sehr wohl. Er fühlte zum erstenmal so etwas wie Zuneigung für diese Umgebung. Er stand jetzt sogar an der Tür zum Korridor und hörte sich Frau Hansmanns Darbietungen an. Sie riet jetzt im Sprechton ihrem Kater, endlich doch seinen Widerstand gegen Erbsensuppe aufzugeben; er würde sich noch einmal alle Pfoten nach Erbsensuppe lecken, wenn er sie, Mutter Hansmann, nicht mehr habe. Sie sang ein paar Töne Joseph. Sie sprach eine Feststellung: »Denn du, junger Joseph, lebst höchstwahrscheinlich länger als die alte Hansmann aus Abensberg bei Regensburg.« Sie sang. Sie sagte: »Übrigens, Joseph, haben wir nicht die geringste Angst vor dem Sterben.«

Hoff dachte: Was wird sie zu meinem neuen Gesicht sagen?

Er hielt es für gut, sie auf die Veränderung hinzuweisen, damit nicht der Anblick seiner kahlen Lippe, und die Nachricht vom Attentat zu gleicher Zeit auf sie wirkten. Außerdem gefiel es ihm, mit einem bekannten Menschen zu sprechen; denn die zwei Worte an den Barbier rechneten nicht; er hatte seit der Kreisfahrt geschwiegen. Er war beinahe neugierig, wie es mit dem Sprechen stünde. Er öffnete die Tür und rief: »Frau Hansmann!« Er hörte auf seine Stimme und fand nichts Neues im Klang und in der Aussprache. Er hörte die Antwort der Wirtin: »Joseph, unser Herr ist schon wieder zurück.«

Warum sagt sie: schon wieder? staunte Hoff.

Die dünne Frau stand in der Tür und sah ihn mit ihren guten und flinken Augen an. Hoff hatte die Hand auf dem Mund und versuchte eine scherzhafte Szene. – Ob es überhaupt mit dem Lachen geht? überlegte er; ich habe eigentlich auch früher nicht viel gelacht. – Ob er Zahnweh habe? fragte Frau Hansmann und machte sofort ihr therapeutisches Gesicht, das sich aus sanfter Genugtuung, Hilfswillen und Kennerschaft zusammensetzte. Hoff fühlte jetzt eine klare Freude über ihre Gegenwart und ihr Nichtwissen. Er gab sich zu, daß es angenehm sei, mit einem unschuldigen und ahnungslosen Menschen zu reden und daß es sich auch leichter sprechen ließe.

»Sehen Sie mal«, lockte er, nahm die Hand vom Gesicht und wollte lachen; doch er machte nur spitz und verfehlt: »Hihi!« und hörte selber, daß es unangenehm und unnatürlich klang. Auch die Wirtin hörte zuerst den falschen Ton und sah ihren Zimmerherrn etwas unsicher und befremdet an. Dann erst entdeckte sie die Veränderung im Gesicht und schlug die Hände zusammen, auf das höchste überrascht und interessiert. »Sieh einer an!« rief sie zunächst viele Male; und trotzdem der Kater nicht im Zimmer war: »Joseph, unser Herr ohne Schnurrbart!« Hoff forderte sie auf, ein Urteil abzugeben. Sie wiegte den Kopf und wurde zurückhaltend: ihr persönlich gefielen Bärte nicht schlecht, was natürlich unmaßgeblich und unmodern sei; sie schätze eben Bärte aus Pietät, weil ihr verstorbener Mann sogar einen Vollbart gehabt habe; Herr Hoff sähe zwar jünger aus, aber natürlich auch etwas fremd; man muß sich an den neuen Zustand gewöhnen, und das fiele gerade ihr nicht schwer, da sie sich an alles gewöhnen könne. Sie fragte natürlich auch, warum er es getan habe. Hoff nannte berufliche Gründe: man schätze nun einmal bartlose Tänzer. Frau Hansmann sah es ein.

Er fühlte auf einmal eine tiefe Abspannung. Selbst die paar Sätze, die er zu reden hatte, schienen anzustrengen. Er war nicht in Ordnung. Warum gab er sich eigentlich mit dieser gutmütigen Schwätzerin ab? Weil sie nichts wußte. Aber das ist doch kein Standpunkt, Hoff! Wie willst du denn mit solchen wirren Negationen weiterkommen!

»Wissen Sie eigentlich schon, Frau Hansmann?« begann er. Aber das Sprechen war nicht so einfach. Er ließ sich da in einen langen Satz ein, in eine Erzählung fast. Um Gott, wie war denn diese Geschichte zu erzählen, die er nicht einmal recht lesen konnte! Welche Arbeit für das Hirn, das jetzt gegen den Schädel wie eine schwere und lose Kugel drückte!

Frau Hansmann, sonst gesprächig, wartete immer noch auf das, was sie wisse oder nicht wisse. Herr Hoff schwieg aber beharrlich und wiegte langsam und leidend den Kopf von einer Schulter auf die andere, die Augen halb geschlossen. – »Kopfweh?« flüsterte sie und litt fast ein wenig unter dem innerlichen Triumph, daß er doch noch krank sei und heute morgen die Warnungszeichen von gestern hoffärtig wie die meisten Menschen in den Wind geschlagen hatte. – Er werde sich ein wenig hinlegen, gab Hoff ganz demütig zu und machte eine kleine Geste zur Tür hin. Frau Hansmann ging sofort und sie ging sogar auf den Fußspitzen, trotzdem man ihr gewichtloses Schreiten auch sonst nicht hörte. Hoff setzte sich aufs Bett, zog die Schuhe aus und nahm den Kragen ab.

Er hob den Kopf. Die Alte sprach draußen so leise mit dem Kater, daß man es nicht verstand. Ob es Mißtrauen war oder Neugierde aus Verwirrung: Hoff stand wieder auf, ging auf seinen Socken zur Tür und öffnete sie auf einen Spalt. – »Joseph«, sagte Frau Hansmann, »unser Herr hat keinen Schnurrbart, aber dafür die Grippe, gerade umgekehrt wie du. – Du bist also besser dran. Der liebe Gott ist zeitweise sehr tierfreundlich und sehr menschenfeindlich, fast ein bißchen ungerecht. Da hat er heute zum Beispiel den Präsidenten totschießen lassen oder was er war. Und morgen wird er natürlich den Totschießer totschießen lassen – so geht das immer weiter, Joseph ...«

Hoff schloß leise die Tür und legte sich aufs Bett. Sie hatte es also gewußt, aber wenig Aufhebens davon gemacht. Sie ist eine gute Frau. – Wer überhaupt schrie denn bisher Zeter und Mordio? Die Plakate. Selbst dieses Haus voll von Parteigängern blieb bei hitzigen Kolportagen, aber dachte nicht an Bourgeoispogrome. Was war denn, das so wenig verändert hat? Hoff lag auf dem gleichen Bett wie vor ein paar Stunden, hatte einen schmerzenden Kopf und ein Empfinden von Bodenlosigkeit. Frau Hansmann konnte das Ereignis in einem Nebensatz des täglichen Monologes unterbringen; aber er doch nicht! Die Leute vor den Telegrammtafeln konnten es gleichgültig oder kritisch lesen; aber er doch nicht! Die Tat konnte politische Folgen haben oder nicht: aber er, Hoff, er wenigstens müßte doch mit ihr verhaftet sein wie das Wort: »Tat« mit dem Wort: »Täter«! – Er lag auf dem Bett, kam nicht weiter, weil vom drückenden Schädel ein Vorhang herabgelassen wurde, und wußte nur noch, daß er schlafen könne wie jeder sehr müde Mensch ...

 

Er wachte auf, weil die Wohnungsglocke anschlug. Daß an der Tür der Frau Hansmann geläutet wird, ist etwas Alltägliches und nichts Ungewöhnliches. Das Klingeln war auch nicht alarmierend, es war eher schüchtern. Trotzdem fuhr Hoff im Bett auf und dachte das, was jeder Verbrecher denkt: sie kommen schon. Er war also mit einemmal der Tat nähergerückt; aber er überlegte dieses Phänomen nicht. Er war in der Sekunde des Aufwachens nicht etwa in einem Zweifel über die Wirklichkeit, in einer Zwischenstufe zwischen Gestern und Heute, eine Wolke zwischen sich und dem Geschehnis des Vormittags. Nein, er kam mit dem Tatbewußtsein zu sich und saß mit großen Augen und angehaltenem Atem wie einer, der Grund zur Angst hat.

Frau Hansmann ging über den Korridor, um zu öffnen. Würde sie nicht unterwegs etwas Unverständliches zu sich oder dem Kater gesprochen haben, so hätte Hoff sie nicht gehört. Die Tür zur Wohnung lag neben der Tür zu seinem Zimmer. Das Bett stand allerdings an der Gegenwand; aber er konnte doch einigermaßen auch die Worte vom Außenstehenden unterscheiden. An der ersten Frage seiner Wirtin erkannte er, daß das Läuten nicht ihr gegolten habe. Seine Angst war also berechtigt, und er dachte auch schon an die einzige Möglichkeit zu fliehen: aus dem Zimmer ins Treppenhaus zu laufen, während der Beamte oder wahrscheinlich doch die zwei Beamten die Wohnung betraten. Er dachte also sogar schon an Flucht und verwünschte, daß er die Schuhe ausgezogen hatte. Auf den Kragen hätte er verzichtet.

Dann hörte er, daß es der Zwerg Paula war. Die hohe, deutliche und artige Stimme erlaubte keinen Irrtum. Hoff ließ sich erleichtert auf das Kissen fallen. Paula war weder ein erfreulicher noch ein erwarteter Besuch (wie fand der Kerl her und was will er?), aber gegen die schreckhaften Vorstellungen der Gedanken eben war er sicherlich das kleinere Übel. Hoff hatte nicht Zeit, über seine Entwicklung zur Wirklichkeit hin, über diese neue Beziehung, die ihm im Schlaf kam, nachzusinnen. Frau Hansmann draußen war deutlich mißtrauisch: Herr Hoff sei krank und schlafe gerade. Der Zwerg erklärte höflich, daß er zu warten gerne bereit sei, natürlich vor der Tür, und daß es sich keineswegs um eine Belästigung oder Anbettelung des Herrn Rittmeisters handle, sondern um eine dienstliche Bestellung; denn er, der Überbringer, gehöre zum Personal der Imperial-Bar.

Hoff rief hinaus, daß er wach sei und daß Frau Hansmann den Herrn, der scheinbar nach ihm verlange, eintreten lassen könne.

Der Zwerg klopfte sehr diskret an die Zimmertür, trotzdem die Wirtin sie ihm bereits geöffnet hatte. Hoff sagte ein ziemlich ungeduldiges Ja. Paula trat ein und blieb bescheiden an der Tür stehen. Er trug wie immer das schäbige Jäckchen und die clownhaften Höschen, die sehr breit und sehr kurz waren – unten fehlte eine Handbreite bis zu den aufgeschnabelten Schuhen. Aber er trug einen sehr hohen und engen Stehkragen mit einer weißen, etwas unsauberen Schleife, im Gegensatz zu dem feldgrauen Strickschal, den er während des nächtlichen Dienstes als Kragenersatz benutzte. Dieser Putz galt jedenfalls dem Besuchsanzug. Hoff sah ihn zum erstenmal in einem Raum und am Tag. So wirkte er größer als auf der Nachtstraße neben den Automobilen, und sein riesiger Kopf war unerwartet rot. Es war eine harte Röte, die über den ganzen haarlosen Kopf lief, vom Kinn bis zum Nacken. Dadurch wirkte das Blau der Glotzaugen wie ein Farbenschreck. Aber diese kindliche Malerei von einem Gnomengesicht hatte einen edlen Mund mit schmalen Lippen, einen mönchischen Mund, der das Strenge und auch das Zarte verschließen konnte. Hoff entdeckte an dem Zwerg auch diesen Mund.

Paula bedauerte des Rittmeisters Erkrankung und hoffte, nicht gestört zu haben. Hoff richtete sich auf, um den kleinen Mann besser im Auge zu behalten. In dieser Stellung konnte er sich im Waschtischspiegel sehen. Sein bartloses Gesicht war ihm im Augenblick so fremd, daß er zurückfuhr. Er erinnerte sich gut, sich vor dem Schlaf ohne jede Regung besichtigt zu haben. Die Veränderungen in ihm gingen rasch und geheimnisvoll vor sich, scheinbar gesetzlos. Er gefiel sich jetzt sehr wenig, weil er kragenlos war, eine schlechte Gesichtsfarbe hatte und schlafwirre Haare. – Ich sehe jetzt kriminell aus, konstatierte er. – Vielleicht schämte er sich vor dem Zwerg, der ihn still ansah, vielleicht störte sein unschönes Bild ihn selber; er stand schweigsam auf, ging an den Waschtisch, richtete sich das Haar und band den Kragen um. Dann wandte er sich dem Kleinen zu: was er ihm zu sagen habe oder ob das Gerede von der dienstlichen Bestellung – er, Hoff, habe es also gehört – eine Ausflucht gewesen sei.

Paula schüttelte den Purpurkopf und lächelte fein: nicht einmal eine Ausflucht; der Belagerungszustand sei verhängt, die Nachtlokale seien bis auf weiteres geschlossen und die Einwohner seien gehalten, nach neun Uhr abends die Straßen nicht mehr zu betreten. Hoff zündete sich eine Zigarette an: ob man ihn, Paula, in der Tat beauftragt habe, ihm einen Erlaß mitzuteilen, der doch jedenfalls durch die Presse und durch Anschläge publiziert sei und den er, Hoff, doch selber schon gelesen haben könne. – Einen Auftrag in diesem Sinne, also etwa von Herrn Direktor Salmon oder Herrn Leutnant Huber, habe er gerade nicht erhalten, bekannte Paula, zumal er ja nicht das Vergnügen habe, einen der Herren am Vormittag zu sehen; er sei, wie er zugebe, von sich aus gekommen, im guten Glauben ... –

»Woher wissen Sie eigentlich meine Adresse?« unterbrach ihn Hoff.

Der Zwerg drückte die Augen zusammen, über diese Frage doch ein wenig belustigt. »Aber Herr Rittmeister«, rügte er leise, »ich kenne wohl alle in Betracht kommenden Adressen, ich kenne, wie Sie sich von heute nacht erinnern werden, selbst die Wohnung des Herrn ... des Ihnen ähnlichen Herrn von Tisch 21: wie sollte ich nicht bemüht gewesen sein, die Anschrift des Herrn Rittmeisters zu erfahren!«

Hoff dachte: dieser Kerl verrät mit keinem Blick, daß er mich ohne Schnurrbart sieht. Er sagte: »Also ich danke Ihnen für Ihre Mitteilung, die ich in der Tat noch nicht wußte; denn ich bin heute noch nicht aus dem Zimmer gekommen ...«

Er stockte. Der Zwerg sah ihn unbefangen an und verzog nicht das Gesicht. Hoff schrie ihn an: »Ich rasiere mich selber, verstehen Sie! Mit einer neuen Klinge geht so ein Bärtchen weg wie nichts!«

Er glaube es gerne, sagte Paula sanft. – Mit einer Grippe gehe man nicht aus dem Haus, betonte Hoff, jähzornig noch. – Es wäre leichtsinnig, nickte Paula. – »Also ich danke Ihnen«, wiederholte Hoff verabschiedend.

Aber der Zwerg ging nicht, natürlich ging er nicht. Hoff sah böse auf. »Noch etwas? – Ich dächte nicht.«

Paula blickte an ihm vorbei ins Leere.

»Mein Lieber, ich habe jetzt leider keine Zeit mehr«, sagte Hoff erregt.

Er sei doch krank, bemerkte der Kleine leise.

»Aber ich bitte Sie nicht um Ihre Gesellschaft«, versetzte Hoff.

Der Zwerg wandte ihm wieder das Gesicht zu. Das Augenblau war zugleich hart und überblank, wie glasiert. – »Herr Hoff ...«, sagte er weich.

»Ich bin krank!« rief Hoff außer sich. »Ich brauche Ruhe!«

Paula kniff merkwürdig die Lippen zusammen, und Hoff mußte seine vordringlichen Augen beobachten. Ihre Glasur nämlich schmolz, das Blanke wurde wässerig und lief über. Paula weinte stumm, ohne mit den Wimpern zu zucken oder das Gesicht zu bewegen oder die Tränen abzuwischen. Er weinte, als ob er selber es nicht bemerkte. Hoff drehte ihm den Rücken, aus Scham und aus Unsicherheit. Er fühlte, daß er dem Zwerg unrecht tat, und er wußte nicht, wie er mit dieser verwachsenen Hingabe umgehen sollte. Er fühlte auch die neue Grobheit seiner Wendung und korrigierte sie ein wenig, indem er tat, als suche er nach Streichhölzern.

»Herr Hoff«, sprach Paula hinter ihm ganz ruhig und fein, »ich habe schon einmal einem Menschen so angehangen – seien Sie bitte nicht wieder böse. Das war noch zu meiner Zirkus-Zeit. Und der Mann war ein Looping-the-Loop-Fahrer oder ein Todesfahrer, wie er sich nannte. Er machte jeden Abend und Sonntags sogar auch nachmittags seine Todesfahrt. Er fuhr mit einem winzigen Auto ...«

Hoff wandte sich getroffen und hastig um und wollte unterbrechen.

Paula hob seine schwarzhaarigen Händchen: »Lassen Sie mich doch erzählen, Herr Hoff, das kann Ihnen doch nichts ausmachen! Er fuhr also mit dem kleinen Wagen, der allerdings keinen Motor hatte, von der Zirkuskuppel eine steile Schiene hinunter, die sich dann wieder aufbog und abbrach. Er raste dadurch in die Luft, überschlug sich mit dem Wagen und landete auf einem mit Netzen abgeschlossenen und gefederten Gestell. Es war kein Trick, sondern eine reelle Sache auf Leben und Tod. Wenn die Schiene nicht auf den Millimeter genau eingestellt war oder wenn der Mann ein Pfund zu viel oder zu wenig wog, konnte es schief gehen. Er arbeitete mit einem Brother zusammen. Ein Zirkus-Brother ist natürlich kein richtiger Bruder; aber er sah ihm nun einmal ähnlich und war wie der Held – ja, ich nenne ihn Held wie Sie, Herr Hoff – er war wie der Held gekleidet, ganz in Weiß, etwa wie Herren auf Segeljachten. Dieser Brother hatte nur für das Technische und für die Sentimentalität zu sorgen. Das heißt: er überwachte ein bißchen übertrieben die Gerüstaufstellung und das Hinaufwinden des leeren Wägelchens, hielt eine kurze Ansprache über die Gefährlichkeit des Unternehmens und gab dann dem Helden zum Abschied bewegt und besorgt die Hand. Ich konnte den Brother nicht leiden, nicht etwa aus Eifersucht, sondern weil er der Schmarotzer des Heldentums war: Aber dieser letzte Händedruck regte mich jeden Tag furchtbar auf. Es gibt nicht viele Fälle, wo in einem regelmäßigen Trick so viel Wahrheit steckt oder wo der Trick einfach die Wahrheit ist. Der Held kletterte dann ganz schlank und schnell die Strickleiter hinauf und lächelte. Was war das für ein schönes und natürliches Lächeln, Herr Hoff! Oben kletterte er in das Wägelchen und band sich fest. Er saß ganz tief, man sah über der Karosserie nur den schönen Kopf. Dann wurde er ernst und bekreuzigte sich. Das war wie der Händedruck vorher, zugleich gemacht und berechtigt – oder doch viel wahrhaftiger als gemimt. Ich schwitzte immer vor Angst und Begeisterung und bekreuzigte mich auch. Dann lächelte er wieder, rief: Avanti! – er war Italiener – und löste die Bremse. Dann kam das furchtbar schleifende und pfeifende Geräusch des Absturzes – ich machte die Augen zu und betete immer den Anfang des Vaterunser, weiter kam ich nicht – dann kam der Augenblick, wo er in der Luft war und ich den Atem anhielt – und dann mußte Aufschlag und Tusch der Kapelle kommen, damit ich wieder atmen und die Augen aufmachen konnte. Der Brother band ihn los, half ihm aus dem Wagen und küßte ihn auf die Wangen. Das interessierte mich nicht mehr, das war mir sogar unangenehm. – Einmal ging es natürlich doch schief; der Himmel weiß, was nicht stimmte. Er fuhr ab, wie immer, meiner Überzeugung nach ohne Todesahnung. Auch ich hatte sie nicht. Der Wagen landete abseits und mit den Rädern nach oben. Der Held wurde nicht geköpft, der Kopf wurde in den Rumpf gestampft. Der Brother weinte ganz echt, aber er tat mir nicht leid. Ich war ziemlich krank und wurde entlassen. – Übrigens hatte der Held mit mir niemals ein Wort gesprochen. Ich bin also mit Ihnen noch besser dran, Herr Hoff. – Der Brother war zugänglicher; aber davon hatte ich nichts. Der Herr vom Tisch 21 ist ja auch freundlicher als Sie, Herr Hoff.«

Hoff hatte sich wieder aufs Bett gesetzt und ruhig zugehört. Die Erzählung interessierte ihn und war auch dem zerreibenden Dialog vorzuziehen, wie er vorher geführt wurde. Die grobe Anzüglichkeit des Schlußsatzes allerdings führte wieder zum Anfang zurück. Zumal die letzte Bemerkung war bedrohlich. Hoff saß stumm und überlegte. Er fühlte nicht viel Widerstandskraft. Er suchte auch vergeblich nach seiner Wut. Er hatte vorgestern nacht den Zwerg vom Auto schlagen wollen und er hatte ihn gestern nacht angepackt. Warum denn? Paula holte ein kariertes Taschentuch hervor und schneuzte sich.

»Warum erzählen Sie mir das eigentlich?« fragte Hoff nach einer Weile. Paula hob die Schultern. – »Ist denn«, fragte Hoff wieder, »zwischen mir und den Artisten wieder einmal eine äußere Ähnlichkeit?«

Der Zwerg sagte nein und sah ihn verwundert an.

»Eine andere Verbindung zwischen ihm und mir sehe ich nicht ein«, erklärte Hoff.

»Diese Verbindung kann nur ich schaffen«, sagte Paula leise, »und ich glaube doch, ich habe sie gezeigt.«

»Was haben Sie immer mit dem Helden?« drängte Hoff, »das empfinde ich als Verhöhnung.«

»Das glaube ich nicht, Herr Hoff.«

»Dann machen Sie mich in Ihrer Narrheit zum Brother, verstehen Sie, zum Heldenschmarotzer – Sie machen mich widerwärtig, mein Lieber.«

Der Zwerg sah ihn traurig an. »Aber ich war doch ganz deutlich, Herr Hoff! Wie kann ich Sie zum Brother machen, wenn ich weiß – und Sie wissen, daß Sie einen solchen Menschen haben.«

»Sie meinen also in der Tat Herrn Hoffnung«, sagte Hoff sofort, als habe er auf diese Auskunft hingearbeitet, »wenn Sie sich da nur nicht irren.«

»Das macht doch nichts«, meinte Paula vor sich hin.

Hoff stand auf und sagte: »Machen Sie keine Dummheiten.«

Paula hing sich mit dem Blick an ihn: »Herr Hoff – der Sekretär ...«

Hoff hielt an sich, um seine Angst nicht zu zeigen.

»Lassen Sie mich doch sprechen, Herr Hoff«, bat der Zwerg.

»Los doch!« befahl Hoff nervös.

»Der Sekretär hat nach den Blättermeldungen zwar nicht den Täter im Auto erkannt, aber er erinnert sich eines auffälligen Mannes, der genau vierundzwanzig Stunden vor dem Attentat an der gleichen Stelle stand.«

Hoff ging langsam und gefährlich auf den Kleinen zu. »Und?« fragte er. Paula wich nicht zurück.

»Ich verstehe nicht, Herr Hoff, warum der Sekretär am Leben blieb.«

»Was geht mich das an!« schrie Hoff und packte ihn am Jäckchen, wie gestern abend.

»Er ist ein Gefahrmoment«, sprach Paula und ließ sich schütteln.

»Wenn Sie«, flüsterte Hoff, »wenn Sie Herrn – – Hoffnung anzeigen ...«

»In der Not«, erklärte Paula und ließ den anderen nicht ausreden, »in der Not muß das Hemd näher sein als der Rock.«

»Aber was wollen Sie denn nur von ihm!« wehrte sich Hoff immer mühsamer, »er hat es doch sicher nicht getan – er kann doch sicher sein Alibi nachweisen ...«

»Er macht immer zwischen halbneun und halbzehn seinen Morgenspaziergang – allein natürlich.«

»Aber er hat es doch nicht getan!« schrie Hoff.

»Natürlich nicht.«

»Wo steckt dann der Sinn der Anzeige?«

»Man gewinnt Zeit.«

»Wer?«

»Wir.«

Hoff kapitulierte plötzlich. Er ließ den Kleinen los, das Zimmer drehte sich um ihn, er tappte nach dem Stuhl und ließ sich auf ihn fallen. »Woher wissen Sie eigentlich ...?« fragte er wirr und wollte, auffahrend, die Frage wieder zurückholen. Doch Paula sagte schon: »Ich kenne viele Mechaniker. Ich kenne also auch Herrn Bremser. Aber tun Sie ihm nichts.«

Hoff winkte mit der Hand ab. Was ging ihn das an? Außerdem war der Zwerg einen Liga-Wortbruch wert, das sah er ein. Paula kam näher, als fühlte er die günstige Stimmung. Er habe lange nachgedacht, ob Herr Hoff bleiben oder fliehen solle. Es sei nach allem in der Tat besser, er bliebe – schon wegen der begreiflichen körperlichen Reaktion.

»Ich bin jetzt mittendrin«, klagte Hoff und hielt sich den Kopf. Aber er meinte die Tat und nicht den zerschlagenen Körper. Es war erklärlich, daß Paula ihn falsch verstand: er halte es sogar für gut, wenn der Herr Rittmeister ein paar Tage lang das Bett hüte oder doch das Zimmer nicht verlasse; er, Paula, werde für die nötigen Informationen sorgen und stehe ihm natürlich auch sonst zur Verfügung; er, Paula, sei glücklich. – »Herr Hoff, ich bin jetzt glücklich.« –

Hoff sah ihn an. Der Kleine reichte ihm, dem schlaff Sitzenden, kaum bis zur Schulter. Der Kleine war der Sieger: man sah es ihm an. Hoff wollte ihm die Hand geben, aber es gelang ihm nicht, den Widerstand gegen das haarige Händchen zu überwinden. – Ich bin mittendrin, sagte er sich, mir muß jeder Strohhalm recht sein, ich habe Angst vor dem Ersaufen. »Glauben Sie mir«, sprach er, »das war keine Heldentat.«

Der Kleine wollte etwas Gutes sagen: »Man denkt darüber anders, Herr Hoff.«

»Ich pfeife darauf!« schrie Hoff.

»Es ist ja ...« sann Paula nach einer Tröstung, »nicht wahr, der Mut darf ja noch nicht an den Nagel gehängt werden.«

Hoff lächelte in sich hinein. Er sagte jetzt mit ziemlicher Ruhe:

»Wenn Sie Herrn Hoffnung anzeigen – wissen Sie, mein Lieber, was ich dann tue?« Er lachte ein wenig irr. »Dann stelle ich mich.«

Paula sah ihn prüfend an und wiegte den Kopf: »Gut, gut, ich werde den Herrn nicht anzeigen – aber vielleicht, nicht wahr, kommt man auch ohnedies auf ihn.«

Hoff sah ihn an. »Wissen Sie denn, wie sein bürgerlicher Name lautet?«

»Ja – Hertz. – Es ist der David Hertz.«

»Warum haben Sie es mir heute nacht nicht gesagt?«

»Ich weiß es erst seit heute vormittag – genau gesagt, seit drei Stunden.«

»Sie können ihn nicht leiden?«

»Nein.«

»Aber das ist doch nichts als Einbildung! Er schmarotzt doch nicht von mir, wie der Brother von Ihrem Artisten! Im Gegenteil, mein Lieber ...«

Paula hob widerspenstig die Schultern.

»Und wenn ich Sie bitte ...« sagte Hoff.

Paula unterbrach: »Er steht übrigens noch unter Polizeiaufsicht, jedenfalls ohne daß er es weiß.«

Hoff gab es auf. Er gab auch das auf. Der Kleine war viel stärker.

Hoff fühlte die dicke Geldtasche. Er holte sie aus der Brusttasche und entnahm ihr eine Hundertfrankennote. »Für Herrn Bremser, aber ohne Angabe meines Aufenthaltes,« sagte er und gab sie dem Zwerg. Paula verbeugte sich. »Benötigen Sie ebenfalls eine Kleinigkeit?« fragte Hoff mit Takt.

»Nicht das geringste«, erwiderte Paula und verbeugte sich wieder. Er ging gleich darauf.


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