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Bakunin und die Religion.

Aus der in der dritten Sitzung des Berner Kongresses der Friedens- und Freiheitsliga am 24. September 1868 gehaltenen Rede Zuerst gedruckt in Kolokol (La Cloche), Nr. 14-15, 1. Dezember 1868 (Genf)..

… Sagte nicht ein Redner auf dieser Tribüne, das Christentum sei die einzige Grundlage jeder Moral?

Wir haben ihn angehört, aber lasse man uns ebenso frei auf derselben Tribüne unsere tiefe Ueberzeugung kundgeben, daß nicht nur das Christentum, sondern die Religion im allgemeinen, alle Religionen, mit der menschlichen Moral unvereinbar sind.

Nicht leichtfertig, von kapriziösem und frivolem Gefühl inspiriert, bekämpfen wir hier die Religion. Wir tun dies im Namen der Moral, der Gerechtigkeit und der Menschheit selbst, deren Sieg auf der Erde unmöglich ist, solange auf dieser Erde religiöse Phantome herumspuken, sie terrorisieren und regieren.

Nicht wir haben diese so wahre Idee erfunden, daß die Religion durch ihr Wesen selbst absolut jeder menschlichen Moral, Würde und Gerechtigkeit entgegengesetzt ist. Sie wurde lange vor uns von den großen Denkern des vorigen [18.] Jahrhunderts proklamiert, – was sage ich, schon lange vorher inspirierte sie die edelsten Geister, die Helden und Märtyrer der Renaissance: die Giordano Bruno, Vanini, Servet, den Calvin in Genf verbrannte, und viele andere, die in der christlichen Finsternis durch das aus dem alten Griechenland kommende Licht erweckt, den Kult der Wahrheit und der Menschheit auf den Ruinen der Lüge und des göttlichen Despotismus gründen wollten …

… Nun, meine Herren, wer war dieser große Ulrich von Hutten, dieser Held der Reformation? War er ein religiöser Mann, und hatte er sich aus den katholischen Ketten befreit, um die fromme Tyrannei Calvins, Melanchthons oder Luthers über sich ergehen zu lassen? Nein, er war ein Humanist, ein Atheist, Freund und Schüler der Atheisten von Florenz, wo er sich ausgebildet hatte und in die großen Lehren der humanistischen Unterweisung eingeweiht worden war.

All diese großen Helden des freien Gedankens, all diese berühmten Befreier der Menschheit, verfolgt, eingekerkert, gefoltert, verbrannt oder auf andere Weise vom Henker ermordet, erlagen auf elende Weise der grausamen Tyrannei der Zäsaren und Päpste der Kirche und des Staates. Aber ihr Werk erlag nicht. Es wurde langsam fortgesetzt, in schüchterneren und bescheideneren Formen zwar, aber immer dem Ziel zuschreitend, durch die ebenso lichtbringende wie hartnäckige Arbeit der Humanisten des sechzehnten Jahrhunderts, deren berühmtester Vertreter jedenfalls der gelehrte und geistreiche Erasmus war.

Im siebzehnten Jahrhundert wurde diese der Renaissance entsprossene Geistesströmung mächtig verstärkt durch die neue Strömung der entstehenden Naturwissenschaft: Galilei, Kepler, Newton, Gassendi und Bacon, der Großvater des modernen Positivismus, begründeten die Wissenschaft auf wirklicher Grundlage und brachten dadurch, die einen mit Wissen, andere ohne es zu wissen und zu wollen, allen metaphysischen Lehren einen tödlichen Schlag bei – und hierdurch, der Religion selbst. Dem Zusammenschluß dieser beiden Strömungen entsprang die große französische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts.

Ja, dieses große achtzehnte Jahrhundert, dessen Kinder wir alle sind, und das uns noch heute durch die ungeahnte Weite seiner Gedanken erdrückt, war vornehmlich das humanitäre und atheistische Jahrhundert. Es bejahte den Menschen und verneinte Gott. Es begriff, daß um den Menschen zu befreien, all seine Ketten zu brechen, ihn dem Glück, der Freiheit, der Würde zurückzugeben, – es notwendig war, die Infame zu zermalmen Écrasez l'infâme (nämlich die Kirche …), Worte, mit denen Voltaire und andere freie Denker ihre Briefe zu schließen pflegten., – das heißt all diese religiösen Phantome, diese metaphysischen und theologischen Abstraktionen zu zerstören, die seit Anbeginn der Geschichte allen Tyrannen Vorwand und Mittel der Demoralisierung, Knechtung und Ausbeutung der Menschheit waren.

Die Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts waren glücklicher als die der Renaissance. Die Zeit war herangereift, und ihre lichtvolle, beredte, leidenschaftliche Propaganda schenkte der Revolution das Leben.

Soll ich von den Menschen sprechen, welche verhinderten, daß diese große Revolution ihre volle Frucht brachte? … Ich begnüge mich, Sie zu erinnern, daß die sentimental terroristische, das heißt religiöse Lehre J. J. Rousseaus, die in der schönen humanitären Harmonie des achtzehnten Jahrhunderts als Mißklang ertönte, auf einer andern Seite unterstützt von dem inkonsequenten, frivolen und bourgeoisen Deismus von Voltaire, der die Religion für absolut notwendig für die Canaille gehalten hatte. – daß diese Lehre also der Revolution den Kult einer abstrakten Gottheit sowie den abstrakten Staatskultus vermacht hatte. Diese beiden Kulte, personifiziert in der düsteren Figur Robespierres – dieses Calvins der Revolution –, haben die Revolution getötet.

Dann folgte die Diktatur des ersten Kaiserreichs mit seinem utilitären Konkordat – nützlich gewiß im Sinn des Despotismus. Dann die Restauration mit ihrer romantischen Fäulnis, mit den Chateaubriand, den Lamartine und den Schlegel als Vertretern. Schließlich die spekulative Philosophie der Deutschen, die in Frankreich unter dem Namen Eklektizismus eine Staatseinrichtung wurde.

Dies, meine Herren, sind die Ursachen der tiefen Dekadenz, aus der wir uns heute so mühsam herausarbeiten. Und wenn wir uns wirklich retten wollen, müssen wir offen und kühn die Fahne der Renaissance und der Revolution aufpflanzen – die der menschlichen Empörung gegen das göttliche Joch.

Haben wir also den Mut, logisch und aufrichtig zu sein, und zögern wir nicht, kundzugeben, daß die Existenz eines Gottes unvereinbar ist mit dem Glück, der Würde, der Intelligenz, der Moral und der Freiheit der Menschen. – Denn tatsächlich, wenn es einen Gott gibt, sind meine Intelligenz, wie groß, mein Wille, wie stark sie sein mögen, vor dem göttlichen Willen und der göttlichen Intelligenz nichtig. Meine Wahrheit ist eine Lüge vor ihm, mein Wille wird ohnmächtig und meine Freiheit wird zur Empörung gegen ihn. Er oder ich; wenn er existiert, muß ich zu nichts werden, und wenn er so gnädig ist, mir Propheten zu schicken zur Offenbarung seiner meinem Verstand stets unfaßbaren göttlichen Wahrheit, und Priester, um mein Gewissen, das unfähig ist, das Gute zu fassen, zu leiten, von seiner Hand gesalbte Könige, um mich zu regieren, und Henker, um mich zu züchtigen, so bin ich ihnen den Gehorsam des Sklaven schuldig. Wer also Gott will, will die Sklaverei der Menschen. Gott und die Unwürdigkeit des Menschen oder die Freiheit des Menschen und die Annullierung des Gottesphantoms. Dies ist das Dilemma, einen Mittelweg gibt es nicht, wählen wir also.

*

… Die Anhänger der friedlichen Revolution durch Bildung allein, all diese Freidenkergesellschaften, die heute die Macht des religiösen Aberglaubens bloß durch die Propaganda der Kongresse, Vereine, Zeitschriften und Bücher zu zerstören sich bemühen, irren sich sehr, wenn sie glauben, durch diese Mittel allein ihr Ziel zu erreichen. Die Religion ist nicht nur eine geistige Verirrung, sie ist auch und vor allen Dingen ein leidenschaftlicher und permanenter Protest der Fülle des menschlichen Wesens, des unendlichen Reichtums des Menschenherzens, gegen die Enge und das Elend des wirklichen Lebens. Der auf dieser Erde nur Dummheit, Ungerechtigkeit und Elend findende Mensch schafft durch seine Einbildungskraft eine erdichtete Welt, in welche er all seine Bestrebungen, Hoffnungen und sein Ideal überträgt. Er hat den Himmel bereichert, indem er die Erde arm machte. So wurde die Religion geschaffen, und die Religion wird allmächtig sein auf der Erde, solange hier Unvernunft und Ungerechtigkeit herrschen. Schaffen wir also Gerechtigkeit, geben wir der Erde zurück, was ihr gehört, Glück und Brüderlichkeit! Zerstören wir das siegreiche Uebel in all seinen Formen, mit allen Einrichtungen der Unbill. Errichten wir die Brüderlichkeit, das heißt das gleiche Recht eines jeden, durch die Solidarität aller, die Freiheit in der Gleichheit, und die Religion wird keinen Existenzgrund mehr besitzen … Um also die Religion zu zerstören, um all diese Gottesphantome, die uns so versklaven und so roh und elend machen, zu zerstreuen und verschwinden zu machen, dazu genügt die bloße geistige Propaganda nicht – dazu gehört die soziale Revolution.


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