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Bakunin und seine »Beichte«.

Eine Erwiderung auf Kurt Kersten (Der Dichter der Revolution, Die neue Bücherschau, 6. Jahr, die erste Schrift).

Das Wesen von Bakunins »Beichte« war schon 1851 in Petersburger Hofkreisen bekannt, eine Dame dieser Kreise schrieb im Herbst ihrer Kusine Frau K. J. Elagin in Moskau: … »Dein früherer Bekannter … lebt hier am Nevaufer und schreibt jetzt seine Memoiren, natürlich nicht für den Druck, sondern für den Zar. Er verbessert seine Sache ganz geschickt, schlüpfrig wie eine Schlange; aus den schwierigsten Verhältnissen zieht er sich heraus, hier durch Spott über die Deutschen, dort durch aufrichtige Reue, anderswo durch enthusiastische Lobeserhebungen. Nichts zu sagen, er ist klug!« … Diese seit 1925 bekannten Worte zeigen, daß man in diesen Kreisen, die besser als jemand wußten, daß der Zar nie ein wahres Wort hörte, sich darüber amüsierte, daß auch der gefangene Bakunin die allgemeine Regel befolgte. Anders war die »Beichte« nie aufzufassen, als eine unendlich wohlberechnete Schrift, mittels welcher Bakunin, dessen nicht auf Dresden und Prag bezügliche Angelegenheiten in den dortigen Untersuchungen, 1849-51, nicht aufgeklärt wurden, einer Inquirierung betreffs dieser russischen und polnischen Angelegenheiten zu entgehen suchte, was ihm auch dadurch gelang, daß er sieh aufs äußerste verkleinerte, als isoliert, machtlos, phantastisch hinstellte usw. Seine Lage würde sich wesentlich verschlechtert haben, und andere Interessen würden gefährdet worden sein,« wenn ein ehrgeiziger Untersuchungsrichter den Befehl erhalten hätte, ihm Geständnisse zu entreißen; einem solchen hätten die damals öffentlich oder durch die Untersuchungen von Dresden und Prag bekannten Daten der »Beichte« nicht genügt. Der Zar gewann den Eindruck, daß eine Untersuchung nichts Neues ergeben würde, und ließ Bakunin in Ruhe; »wofür ich ihm wirklich dankbar bin, ist, daß er nachher mich um nichts mehr fragte.« (Bakunin an Herzen, 8. Dezember a. St. 1860).

Aus diesem 1883 gedruckten Brief wissen wir von der »Beichte«. Wir wissen auch, daß Bakunin mit seinen jungen russischen Genossen Z. Ralli und A. Ross über die »Beichte« sprach, was von Ralli im Oktober 1908 veröffentlicht wurde ( Min. Gody, Petersburg, 1908, X, S. 148-149), während die mir mündlich mitgeteilte Erinnerung von A. Ross (M. P. Saschin) auch in Polonskis Biographie Bakunins, I, 2. Auflage, S. 436, gedruckt ist. Diese beiden Zeugen leben. Unter diesen Umständen verstehe ich nicht, warum Herr Kersten schreibt: »Wir wissen nicht einmal, ob er sich im Verkehr mit seinen Freunden darüber geäußert hat«, dem seine eigene folgende Bemerkung widerspricht: »Bakunin wich aus, wenn auf sie die Rede kam.« Wer konnte von ihr reden? Gibt es hierfür den geringsten Beweis?

Während man seit 1919 in der »Beichte«, die erst 1921 im Druck erschien, eine moralische und faktische Selbstvernichtung Bakunins zu sehen vermeinte, wurde diese Auffassung schon 1922, als der Druck außerhalb Rußlands bekannt wurde, vollständig bestritten, und der Herausgeber V. Polonski selbst gibt das Unrichtige des ersten Eindrucks zu (S. 292-293 seiner erwähnten Biographie, Juni 1925).

Dieser Auffassung schließt sich auch Herr Kersten an, aber sein Artikel ist geeignet, eine neue irrtümliche Auffassung zu erwecken. Das Dokument, meint er, »habe ihn wie ein drohender Schatten bis zum Tode verfolgt« – und er sucht dies sogar in drei Fällen materiell nachzuweisen, indem er Handlungen in Bakunins Leben aus der Furcht vor diesem Dokument ableitet. Hierbei wird auf die wirklichen Tatsachen nicht die geringste Rücksicht genommen.

Erster Fall. »Feststeht nur, daß Bakunin Hals über Kopf Schweden verließ, die Verbindung zu den Polen abbrach, in einen Konflikt mit Herzen geriet. Alles verliert sich im Dunkel …« – Feststeht, daß die vorbereitete Broschüre im Juni 1863 dem Zar gezeigt wurde, – daß Bakunin im Oktober Schweden verließ, um eine seit 1862 geplante Reise nach Italien anzutreten, und daß er im Sommer 1864 wieder nach Schweden kam, – daß seine polnischen Angelegenheiten mit dem Niedergang der Insurrektion und bei der Unmöglichkeit, sich betreffs der nichtpolnischen Völker im historischen Polen zu einigen, sich von selbst erledigten, – daß der Konflikt mit Herzens Sohn ganz bestimmte, nicht von Bakunin abhängende Ursachen hatte usw. Kurz: absolut nichts deutet auf eine Beeinflussung Bakunins durch eine Drohung, und all seine Handlungen finden ihre Erklärung in genau bekannten Verhältnissen.

Zweiter Fall. Es »brechen in Marseille und Lyon Aufstände aus. Beide Male ist Bakunin beteiligt … Damals berät man aufs neue den Druck, um Bakunin moralisch zu töten … Wieder unterbleibt die Publikation. Aber wieder zieht sich Bakunin scheu und jäh zurück.« – Hier wird vor allem die Quelle selbst (Polonski, S. 437) unrichtig resümiert, indem es dort heißt: »Als Vorwand des neuen Versuchs, Bakunin moralisch zu töten, dienten seine zusammen mit Netschaeff herausgegebenen Flugschriften,« und nicht der leiseste Zusammenhang mit Lyon und Marseille wird angedeutet. Der 24. September (6. Oktober) ist das letzte notierte Datum der russischen Akten. Damals war Bakunin seit dem 30. September in Marseille, wo bis zu seiner Flucht, Ende Oktober, überhaupt kein Aufstand stattfand. Wir kennen für jene Zeit seine Pläne, Verbindungen, Geldmittel, Schriften usw. sehr genau aus seinen Briefen, Manuskripten, den Erinnerungen anderer usw. Wir kennen für 1871 und 1872 seine Lebensweise fast Tag für Tag. All das berücksichtigt Herr Kersten nicht, sondern wie Bakunin »Kopf über Hals Schweden verließ«, zieht er sich nun wieder »scheu und jäh zurück«!

Dritter Fall. »Zwei Jahre später – mitten in italienischen Unruhen – soll zum dritten Male das Gespenst aufgetaucht sein. Zum dritten und letzten Male. Jetzt entsagte Bakunin endgültig jeder aktiven revolutionären Tätigkeit. Es lag ein Fluch auf seinem Leben.« … Was soll ich dazu sagen? Zwei Jahre nach dem Herbst 1870 ist der Herbst 1872, und damals rührte sich in Italien nichts, und Bakunin war in vollster Tätigkeit. Drei Jahre nachher, Herbst 1873, erklärte er aus genau bekannten Gründen seinen Rücktritt aus der öffentlichen Bewegung; in Italien herrschte tiefste Ruhe. Vier Jahre nachher, im August 1874, war er allerdings in einer italienischen Stadt in Erwartung von Unruhen, und er faßte einige Wochen später aus genau bekannten und auch im Druck zugänglichen Gründen den Beschluß, von nun ab auch auf die geheime revolutionäre Tätigkeit Verzicht zu leisten.

All diese Angaben sind dokumentarisch zu belegen. Indem Herr Kersten diese Tatsachen zur Illustrierung seiner These des beständig vor der »Beichte« auf der Flucht befindlichen, man möchte sagen heulenden und zähneklappernden Bakunin in dem hier nachgewiesenen so unendlich ungenauen Lieht vorführt, verläßt er das Gebiet, auf dem ich ihm folgen kann, und begibt sich auf das Gebiet des Romans, wozu dieser ernste Fall ungeeignet ist.

Glaubt wirklich jemand, daß Bakunin vor der »Beichte« Angst hatte? Schon die russischen Machthaber von 1863, 1870 und – ich kenne den letzterwähnten Fall nur aus Herrn Kerstens Darstellung – 1874 (?) hatten so viel Einsicht, daß sie dem plumpen Drängen ihrer Untergebenen widerstanden und sich sagten, daß Bakunin eine Erwiderung veröffentlichen würde, die ihnen nur hundertfache Schmach und Schande bringen würde. Sie widerstanden auch nach Bakunins Tode, 1876, solchen Versuchungen, weil Bakunins Freunde immer zur Erwiderung bereit gewesen wären und der Welt die Frage vorgelegt hätten: Wie müssen russische Gefangene gemartert werden, wenn einer der energischsten und bewußtesten von ihnen, wie Bakunin, sich gezwungen sah, ein solches Dokument in einem solchen Ton zu schreiben? Kurz: diese Machthaber hatten sehr gute Gründe, zu schweigen, und nichts berechtigt zu den daran geknüpften romanhaften Konstruktionen

Bakunin war 1851 Anarchist wie später, keineswegs »ein Anhänger der sozialen Demokratie, ein sozialer Republikaner«. Seine »sozialistische Diktatur« war etwas wesentlich anderes als das, womit Herr Kersten sie durch Fäden verbunden glaubt: gerade das Gegenteil. Er hat auch, wenn es erforderlich war, »formal abgeschlossene Arbeit« geleistet, wie irgendeiner. Die »verhängnisvolle Zwiespältigkeit eines Deklassierten« ist eine Ausdrucksweise, die mir für Bakunin nichts sagt, sowie ich auch die geheimen Briefe, die er 1854 seiner Schwester zusteckte, nicht gern gerichtstechnisch »Kassiber« genannt sehe. Doch wünschte ich vor allem, daß nicht tatsächliche Ungenauigkeit und darauf basierte Fiktion in das Bakunin-Studium getragen werden.

26. April 1926.
Max Nettlau.

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