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Masken

Das Haus des Revolutionsministers lag in so geringer Entfernung vom Parlament, daß der Hochverräter – wie er von Hubert Hoff und seinen Freunden genannt wurde – nur in ganz seltenen Fällen den Kraftwagen zu benutzen pflegte. Das wußte man. Man kannte auch die Stunde, in der er, begleitet von seinem verwachsenen und scheuen Sekretär, im Hauptportal des barocken Baus auftauchte, kurzbeinig und fest die Allee zum Parktor durcheilte, vor den beiden salutierenden Matrosenposten höflich und etwas lächerlich den Hut zog und immer den gleichen Zehnminutenweg wählte. Man hatte sich sehr große Mühe gegeben, jede Sekunde dieses wichtigen Stundensplitters auf ihre Eignung zu untersuchen. Man wußte jetzt Bescheid und kannte den gültigen Augenblick. Man kannte sogar – und es schauderte vor solchem Weitblick keinem – das Stück des Bürgersteigs, das unter die erwählte Spanne Zeit zu liegen kam (auf das der Blitz einschlagen wird, formulierte Hoff): fünfzehn gute Meter zwischen einem Gully und der Bordschwelle einer stillen Querstraße.

Die entscheidende Führersitzung der National-Liga, bedeutender Kampforganisation der gegenrevolutionären Bewegung, dauerte bis in die Nacht. Hubert Hoff vom Aktionskomitee, gerade zweiunddreißigjährig, verabschiedeter Kavallerieoffizier, ein schmaler zäher Mensch, der die innere Wildheit mit urbaner Haltung und die innerlichste Zartheit wiederum mit dem verwegenen Leben gut zudeckte, war begreiflicherweise der Mittelpunkt. Als er in den dicken Februarnebel der ersten Morgenstunden hinaustrat und endlich allein war, gab er sich, ernüchterten Kopfes, ohne weiteres zu, daß ihm die heftige Zuneigung dieser Männer, von denen mancher auf schiefer Ebene lag, keiner aber ein Feigling war, auf bestimmte Art, wie ein Narkotikum etwa, wohltat und die Hemmungslosigkeit seines Wesens von der Vernunftkontrolle befreite. Vor der körperlichen Verbindung, wie sie unter seinen Kameraden nicht selten war, hatte er von jeher die abweisende Scheu seiner normalen oder beinahe simplen Natur; aber die im tiefsten Grunde körperliche Wirkung ihrer soldatischen und gefährlichen Gemeinsamkeit, ihrer selbstverständlichen Vertraulichkeit und Nähe, ihres Willens, ihres Lobes und ihres Knabenhanges zur Verehrung nahm er immer wieder an, zwangsläufig wohl. Der schlechte Pfälzer belästigte viel mehr den Bauch als den Kopf. Der leichte Rausch kam nicht vom Wein, nicht einmal von dem, was beschlossen und zu tun war, sondern von der Zärtlichkeit, die alle, vierzehn Männer zwischen fünfundzwanzig und fünfzig, Entwurzelte zumeist, aber auch Fanatiker mit gutem Einkommen – alle ohne Ausnahme an ihn, den Helden, verschwendeten. Er fing die Liebe auf, wurde immer wichtiger vor sich selber und vor den anderen großspuriger, als es seine Art war. Er gestikulierte, er rettete das Reich, er hatte es schon gerettet.

Jetzt schüttelte er den Kopf. Er schätzte den Überschwang nur bei den anderen. Bei sich war es billig. Außerdem litt die ganze Organisation an unsachlichen Gefühlen und vorgeschossenen Lorbeeren. Die Heldenverehrung bremste nicht nur das Tempo der Vorbereitungen, sondern behinderte auch jede Aktion selber. Was hatte schließlich der mächtige Aufwand an Geheimnis, Energie und männlicher Bereitschaft bisher erreicht? – Hoff hielt es sich zugute, einen klaren Kopf zu besitzen und diese Frage den Kameraden nüchtern und nachdrücklich gestellt zu haben. Seine Mimik vor der Tat war unnötig gewesen, beschämend für ihn und auch nicht ganz unbedenklich. Denn er wußte aus der Erfahrung des Krieges und des Nachkrieges, daß man die Gefühle, die man rief, nicht immer mit der wünschenswerten Wendigkeit losbekam.

Gefühle sind undiszipliniert und halten sich nicht in Reih und Glied. Jenes hübsche Mädchen aus Tirlemont, bei der er im August 1914 schlief und die er erschoß, weil sie ihn erschießen wollte, spukte bis heute in entlegenen Träumen. Das war nur ein Beispiel gewesen und ein abseitiges vielleicht. Hoff wurde ärgerlich: Wahrhaftig, das war ein völlig schiefes Gleichnis, eine Folge ganz anderer Voraussetzungen, ein bißchen Liebe, ein bißchen Mitleid. Aber daß er in diesem Augenblick daran dachte! Und schon wieder sah er über sich ihr verzerrtes und verzweifeltes Gesicht, als er ihr das winzige Revolverchen aus der Hand rang und es fünfmal gegen sie abdrückte. Und da er nichts als Gesicht und Hals sah, traf er fünfmal Gesicht und Hals, und schon nach dem ersten Schuß mußte er das Schulterchen halten, damit der Körper nicht auf ihn fiel; und in den fünf grob trommelnden Sekundenzehnteln zerbarst das gefällige Gesichtchen in fürchterliche Trümmer, in Entstellungen von irrsinniger Prägnanz der Menschenwidrigkeit, in einen Höllenfilm, einen zittrigen Atemzug lang, dessen fünf Akte von der Zerstörung des lieben Gottes im Hirn festsaßen, mit einer oft verfluchten Hartnäckigkeit. Bis zu jenem Flammenwerfer, einem der ersten, die an seinem Frontabschnitt verwandt wurden, von ihm, Hoff, Oberleutnant, freiwillig bedient, aus Freude am technischen Gerät eigentlich – Flammenwerfer, ein Wort wie der Beiname einer mythischen Gottheit, ein zorniges Wort, ein tolles Gerät, das den englischen Sturmtrupp auffraß, zerschnitt, zersägte, stäupte und stach, bis nichts Kenntliches mehr da war und jedes Gewebe aufgelöst, Leben, Fleisch, Knochen, Haut, Kakhistoff und Wickelgamasche: ein Autodafé von so schauerlicher Konzentration, daß das in fünf Explosionen platzende Mädchengesicht an Nähe und Deutlichkeit verlor.

Jetzt blieb der Mann stehen und stampfte mit dem Fuß auf, sehr ärgerlich. Da rollten die blöden Gedanken wie ausgeschüttete Erbsen die Treppen hinunter in den Gemütskeller, unaufhaltsam und lächerlich. Unaufhaltsam? Nein. Man konnte aufhalten. Man konnte aus dem Vorfall wieder lernen. Das kam von der Gefühlsduselei nach Mitternacht und war im Grunde eine physiologische Angelegenheit, eine körperliche Schlaffheit. Doch man hat sich Gott sei Dank in der Hand, man reißt die Knochen zusammen, man kommandiert sich in die Nüchternheit oder richtiger gesagt: in die Gefühllosigkeit zurück, man gibt der Romantik, Mutter der Sentiments und fatale Marketenderin in allen Landsknechtlagern, einen Tritt. Das kann man.

Doch an den Schlaf war nicht gut zu denken. Abgesehen von der Spannung der Nerven, die nicht wegzuleugnen und auch nicht blamabel war, hatte ihn die Beschäftigung, der er zu jener Zeit nachging, an wache Nächte gewöhnt. Er zog die Uhr. Es war kurz vor zwei, für das Geschäft ein wenig spät. (Den Ausdruck »Geschäft« für die »Imperial-Bar«, der er als Eintänzer angehörte, hatte er von den Kellnern übernommen.) Doch sich zu abgestandenen Zeitungen in ein Café zu setzen, war noch trister. Er stieg in eine Autodroschke, die bockig anlief, und fuhr ins Geschäft. Schließlich hatte er den Smoking für diesen Fall angezogen. Es mag sein, überlegte er und seine Stimmung besserte sich – es mag sein, daß die Feierlichkeit der steifen Hemdbrust, der einzigen im Kreise der Sakkos und Windjacken, das ihrige zu seiner Ausnahmestellung in der Führersitzung beigetragen hat. Im gleichen Augenblick aber erinnerte er sich an einen eindrucksvollen, wenn auch bolschewistischen Holzschnitt, den er kürzlich in einer linksradikalen Zeitschrift sah: Darstellung eines befrackten Henkers. Hoff, konsequent, machte sich sofort über den Henker lustig.

Die Imperial-Bar verschoß ihr weißblaues Namenslicht ziemlich nutzlos; denn sie traf kaum mehr einen Passanten. Ein paar Autotaxi nur nutzten die Helligkeit aus, um ihrer Wartelangmut die Standlichter zu ersparen, und trugen voll Geduld ihre schlafenden Lenker. Diese Männer waren Schlafkünstler, von Hoff oft bewundert, und unterschieden sich und ihre Temperamente nicht einmal durch die Stellung, die sie einnahmen; sie alle lagen mit dem Unterkörper auf der Steuerseite, mit dem Oberkörper auf dem Nebensitz und hatten, da sie die breiten Pelzkragen aufschlugen, insgesamt keinen Kopf. Hoff bezahlte seinen Mann und wußte, daß Wagen und Chauffeur sich den anderen anschlossen und in erstaunlich kurzer Zeit verlöschten und erstarrten wie jene. Er wußte aber auch, daß es genug Polizeispitzel unter den Fahrern gab und daß unter Umständen ihrer Taubheit wenig zu trauen war. Hoff pflegte die Menschen unter bestimmten Gesichtspunkten zu sehen.

Auf dem Trittbrett des ersten der wartenden Autos hockte ein Schatten. Das war ein zwerghafter Mensch, der den Wasserkopf tief zwischen den Schultern trug, ziemlich widerwärtig, schon äußerlich nicht ganz geheuer. Dieser Mensch wurde, jedenfalls wegen seiner Mädchenstimme, Paula gerufen. Er lebte wiederum von den Autos, sozusagen als Verbindungsmann zwischen den müden Halbgöttern in der Bartür und den bereiten Fahrzeugen. Er hatte eine besondere Technik, im Bedarfsfall den aufzurufenden Chauffeur in möglichst schneller Zeit zu wecken, während der fünf Meter Anfahrt den Schlag zu öffnen und ihn hinter den Fahrgästen nicht eher zu schließen, bis er sein Honorar empfangen hatte. Als kaltblütig rechnendes Wesen empfahl er sich außerdem den Kokotten, die das Lokal besuchten, als Glücksbringer und erlaubte ihnen gegen kleines Entgelt, ihm über den Buckel zu fahren, den er übrigens nicht hatte. Seine Wirbelsäule war wohl etwas verbogen, der Eindruck des Verwachsenseins kam aber nur von den hohen Schultern und dem zu kurzen Hals. Für Mädchen, die ausdrücklich den Höcker verlangten, konnte er auf unwahrscheinliche Art ein Schulterblatt herausdrücken.

Dieses peinliche Geschöpf nahm in Hubert Hoffs Augen eine besondere und fatale Stellung ein; denn er war im Bezirk der Imperial-Bar der einzige, der von Hoffs politischer Tätigkeit eine Ahnung hatte. Er pflegte den Eintänzer mit einer gewissen Hingerissenheit zu grüßen und in der Sekundenspanne des Eintritts oder Austritts auf aktuelle Vorgänge der Politik mit ganz kurzen, aber klar gegenrevolutionären Formulierungen einzugehen. Hoff, der ihn für einen Provokateur hielt, antwortete kaum und hatte schließlich versucht, ihn durch eine ziemlich grobe Erklärung seiner Gleichgültigkeit in politischen Dingen loszubekommen. Aber des Kleinen Glotzaugen blieben gläubig an ihm hängen; und dann hatte er etwas Verblüffendes geflüstert: das von der Liga ängstlich gehütete Geheimnis, daß der berühmte Freikorpsführer Hartmann in der Stadt sei. Hoff war im Gegensatz zu seinen Kameraden beherrscht und vorsichtig; er hatte getan, als höre und begriffe er nicht. Doch er erkundigte sich gelegentlich bei dem Listenführer der Organisation nach dem Zwerg und ließ ihn auf die Abwehrliste C setzen (Spitzel minderen Ranges, gemäßigte Sozialisten, ein paar Parteisekretäre und liberale Redakteure, kurz: subalterne Gegner von nur mittelbarer Gefährlichkeit), nachdem es sich herausgestellt hatte, daß er der Bewegung unbekannt war.

In dieser Nacht erwartete der Zwerg Paula nicht mehr den Eintänzer Hoff (oder Umberto, professeur de danse, wie er im Programm hieß). So übersah er sein Kommen, was Herrn Hoff nur recht war. Auch der mit Prunk gekleidete Türhüter, ein früherer Hartschier namens Huber, etwas läppischer, also unbrauchbarer Anhänger der alten Zeit, unterbrach die Ermahnungen, die er einem krank aussehenden, ihn um Fahrgeld angehenden Tanzmädchen zusammen mit dem kleinen Geldschein zuteil werden ließ, und begrüßte den Eintretenden mit der Versicherung, daß nichts mehr los sei. Er betitelte – wie übrigens auch der Zwerg Paula – Herrn Hoff mit Professeur oder Rittmeister, je nach Stimmung, und achtete streng darauf, daß die kleinen Mädchen, denen er sozusagen als Personalchef vorstand, ihn selber mit »Herr Leutnant« anredeten; denn er hatte den Krieg als Offizierstellvertreter in einem Bekleidungsamt abgeschlossen.

Es war in der Tat nichts mehr los. Die wenigen Gäste, die in ihren Verschlägen rings um die leere Tanzmanege saßen, beschäftigten sich mit ihren Mädchen, der Umwelt schon sehr entrückt. Die Einzelgänger ohne Sekt und Frau, Tanzschnorrer, Mokkatrinker und Portokassenkavaliere, hielten nur an Sonnabenden, Sonntagen und Monatsersten bis in die ersten Morgenstunden durch. Die Kellner nannten sie Einspänner und behandelten sie schlecht. Jetzt fehlten sie bis auf einen, mit dem es eine besondere Bewandtnis hatte. Die Musik machte immer größere Pausen, die der sich langweilende Schlagzeugspieler, eigentlich ein Phänomenologe, unregelmäßig und erschreckend mit dumpfen Schüssen der Fußpauke ausfüllte.

An einem abseitigen Tischchen saßen die beiden Lokalinhaber und rechneten mit dem Ober, einer Botschafterphysiognomie, ab. Von den beiden Chefs war der Repräsentative ein echter Graf, der sein Nachkriegsleben auch als Eintänzer begann, durch seine bewundernswerte Figur und sein etwas morbides Antinous-Gesicht schnelle Karriere machte und politisch von beschämender Gleichgültigkeit war. Jeder Dame, die in Herrenbegleitung erschien (natürlich nicht den Professionellen des Hauses), wurde von Leutnant Huber die gräflich gekrönte und genealogisch bedeutsame Visitenkarte in die Hand gedrückt, auf der in zierlichster Kursiv zu lesen stand, wie sehr der Standesherr sich über den Besuch freue und welches Vergnügen er ihr versprechen zu können glaube. Das war die vollkommen selbständige und zumal in Revolutionszeiten wirksame Idee des einwandfrei befrackten Repräsentanten und so ziemlich die einzige Mitgift, die er außer seiner bestechenden Persönlichkeit ins Geschäft mitbrachte.

Der Geldgeber, der andere, war unansehnlich, blond, stupsnäsig, aber bärenstark, ein trefflicher Boxer und von den Lokalkrakeelern sehr gefürchtet. Dieser Herr mit Namen Salmon, der das überflüssige O rätselhafterweise selbst aus behördlichen Namenspapieren herauszuwerfen verstanden hatte, war bis zum Krieg Untermann in einer international bekannten Varieté-Athletikgruppe, dann in England interniert, wo er von dem Lagerkommandanten, einem Boxmeister, als Sparring-Partner ausersehen wurde und seiner beträchtlich angesammelten Wut in gültiger Form Luft machen konnte, dann in einem englischen Militärgefängnis, weil sein Gegner doch schließlich an einem furchtbaren (und verbotenen) Nierenschlag zugrunde ging, nach dem Krieg und seiner Entlassung mit wenig Glück Berufsboxer, mit mehr Glück Boxkampfunternehmer, mit ausgesprochenem Pech Börsenspekulant und schließlich, schon ruhebedürftig, Geschäftsführer der Imperial-Bar-G. m. b. H. Er war ein nicht unsympathischer und nicht einmal unanständiger Mensch, wenn auch etwas geschwätzig. So hatte Hubert Hoff die salmonische Lebensgeschichte mehr als einmal anzuhören, vor allem den entscheidenden Boxkampf mit dem englischen Militärmeister. Er, Hoff, dagegen blieb schweigsam und erzählte nichts von sich, auch als Salmon seine Neugierde nicht mehr beherrschen konnte und nach Eltern und Leben des Professeur und Rittmeisters fragte. Sein Vater sei zehnfacher Millionär gewesen, pflegte Hoff zu antworten, sonst nichts, und dabei auf unverschämte Art zu grinsen. Politisch war Salmon undurchdringlich. Hoff hielt ihn für einen Rebellen.

Der Graf, der Herrn Hoff auf Grund der Empfehlung eines Regimentskameraden und eines virtuos vorgetanzten Tangos engagiert hatte, empfand gegen ihn von Anfang an eine Abneigung, die von Hubert erwidert wurde, ohne daß der eine oder andere sich über die Gründe klar werden konnte und ohne daß sie sich im Verlauf der ziemlich reibungslosen Zusammenarbeit näherkamen. Sie sprachen miteinander niemals mehr als das beruflich notwendige. Sie vermieden schon in der ersten Stunde peinlich jedes Wort, das in den Bereich persönlichen Interesses abgleiten konnte. Vielleicht hielten sie sich beide für Schwindler, vielleicht aber war es auch eine Art von Scham. Wenn Salmon mit einer privaten Frage gegen Hoff ausholte, entfernte sich der Repräsentative mit gewölbten Brauen.

Hoff hatte sich für diesen Abend entschuldigt. Als er dennoch kam und zu so später Stunde, quittierte Salmon solche Pflichttreue mit einem freundschaftlich-spöttischen » Cheer!« (er pflegte nur in englischer Sprache zu ironisieren) und grüßender Hand. Der Graf hob nur den Kopf, sein Einglas blinkte. Dann rechneten sie weiter. Von einem nahen Tischchen leuchteten in Belladonna die Augen der Berufstänzerin Ly, eigentlich Lilly Schmid, einem fünfundzwanzigjährigen ehemaligen Kinderfräulein, der Partnerin Hoffs – »Umberto und Ly, das mondäne Tanzpaar« – der Ly, eines gelbblonden, dünnen, frigiden Mädchens mit den erforderlichen schönen und langen Beinen. Sie war vertraglich verpflichtet, bis zwei Uhr das Lokal durch ihre Anwesenheit zu erfreuen (so lautete der höfische Text des gräflichen Autors), auch wenn sie nicht mehr tanzte – auch wenn sie, wie heute, keinen Kavalier hatte. Sie hatte sich gelangweilt; sie hob jetzt, froh über Hoffs Ankunft, den nackten Arm. Sie rief mit ihrem dünnen Girlstimmchen: »Umberto!« (laut Vertrag galt im Dienst nur der Künstlername) und sprach auch das R englisch-gaumig aus. Das fand der Graf, zugleich Regisseur, hübsch und das wurde auch in einem grotesken Stepptanz, nur Sonnabends und Sonntags, als Schlußapotheose verwendet. Umberto hatte mit »Ly!« zu antworten, mit ebenfalls angelsächsischem L, und die Dame, die daraufhin auf ihn hinaufhüpfte und, die Arme und den Oberkörper loslösend, seine Hüften mit den Beinen umschlang, wirbelnd um sich als Achse zu schwenken.

Doch Hoff kam nicht zu ihr, wie die Chefs, die Kellner, die Musiker und übrigens auch jener besondere Einzelgast es erwarteten, sondern er blieb stehen, ihr freundlich zuwinkend, schien etwas zu überlegen und ging dann an den Tisch der Chefs. Der Schlagzeugspieler half ihm durch einen mächtigen Paukenschlag und durch ein dreimaliges Hupen. Mädchen kreischten. Die Chefs fuhren auf, der Ambassadeur, Ober Charles, der von den Angestellten Exzellenz genannt wurde, bewegte mißbilligend die weißen Brauen. Ob er störe, fragte Hoff. Never, sagte Salmon; der Graf kreuzte die Beine, sah auf seine Lackschuhe und hatte dünne Lippen. Hoff sah den Ober Charles an; aber Charles ging nicht. Dieser Mann haßte ihn und jeden Offizier – selbst den unblutigen Grafen, der nie aus Brüssel herausgekommen war – weil sein einziger Junge, Rekrut, noch in den letzten Oktobertagen 18 gefallen war. Hoff fand diesen Haß unsinnig, wenn auch entschuldbar.

» What's to day, Rittmeister?« fragte Salmon, und warum er überhaupt noch gekommen sei. Aus Freude am Beruf, behauptete Hoff, und was sein Anliegen betreffe: er habe den Herren mitzuteilen, daß er bedauerlicherweise aus privaten Gründen genötigt sei, am Ende der laufenden Woche seine Tätigkeit in der Imperial-Bar einzustellen, also seinen auf monatlicher Kündigung beruhenden Vertrag zu brechen, und daß er es den Herren überlasse, ob sie ihn zur Zahlung der vorgesehenen Konventionalstrafe verurteilten oder ob sie sich mit der Stellung eines Ersatzmannes in der Person des bekannten Tänzers Ernest von dem eben verkrachten Luna-Kasino zufrieden gäben. Ohne ein Zeichen des Erstaunens oder der Mißbilligung entgegnete Salmon sofort, er habe die Hälfte der Konventionalstrafe zu entrichten und außerdem Ersatz zu bringen; eben diesen Ernest, der seinerseits sich den Abzug der anderen Bußgeldhälfte von der Gage dieses und des nächsten Monats gefallen lassen müsse. Dann machte er eine kleine Pause und fragte geradezu:

»Was sind denn das für private Gründe?«

»Familienangelegenheiten.«

»Ach – oder ein Engagement bei der Konkurrenz, na?«

»Möglicherweise.«

»Oder Auslandsengagement, was?«

»Möglicherweise.«

Dem Grafen wurde es zuviel. Er hob den Kopf und sagte in seiner gedrängten Form: »Wenn gehen wollen – bitte.«

Hoff beendete diese Unterhaltung mit einer kleinen Verbeugung und ging zu Ly. Salmon, der Graf und Ober Charles kamen übergangslos auf ihre Abrechnung zurück. Für sie, als Leute des Geschäfts, galten Zwischenfälle dieser und noch weit stärkerer Art nicht viel. Als neulich, auch zur Stunde der Abrechnung, einen schwerbetrunkenen Gutsbesitzer gesetzten Alters der Schlag traf, in einer der besten Sektlogen, zehn Meter entfernt, hatte die Unterbrechung ihrer Tätigkeit kaum länger gedauert, mit dem Unterschied, daß der Graf, der krasse Darstellungen des Schicksals nicht sehen konnte, sich mit dem Rücken gegen das Lokal setzte. Daß dem Mister Salmon die Kündigung des Eintänzers, den er jedenfalls wegen seiner Lebendigkeit gern hatte, ein wenig leid tat, daß der Graf das vage Gefühl einer Erleichterung und Ober Charles die manische Empfindung eines Siegers verspürte, ging logischerweise die Abrechnung nichts an, die überdies als Endziffer zu wünschen übrigließ.

Umberto und Ly hatten kein Verhältnis miteinander, entgegen der Meinung des ganzen Lokals. Den Mann reizte sie nicht, auch wenn sie nicht genötigt gewesen wäre, von einer bestimmten Höhe der Zeche ab (zwei Flaschen deutschen oder eine Flasche französischen Sektes) dem betreffenden Kavalier auch für den Rest der Nacht Gefolgschaft zu leisten, wünschte er es. Und für Lilly Schmid brauchte nach ihrem freimütigen Geständnis, das sie gerne jedermann wiederholte und das jeder Kellner kolportierte, das Lieben nicht zu existieren. Sie schätzte ihren Partner, weil er ein »Herr« war, im Gegensatz zu anderen Kollegen, die nicht ohne Grund von ihr als »Kerls« oder sogar als »Schweine« charakterisiert wurden. Aber sie empfand auch ein bestimmtes Mißbehagen gegen seine Kühle und seine Höflichkeit, vielleicht weil sie an beides nicht gewöhnt war, vielleicht aber auch, weil ihr guter Instinkt in ihm eine Welt witterte, die sie nicht kannte, aber die gewiß wenig mit seiner äußeren Haltung zu tun hatte. Alles in allem: sie fürchtete ihn mehr, als sie ihm traute. Und da sie auf unmittelbare Erklärungen aller Phänomene hielt, sagte sie sich und ihm, daß ihre Angst von seinen Augen käme. Seine Augen, tiefliegend und ungewöhnlich langwimperig, wechselten allerdings irritierend von graubraun zu graugelb.

Sie war natürlich neugierig; aber vor ihm hütete sie sogar ihre Neugierde. Sie fragte ihn nicht nach dem Inhalt der kurzen Szene am Tisch der Chefs, sondern sagte ihm, daß es an stillen Tagen ohne ihn zum Sterben langweilig sei: kein einziger anständiger Tänzer außer dem kleinen ungarischen Studenten mit dem zischenden Namen, der aber so abgebrannt sei, daß er sich nicht einmal ein Kirschwasser leisten konnte und nach zehn Minuten wieder gegangen sei. Mein Gott, sonst sei natürlich der warme Seelendoktor dagewesen, selbstredend mit seinem Freund José, bei dem ja nur die prall über dem Gesäß sitzende Hose und das Affenjäckchen spanisch seien; und der Doktor tanze ja nicht, sondern spräche nur Unanständigkeiten, die sie beim besten Willen nicht verstünde. Lilly geriet mit ihrem quicken Schwatz sehr oft ins Uferlose. Trotzdem hätte Hoff Gelegenheit genug gehabt, sie an der rechten Stelle zu unterbrechen und ihr zu sagen, daß er nicht mehr sehr lange die öden Stunden und auch nicht die lebhaften dieses Lokals mit ihr teilen werde – oder wie man sonst Änderungen einschneidender Art andeutet. Er hatte jetzt erst den besonderen Einzelgast entdeckt und war, den Rauch der Zigarette in die Lungen ziehend, in Gedanken geraten. Plötzlich sagte er:

»Der Kerl ist doch immer da.«

»Wer?« fragte sie.

»Mein sogenannter Doppelgänger.«

»Ach, diese Fahne auf Halbmast«, sagte sie geringschätzig, ohne hinüberzublicken.

Das Gleichnis war gut, wie manche ihrer eiligen Bemerkungen. Hoff lächelte ein wenig. Das Doppelgängertum jenes Herrn war fragwürdig, wie meistens die Ähnlichkeit zwischen fremden Menschen. Hubert Hoffs Gestalt und Gesicht zumal, vielleicht mit Ausnahme der Augen, waren von durchschnittlicher Prägung, in hundert anderen wiederholt. Auch jener Herr war mittelgroß und gut angezogen, hatte die fahle Haut übernächtigter Menschen, ein dunkles Schnurrbärtchen, eine klare, mehr breite als hohe Stirn, dunkles, etwas fettglänzendes Haar mit korrektem linken Scheitel. Aber die Augen waren ganz anders: gütiger, stumpfer, etwas kurzsichtig, oft zusammengekniffen. Der Mund, das Kinn, die Hände waren anders. Und über den ganzen Menschen und seine spärliche Bewegung war die Traurigkeit ausgegossen, die Lilly Schmid glossierte. War Hoff traurig? Bei Gott nicht. Jener andere, der seinethalben ein trister Bruder von ihm sein konnte, ein Herbstgeborener, ein Saturnbeschwerter, war in der Tat fast jeden Abend im Lokal, immer allein, immer von elf bis zwei, immer eine Flasche des gleichen schweren Burgunders trinkend und mit verhangener Aufmerksamkeit die Menschen in seinem Blick betrachtend, die Paare, die Tanzenden, die sich Gehenlassenden. Nur an den Sonnabenden und Sonntagen kam er nicht. Da er mit niemandem sprach, blieben seine Personalien unbekannt. Die Kellner, die gerne mit ihrer Welt wie mit einem Tablett voller Gläser handfertig und etwas kleinlich sensationell umgingen, sich über seine Ähnlichkeit mit dem Eintänzer nicht beruhigen wollten und sie bis zum Schnitt des Smokings, des Eckkragens und der schwarzen Krawatte nachwiesen, nannten ihn, den bürgerlichen Namen des Professeur nicht witzlos verlängernd: »Die Hoffnung«. Sie hielten ihn für ungemein reich, da einmal Ober Charles, kassierend, in der Brieftasche des Gastes fünf englische Pfundnoten wahrnahm, und sagten ihm ohne weitere Begründung, nur weil es in ihren und den Zeitgeist paßte, ein schlechtes Gewissen nach. Das bedeutete, daß sie keinesfalls erstaunt wären, ihn eines Tages als Giftmörder, Sexualverbrecher, Spion einer fremden Macht, Millionendefraudant, Mädchen- oder Giftgashändler entlarvt zu sehen.

Da er niemals tanzte, keinen Gefallen an der Gesellschaft der Lokaldamen bekundete und durch sein tristes Wesen gegen den Sinn des Unternehmens verstieß, stand der nüchternen Lilly Schmid Interesse an dem Herrn, der Hoffnung hieß, in umgekehrtem Verhältnis zu dem der Kellner. Sie hatte den Einwurf Umbertos und ihre eigene Metapher im Nu vergessen und dachte an keinen Zusammenhang, als ihr Partner verwunderlicherweise der Kapelle das D-Zeichen gab. Dieses Signal – mit dem gestreckten Zeigefinger der Linken und dem gespreizt angelegten Daumen und Zeigefinger der Rechten auf simple Weise gegeben – bedeutete Damenwahl, einen etwas anrüchigen Trick turbulenter Sonntagsnächte, der zumeist für die jeweilige Paarung bestimmend war und darum für die noch einsamen Damen von beruflicher Wichtigkeit wurde. Zu dieser gähnenden Stunde war sie sinnlos. Doch noch ehe Lilly ihren Protest aussprechen konnte, brüllte schon der Schlagzeugmann, froh über jede Abwechslung und exzentrisch von Natur, die Parole durch das Megaphon, jede Silbe durch einen Paukenschlag trennend. Der Beifall, den daraufhin die Damen laut Anweisung des gräflichen Regisseurs zu äußern hatten, klang jetzt sehr dünn und wurde zum Teil von der belustigten Kapelle ausgeführt. Der Graf selber blinkte kurz mit dem Einglas, kümmerte sich aber nicht weiter um den subalternen und schließlich nicht schädlichen Spaß. Salmon sagte friedlich, ohne aufzuschauen: Madmen. Das Orchester, das seinen Witz verschwenden wollte, intonierte einen ziemlich schwierigen Rhythmus, einen Paso duplo, der kaum für Allgemeintänze verwendet wurde und aus dem Repertoir der Vortänzer stammte.

Hoff bat seine Partnerin, Hoffnung aufzufordern. Er sagte es freundlich, aber in der knappsten Form und ohne jede Begründung. Lilly Schmid ihrerseits, vom Angelsächsischen, ja von jeder Höflichkeit weit entfernt, äußerte jetzt scharf berlinisch ihre Zweifel an seinem Verstand. Hoff lächelte etwas verschlagen und im Grunde nicht ganz bei der Sache. Dringlich aufgefordert, doch endlich den Zweck seines offensichtlich sinnlosen und launischen Begehrens zu nennen, blieb er noch ein paar Sekunden stumm und etwas verkniffen hinter dem Rauch seiner Zigarette und äußerte dann etwas von psychologisch-charakterologischem Interesse. Gegenüber dem exotischen Glanz solcher Fremdwörter war Lilly Schmid schwach, wie der durchtriebene Umberto wußte. Sie konnte durch den psychoanalytischen Jargon jenes sonst peinlichen Doktors, dessen José hartnäckig, aber doch prachtvoll auf dem einen Wort »schizophren« hohe Schule ritt, in eine beinahe metaphysische Verzückung geraten und suchte die Gesellschaft des sonst für sie nutzlosen Gelehrten nur aus diesem Grund. Jetzt stand sie auf, das kaum mehr ärgerliche, ja schon respektvolle Gesicht trug mit zwei winzigen Falten des Stirnchens die Last der Fremdwörter. Sie ging um die Tanzmanege herum zum Tisch des traurigen Mannes und zeigte schon nach wenigen Schritten das zugleich hübsche und dumme Lächeln wie im Licht der roten Scheinwerfer, in das ihre Tanzdarbietungen vertraglich getaucht waren.

Sie ging allein, weil die anderen Damen ohne Ehrgeiz waren oder auf den Widerstand ihrer Herren stießen, die in der späten Stunde, ihrer Aussichten durchaus gewiß, Komplikationen wie der aufgespielten für die schweren Glieder scheuten. Die scharfsichtigen Musiker waren die ersten, die das Ziel der Tänzerin Ly erkannten und mit Hallo und Bravo begrüßten. Die Kellner, soweit sie nicht dem Tisch der Chefs zu nahe standen, stimmten ein und begingen dadurch einen Akt der Disziplinlosigkeit, die Herrn Salmon berechtigt hätte, sie an die Luft zu setzen. Doch sie waren sehr neugierig und dadurch ohne weiteres unvernünftig und sogar erregt, ein seltener Zustand bei ihnen. Außerdem standen sie nach Möglichkeit in Deckung. Dieser Angriff Hoffs auf Hoffnung, von Bild auf Spiegelbild, Geheimnis auf Geheimnis, schlechtem Gewissen (jedenfalls) auf schlechtes Gewissen (augenscheinlich) – kurz, dieser Bruderkampf, indirekt und pikant ausgefochten, war für den flauen Abend unerwartete Sensation mit wahrscheinlich groteskem, also amüsantem Ausgang. Den Kellnern klopfte das trainierte Herz. Für die Chefs indessen war der Beifall nichts Besonderes, eine normale Folge der Damenwahl, die übliche Haltung des Publikums, welches sie nicht hoch einschätzten oder gar verachteten: sie sahen nicht auf die Szene.

Der Angegriffene selber ahnte noch nichts von seiner neuen Bedeutung. Er saß mit gekreuzten Armen und Beinen, hatte das Gesicht hinter dem Rauch seiner Zigarre und den Blick hinter seinen Gedanken, in dieser Haltung tatsächlich dem nachdenklichen Hoff sehr ähnlich. An aller Grade Lärm an diesem Ort gewöhnt, achtete er weder auf Signal noch auf Hallo und Bravo. Hoff beobachtete ihn. Der Traurige blies jetzt die Wolke von seinem Gesicht fort; aber er schaute nicht nach links, von wo Ly herankam – schönen Ganges, die Hüften zugleich lässig und lockend wiegend, wie sie es von der vorbildlichen Raquel Meller im Film gesehen hatte, spanischen Ganges also und dumm lächelnd – er sandte plötzlich seinen Blick von innen nach außen und sah, die Augen leicht zusammenkneifend, den Eintänzer Umberto an.

Hoff bekam harte Backen und zerbrach das Zündholz, das er zwischen den Fingern hielt. Hoffnung, der Trauergast, die Halbmastfahne, sah nicht den Rittmeister a. D., den Ligaführer, den politisch bedeutungsvollen Hubert Hoff an, sondern den Eintänzer Umberto von der mondänen Tanzfirma Umberto und Ly. Die Unterscheidung war lächerlich, wehrte sich Hoff; denn jener kannte ja nichts vom Hoff und nur das Technische vom Umberto. Die Unterscheidung war nicht lächerlich; denn der Blick galt dem Deklassierten. Er wäre also ohne die heimliche Präsentierung des anderen Menschen, des wahren Hoff mit Titeln und Würden, nicht zu ertragen gewesen. Warum aber kam solche Hoffart in diese guten und bekümmerten Augen – Manifest des Abstandes?

Jetzt war die Dame Ly an Hoffnungs Tisch. Er hob scheinbar ohne Überraschung den Kopf, stand auch als wohlerzogener Mann sofort auf, hörte aufmerksam den freundlich gelispelten Wunsch der Tänzerin an und verbeugte sich in höflicher Zustimmung. Die Spannung der Kellner und Musikanten wuchs: Hoffnung, Nichttänzer, nahm an, ohne Verlegenheit gar, und wird sich jetzt blamieren. Der Saxophonist, ehemaliger Kommilitone des Schlagzeugspielers, wechselte mit dem Freund den Blick, der besagte, auf dem Höhepunkt der tänzerischen Katastrophe ihre Instrumente wimmern, heulen und schießen zu lassen. Auch Hoff beugte sich vor, nicht so sehr gespannt wie gequält. Warum denn nur gequält? Die Pein, in die er den tristen Bruder schickte, war möglicherweise nur der winzige Auftakt einer für den anderen qualvolleren Beziehung und bereits die gerechte Strafe für den bewiesenen Hochmut. Man sollte doch nicht den Abend mit jenen fatalen Rücksichten beschließen, die man wacker davongejagt hatte.

Es kam auch ganz anders. Schon an der Art, wie Hoffnung seine Dame umfaßte – oder fachmännisch sportlich ausgedrückt: wie er startete –, erkannte Hoff den geübten Tänzer. Der Tanz selber zeigte den arg unterschätzten Herrn nicht nur als Meister, sondern auch – und das war das Besondere, das beinahe Aufreizende – als erstaunlichen Kopisten des Professeur Umberto. Reihenfolge und Entwicklung der langschrittigen oder raffiniert synkopierten Figuren hielten sich in einer Weise an die Hoffsche Kunstübung, daß die Dame Ly mit wahrhaft glücklichen Augen die beruflich artistische, eigentlich eben nur dem Umberto gehörige Partnerschaft bieten konnte. Zur vollkommenen Täuschung trug dann noch die körperliche Technik ihres Tänzers bei, dem die bekannte, elastische und straffe, mit den Schultern leise regierende, nicht breitbrüstige, sondern rechtsschultrig vorgedrehte Tanzhaltung Umbertos zu übernehmen bis zur charakteristisch hohen und zurückgenommenen Lage der linken Hand glückte. Die Schlußpirouette allerdings, zu der Ly ohne weiteres bereit war – ihr beinahe akrobatisches Umsichselbstdrehen innerhalb der letzten Figur – machte Hoffnung nicht mit, wohl weil sie ihm zu professionell war. Er kümmerte sich nicht um den Schwungversuch ihres Körpers, hielt sie fest, wie Banjos und Saxophon zu ihrem Amen aufliefen, heftig und abrupt wie auf eine Klippe, und ließ sie dann los, ein wenig eilig sogar. Den Kopf gesenkt, das Gesicht etwas rot, folgte er ihr durch die Manege bis zu den Stufen zum Zuschauerraum, nicht etwa bis zu ihrem Tisch. Dort verabschiedete er sich von ihr durch eine kleine Verbeugung und durch ein kleines Danke.

Die Beobachter – Hoff, die Musikanten und die Kellner, also Sachverständige – waren durch die unerwartete Leistung oder durch die Ironie der ganzen Szene so überrascht, daß sie sich aufs neue und unter ganz anderen Voraussetzungen mit dem Doppelgänger beschäftigen mußten und sich recht still verhielten. Es wurde nicht geklatscht. Ly, die sich nicht mehr zurecht fand, machte ein verlegenes Gesicht. Hoff stand auf, noch ehe seine Partnerin zurückgekehrt war, und schlenderte in der anderen Richtung um die Tanzarena. Die Kapelle intonierte den schnellen und lauten Schlußtanz, um den Eindruck zu verwischen, der ihr selber unangenehm zu sein schien. Die Kellner wurden wieder durch die aufbrechenden Gäste beschäftigt. Man achtete nicht auf den Professeur, der plötzlich schneller ging. Hoffnung hatte sich nicht mehr an seinen Tisch gesetzt, sondern stehend seine Rechnung gefordert. Jetzt zahlte er. Hoff war fünf Schritte hinter ihm und nahm die Zigarette aus dem Mund. Er räusperte sich. Hoffnung drehte sich um: aber er sah ihn nicht. Nein, er sah ihn nicht – oder er sah ihn, wie man Luft sieht oder einen Gegenstand, der den Blick nicht festhält. Der Blick überglitt ihn und kehrte zum Ober Charles zurück, der für das Trinkgeld dankte. Hoffnung ging. Seine Haltung war schlapp, mit der des Rittmeisters Hoff nicht zu vergleichen, von der eigenen Tanzhaltung merkwürdig unterschieden. Ober Charles lächelte wie ein saturiertes Mitglied des Wiener Kongresses. Tänzer Umberto hatte eine fahle Gesichtsfarbe und nervöse Hände. Er sah in eine andere Richtung. Dann schlenderte er an seinen Tisch zurück.

Lilly ließ sofort ihrer Begeisterung freien Lauf, zugleich auch ihrer Entrüstung über die Verständnislosigkeit und Undankbarkeit der Zuschauer. Über den Erfolg des Unternehmens hatte sie an den wissenschaftlichen Zweck vergessen, sogar an ihre frühere Abneigung gegen den unfrohen Gast. Wenn, entgegnete Hoff und machte eine Pause, um sich eine neue Zigarette anzuzünden – wenn dieser Mann nicht offensichtlich in guten Verhältnissen sein würde, stolzer Amateur, kurz: Kavalier, dann wäre er in der Tat verblüffender Ersatz für ihn, Umberto, der vor einer Viertelstunde außerordentlich gekündigt habe – Familiengründe, kein Neuengagement; so vollkommener Ersatz, daß nicht einmal die bewährte Firma Umberto und Ly und die Programme geändert zu werden brauchten: so aber sei der Ersatzmann Herr Ernest vom Luna-Kasino, Gentleman-Zuhälter. Das war der Lilly Schmid zu viel für so wenige Minuten; die Form seiner Mitteilung war ihr auch zu häßlich: sie stand auf, schluckte Tränen, preßte ein winziges Taschentuch gegen den Mund und ging mit kleinen, schnellen Schritten in ihre Garderobe.

Hoff blieb sitzen, bis die Frau wieder auftauchte, im Pelz, ohne Blick für ihn, und dem Ausgang zustrebte, das Kinn erhoben, gekränkt und unschuldig. Er blieb sitzen, bis die Chefs gegangen waren – Salmon mit angelsächsisch-jovialem Handschwung zu ihm hin, der Graf mit letztem Blinken des Augenglases – bis die Musikanten gegangen waren, die Instrumente im Arm wie müde Bräute, der Phänomenologe als letzter, weil er sein umfangreiches Schlagzeug nicht mitnahm, sondern sorglich zudeckte: ein blasser Brillenmensch plötzlich, abgespellt vom geliebten Lärm, dem leisen Hungerleben wieder für zwanzig Stunden ausgeliefert, unglücklich. Es gingen Ober Charles und die anderen Kellnerwürdenträger mit schwarzer Kravatte, die subalternen mit weißer Binde, bis auf die armen kleinen unterernährten todmüden Pikkolos, jetzt Tischabdecker.

Auch Hoffs Tischchen war plötzlich nackt, von überaus häßlicher, grindiger, runzliger Haut. Hoff stellte dies alles fest. Er war peinlich wach und gedankenwendig. Was er sah, verglich und bedachte, wurde immer unfreundlicher. Er nahm es als geistige Übung hin, nützlich für die Zukunft. Gegen sich selber ziemlich ehrlich, stellte er auch fest, warum er so lange blieb: er wollte sich um die Begegnung mit Zwerg Paula drücken. Mut unter allen Umständen war Verschwendung für einen, der seit sechs Jahren von seiner Mutsubstanz lebte, ohne Hoffnung auf Rente, aber mit immer stärkerer Spekulationsbereitschaft. Verschwendung in diesen Tagen vor dem großen Einsatz war Verbrechen.

Es erschien Leutnant Huber mit zwei Polizisten, die sich von der Wirksamkeit der Sperrstunde zu überzeugen hatten. Huber sah aus und benahm sich wie ihr Vorgesetzter. Den übriggebliebenen Smoking-Herrn sanktionierte er, noch ehe die Beamten nach ihm fragten. Er grüßte den Professeur wie einen Rittmeister, die Polizisten taten ein gleiches, eingeschüchtert. Sie gingen, nach einem strengen Rundblick des ehemaligen Hartschiers.

Stühle kletterten aufeinander. Putzfrauen tauchten aus dem Inferno, häßliche und wütige Gegnerinnen der Nachtruhe, lappenschwappend, kniend oder krumm über dem Besen. Hoff stand auf. Fast im gleichen Augenblick erhob sich auch sein Stuhl und landete auf dem Tisch, die Beine nach oben. Es roch nach Spülwasser. Hoff sah aufgesteckte Röcke, Rücken, Arme und Nackenhaarsträhnen, fast kein Gesicht. In der Garderobe sah er zum erstenmal Herrn Huber in Zivil, vielmehr in einem jämmerlichen Lodenmantel, unter dem die Generalshosen der Livree hervorschauten. Der Mann half ihm in den Mantel, machte ein paar Bemerkungen über die kaiserlose Zeit und empfing ein Trinkgeld. Hoff trat auf die Straße und sah sich um.

Der Nebel war noch dicker geworden. Ein Lichtbalken teilte sich wenige Meter zur Rechten in zwei Kegel, in denen Wolkenschwaden umgingen, und verjüngte sich immer mehr bis in die beiden Laternen einer Autodroschke, deren Motor im Stand lief. Hoff äugte wie auf einem Patrouillengang; aber er wußte nicht recht, warum er auf solche nachdrückliche Art um den Zwerg herum manövrierte; denn was war schließlich heute nacht von ihm zu befürchten? Doch ihm genügte die heimliche Stimme, die warnte. Er wollte erst scharf hinschauen, ehe er das Gefährt anrief. Aber schon ratterte die Maschine auf, fuhr an und kam. Der Schlag öffnete sich geheimnisvoll. Hoff wurde aus Unbehagen oder sogar aus Feigheit leutselig und fragte den hinter ihm die Türläden schließenden Portier, ob er ihn mitnehmen solle: er wohne doch in seiner Nähe. Huber nahm an, die Hacken zusammenschlagend. Hinter der Wagentür stand Paula. Er stieg vom Trittbrett und bemerkte ehrerbietig, daß er das Taxi zu reservieren sich erlaubt habe, nachdem er durch Leutnant Huber von der Anwesenheit des Herrn Rittmeisters unterrichtet worden sei. Hoff dankte freundlich und stieg rasch ein.

Herr Huber, ein Mann von militärischer Erziehung, nahm nicht etwa einen Platz im Wageninnern für sich in Anspruch, sondern setzte sich neben den Chauffeur. Paula erwähnte mit feinem Lächeln, das sei zwar sein Platz, aber es mache nichts. Hoff begriff diese Worte nicht sofort oder hielt sie für einen Scherz. Er war überdies über die glatte Abwicklung der Szene erfreut und gab dem Kleinen ein besonders hohes Honorar. Der Schlag fiel zu; aber der riesige Kopf des Gnoms blieb noch immer im Fensterausschnitt. Hoff wartete einen Augenblick, wagte aber keine Unhöflichkeit und nannte schließlich seine Straße, zur Sicherheit allerdings mit falscher Hausnummer. Paula wiederholte es dem Führer. Der Wagen fuhr an. Es wäre jetzt der letzte Augenblick gewesen, daß der Kopf vom Fenster und das Körperchen vom Trittbrett verschwand. Aber Paula blieb, der Wagen kam in Fahrt und zum Kopf gesellten sich noch rechts und links die winzigen Hände, die so behaart waren, daß sie wie verkohlt aussahen.

Dieser Menschenabriß stand im halben Schein der einen Seitenlaterne, die an dem unmodernen Wagen hoch angebracht war und vier Glaswände hatte wie bei einer Pferdedroschke. Hoff drückte sich in den Fond, um wenigstens den Vorteil der Dunkelheit auszunutzen.

»Nanu?« fragte er, nicht eben freundlich. Paula erklärte ihm, daß er ein Abkommen getroffen habe, mit einem Wagen, der nach zwei Uhr einrücke, das heißt nach erledigter Fahrt seine Garage aufsuche, mitzufahren und in diesem Wagen zu übernachten – ein kleiner Akt der Erkenntlichkeit von seiten der Chauffeure, denen er sich ja ebenfalls nützlich erweise; und da seine Statur es erlaube, sich über die beiden Rücksitze hin sogar auszustrecken, ginge es ganz gut. Dadurch bekenne er allerdings, daß er keine feste Wohnung, nicht einmal eine im polizeilichen Sinne gültige Schlafstelle sein eigen nenne. Dies wiederum fechte ihn nichts an, weil er den größeren und besseren Teil seines Lebens Clown in Wanderzirkussen gewesen sei, vertraut also mit ambulanten Schlafstätten. Dazu kämen in dieser wirren Zeit Vorteile anderer Art. Paula liebte eine etwas förmliche Redeweise, die von jedem Dialekt durchaus frei war. Sein hohes Stimmchen hielt sich mühelos neben dem Rattern des alten und verkühlten Vierzylinders.

Hoff blieb stumm, trotzdem vielleicht ein Eingehen auf Paulas biographische Stichworte das Gespräch neutralisiert hätte. Aber Hoff hatte plötzlich einen Kampf mit seinen Nerven zu bestehen, deren Rebellion ihn an schwere Kriegsaugenblicke erinnerte. Wenn seine Nerven versagten, war seine Wut da, eine sinnlose, eine tolle Wut, ein großer Haß auf alles Leben, das eigene nicht ausgenommen.

Diese stiermäßige Flucht in den Angriff hatte während des Krieges ein- oder zweimal ziemliches Unheil angerichtet und unnütz Leute gekostet. Hoff biß die Zähne zusammen und drückte die Fäuste in die Manteltaschen, um der unbändigen Lust zu widerstehen, den großen Kopf am Fenster durch einen Schlag auf das vorgebaute Froschmaul zu beseitigen. Paula wurde größer – er stellte sich wohl auf die Zehen – und steckte den Kopf weiter in den klirrenden Wagenraum. Seine Augen glotzten durch die körperliche Anstrengung noch stärker und trafen genau das Gesicht des anderen. Die Lichtbalken, die von den vorbeigerüttelten Straßenlaternen durch die Fenster fielen, trieben aufreizend wechselnde Beleuchtungseffekte.

Hoff wollte sich schlafend stellen. Doch schon nach wenigen Stößen des Herzens öffnete er wieder die Augen. Paula bewegte die Lippen: der Herr Rittmeister besitze fraglos das E. K. I. – Ja. – Wohl auch die goldene Tapferkeitsmedaille. – Nein. – Paula schüttelte mißbilligend den Kopf: und dazu gäbe es im Augenblick keine Orden mehr. Er schwieg und schien nachzudenken. Plötzlich fragte er:

»Wie soll man Sie denn belohnen?«

Hoff, auffahrend: »Mich? – Wofür denn? – Für das Tanzen?«

Mein Gott, schaltete Paula ein, er selber habe einmal im Zirkus tanzen müssen, in einem Ballettröckchen und mit lächerlich an falscher Stelle wattierten Waden; trotzdem er schon von Natur krumme Beine habe; dabei sei er doch von Beruf musikalischer Clown.

»Und?« drängte Hoff böse.

Der Herr Rittmeister sei eben auch nicht Tänzer, sondern Held. Sozusagen von Beruf Held.

»Und die Belohnung?« schrie Hoff.

»Die Belohnung für den Helden natürlich«, erklärte Paula artig; das Problem sei die Heldenbelohnung; denn der Tänzer würde ja bezahlt. Er sackte in einer Kurve zurück und wurde ganz klein. Zwischen den Händen blieb nur noch der nackte Schädel bis zur Stirn.

Herr Huber beugte sich aus seinem Vordersitz und bat, abgesetzt zu werden. Der Wagen hielt. Huber stieg aus, dankte und verabschiedete sich in strammer Haltung. Hoff wies sofort den Zwerg an, sich neben den Chauffeur zu setzen. Paula gehorchte und hockte so winzig auf dem durchgesessenen Polster, daß er vom Fond aus nicht zu sehen war. Hoff pfiff erlöst vor sich hin. Um den Zwerg über seine Wohnung möglichst im unklaren zu lassen, klopfte er schon im Anfang seiner Straße an die Scheibe und ließ halten. Paula war bereits an der offenen Tür und flüsterte zärtlich und töricht: »Heil und Sieg!«

Hoff wartete in einer Toreinfahrt, bis das Schlußlicht des Taxi von der sumpfigen Nacht verschluckt war. Dann ging er über die Straße, schob sich noch fünfhundert Meter die Häuser entlang und schloß schließlich seine Tür auf. Die elektrische Treppenhausbeleuchtung funktionerte nicht, wie gewöhnlich. Aber auch sein Feuerzeug schlug keine Flamme. Vier Stiegen im Dunkel sind eine lange und bedrückende Zeit. Jede Stufe knallte vor Wut. Das proletarische Haus muffelte wie immer nach seinen ungelüfteten Tragödien. Was ist das für ein Leben? fragte sich der vorsichtig klimmende Mann. Man konnte ihn nicht einen Menschen nennen, der sozial dachte. Er meinte nicht die gehäuften Traurigkeiten dieser Nacht, dieses Gebäudes, der Straße, der Bar und der paar mitspielenden Menschen. Er meinte nichts als sein eigenes Leben, das seit vier Stunden verändert war und eben fragwürdig. Er kam um die Frage nicht herum, wenngleich er die unfreundliche Regie dieser letzten Stunde für alles verantwortlich machte.

Sein Zimmer gehörte zur Wohnung einer leise verdämmernden Beamtenswitwe und hatte einen eigenen Zugang vom Treppenhaus. Das war der einzige Vorteil. Sonst war es klein und häßlich möbliert. Jetzt, im Schein seiner einen Glühbirne von fünfzehn Kerzen, war es grob vor Lieblosigkeit. Hoff legte mit einemmal den Kopf auf den unsoliden Tisch; denn die Tapete, der Schrank, das Bett, der Nachttisch waren von einer infernalischen Wachheit getränkt, von einem unbekannten chemischen Stoff, den zu sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen er verurteilt war. So half auch nicht das Brett unter der Stirn; denn die Stirn fühlte die Wachheit des Brettes, und die hörige Klaviatur der Sinne spielte das gleiche Lied auf. Diese Wachheit! Diese Wachheit! Es gibt doch Menschen, die vor der Hinrichtung schlafen können, und er, Hoff, schlief vor der Erstürmung des Fort Douaumont. Aber dieser Henker – schläft der Frack auf dem Bolschewiki-Holzschnitt?

Er wurde böse, sprang auf, machte dreißig Kniebeugen und trank ein Wasserglas voll echten Holländischen Genevers, den ihm ein Kellner für fünf holländische Gulden abgelassen hatte. Das war damals viel Geld. Aber wenn das Herz will, möge es tanzen!


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