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Bakunin und die Politik der Internationale.

Aus seinem letzten die Internationale besprechenden französischen Manuskript, November 1872 (Oeuvres, IV, Paris 1910. S. 397 ff.).

… Da die bourgeoise Ausbeutung solidarisch ist, muß ihre Bekämpfung es auch sein und die Organisation dieser militanten wehrhaften Solidarität der Arbeiter aller Länder unter sich ist das einzige Ziel der Internationale …

siehe Bildunterschrift

Zeichnung von Rafael Farga Pellicer, einem der beiden spanischen Delegierten des Basler Kongresses, 1869 (Barcelona, 1888 –).

siehe Bildunterschrift

Aus dem Mitgliedsbuch der Genfer Alliancesektion, das dem bekannten Internationalisten aus dem Jura, Adhémar Schwitzguébel, gehörte. Die Unterschriften sind von M. Bakounine, Fritz Heng und Schwitzguébel.

Aber jede Macht zieht Ehrgeizige an, und die Herren Marx und Kompanie, die sich, scheint es, von der Natur und den Ursachen der so jungen und wunderbar starken Macht der Internationale nie Rechenschaft gegeben haben, bildeten sich ein, sie könnten aus ihr einen Fußschemel oder ein Werkzeug zur Verwirklichung ihrer politischen Ansprüche machen. Herr Marx … hätte doch besser als jeder andere zwei in die Augen springende Tatsachen verstehen sollen …

1. Daß die Internationale sich nur so wunderbar entwickeln und ausdehnen konnte, weil sie aus ihrem offiziellen und obligatorischen Programm alle politischen und philosophischen Fragen ausschied; und 2. daß sie dies nur tun konnte, weil sie, hauptsächlich auf der Freiheit der Sektionen und Föderationen begründet, alle Wohltaten einer zentralisierenden Regierung entbehrte, welche ihre Entwicklung geleitet, das heißt behindert und gelähmt hätte, da der Generalrat bis 1870, also gerade in der Periode ihrer größten Entwicklung, nur eine Art Schattenkönig war, der immer nachträglich räsonnierte und, nicht weil ihm ehrgeizige Prätentionen gefehlt hätten, wohl aber aus Ohnmacht, und weil niemand auf ihn gehört hätte, sich von der spontanen Bewegung der Arbeiter Belgiens, Frankreichs, der Schweiz, Spaniens und Italiens ins Schlepptau nehmen ließ.

Was die politische Frage betrifft, so ist bekannt, daß ihre Ausscheidung aus dem Programm der Internationale nicht Herrn Marx zu verdanken ist. Wie von dem Verfasser des berühmten, 1848 von ihm und seinem Freund, Vertrauten und Komplizen, Herrn Engels, veröffentlichten Programms der deutschen Kommunisten zu erwarten war, verfehlte er nicht, in der Inauguraladresse, welche der provisorische Generalrat 1864 veröffentlichte, und deren alleiniger Verfasser er ist, diese Frage an die erste Stelle zu stellen …

Bekanntlich räumte der erste Kongreß der Internationale, 1866 in Genf abgehalten, mit all diesen politischen und patriotischen Anwandlungen des Mannes auf, der sich heute als Diktator unserer großen Gesellschaft aufstellt. Nichts davon ist in dem von diesem Kongreß beschlossenen Programm und den Statuten übriggeblieben, die von da ab die Grundlage der Internationale bilden …:

»Daß die Befreiung der Arbeiter ihr eigenes Werk sein muß, daß ihre Anstrengungen zu ihrer Befreiung nicht neue Privilegien errichten dürfen, sondern gleiche Rechte und Pflichten für alle;«

»daß die Knechtung der Arbeiter durch das Kapital die Quelle jeder Knechtschaft ist: der politischen, moralischen und materiellen;«

»daß daher die ökonomische Befreiung der Arbeiter das große Ziel ist, dem jede politische Bewegung untergeordnet werden muß,« usw.

Dies ist der entscheidende Satz des ganzen Programms der Internationale …

Die Alliance, eine Sektion der Internationale in Genf, hatte diesen Absatz der Erwägungsgründe in folgende Worte übersetzt und näher erklärt:

»Die Alliance verwirft jede politische Aktion, die nicht den Sieg der Arbeiter über das Kapital zum unmittelbaren und direkten Zweck hat«; folglich setzte sie sich als Ziel die Abschaffung des Staates, aller Staaten, und die Organisation der »universellen Assoziation aller lokalen Assoziationen durch die Freiheit.«

Die deutsche sozialdemokratische Arbeiterpartei dagegen, die im gleichen Jahr 1869 unter den Auspizien von Herrn Marx von den Herren Liebknecht und Bebel gegründet wurde, kündigte in ihrem Programm die Eroberung der politischen Macht als Vorbedingung der ökonomischen Befreiung des Proletariats an …

Zwischen beiden Richtungen besteht, wie man sieht, derselbe Unterschied, derselbe Abgrund, wie zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Darf man sich dann wundern, daß sie sieh in der Internationale als unversöhnbare Gegner begegneten, und daß sie sich bis heute in jeder Form und bei jeder Gelegenheit bekämpfen? …

… Ich glaube, nicht nötig zu haben, zu beweisen, daß die Internationale, wenn sie eine Macht sein und bleiben will, die ungeheure Majorität des europäischen und des amerikanischen Proletariats an sich ziehen, umfassen und organisieren muß. Welches politische oder philosophische Programm aber könnte sich schmeicheln, Millionen unter seinem Banner zu vereinigen? Nur ein äußerst allgemeines, das heißt unbestimmtes und vages Programm könnte diese zustande bringen, denn jeder näheren theoretischen Bestimmtheit entspricht unvermeidlich ein praktischer Ausschluß, eine Ausscheidung.

… Glaubt man, daß die Internationale, wenn sie das einfache Wort »Atheismus« auf ihr Banner geschrieben hätte, auch nur einige hunderttausend Anhänger zusammengebracht hätte? Man weiß, daß dies nicht der Fall gewesen wäre, nicht, weil das Volk wirklich religiös ist, sondern, weil es glaubt, religiös zu sein, und es wird dies weiter glauben, solange nicht eine soziale Revolution ihm den Weg eröffnet hat, all seine Aspirationen auf der Erde zu verwirklichen …

Genau dasselbe ist der Fall mit allen politischen Prinzipien. Zunächst gibt es – an dieser heute überall zutage tretenden Tatsache werden die Herren Marx und Engels nichts ändern, wie sie sich auch hin- und herbewegen mögen, – zunächst gibt es kein politisches Prinzip mehr, das die Massen in Bewegung setzen könnte. Nach einigen Jahren wird sich der Mißerfolg herausstellen, selbst in Deutschland. Was die Massen überall wollen, das ist ihre unmittelbare ökonomische Befreiung, denn in dieser liegt wirklich für sie die ganze Frage von Freiheit und Menschlichkeit, liegt Leben oder Tod. Wenn es noch ein Ideal gibt, das die Massen heute leidenschaftlich zu verehren fähig sind, ist dies die ökonomische Gleichheit. Und darin haben sie tausendmal recht, denn solange die ökonomische Gleichheit nicht das heutige Regime ersetzt hat, wird alles andere, das dem Menschenleben Wert und Würde gibt, Freiheit. Wissenschaft, Liebe, intelligente Tätigkeit und brüderliche Solidarität, für die Massen nur wie eine furchtbare Lüge sein.

… Heute beginnen die Massen überall einzusehen, daß kein Despotismus ihnen die [ökonomische Gleichheit] geben will und kann. Das Programm der Internationale drückt sich hierüber sehr glücklich aus: Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein.

Ist es nicht erstaunlich, daß Herr Marx auf diese so genaue und klare Erklärung, die er wahrscheinlich selbst abfaßte, seinen wissenschaftlichen Sozialismus aufpfropfte, nämlich die Organisation und Regierung der neuen Gesellschaft durch die gelehrten Sozialisten – die schlechteste aller despotischen Regierungen!

Dank der lieben großen Volkskanaille, die aus sich selbst heraus, von unbesiegbarem und direktem Instinkt getrieben, allen Regierungsanwandlungen der kleinen Arbeiterminorität Widerstand leisten wird, die schon so diszipliniert und eingeteilt ist, um sich zu Helfershelfern eines neuen Despotismus zu eignen, wird der gelehrte Sozialismus des Herrn Marx immer ein marxistischer Traum bleiben. Diese neue Erfahrung, trauriger vielleicht als alle vergangenen, wird der Gesellschaft erspart bleiben, weil das Proletariat im allgemeinen und überall heute von tiefem Mißtrauen gegen Politik und alle Politiker jeder Farbe erfüllt ist, die es alle in gleicher Weise betrogen, unterdrückt und ausgebeutet haben, die rötesten Republikaner ebensogut wie die absolutesten Monarchisten.

… Durch Einführung der politischen Frage in das obligatorische Programm der Internationale [durch die Marxisten auf dem Haager Kongreß, September 1872], brachte man unsere Gesellschaft in ein schreckliches Dilemma, nämlich folgendes:

Entweder Einheit mit Knechtschaft,
Oder Freiheit mit Spaltung, und Auflösung.

Welches ist der Ausweg? Einfach die Rückkehr zu unseren ursprünglichen Statuten, die von der eigentlichen politischen Frage absehen und ihre Entwicklung der Freiheit der Föderationen und Sektionen überlassen. Dann wird also jede Föderation, jede Sektion der ihr beliebenden politischen Richtung folgen? – Gewiß. – Dann würde die Internationale zum Turm von Babel werden? – Ganz das Gegenteil, erst dann würde sich ihre wirkliche, erst ökonomische, dann notwendigerweise politische Einheit herausbilden; dann würde sie, gewiß nicht mit einem Schlage, die große Politik der Internationale schaffen, die nicht aus einem einzigen, ehrgeizigen, sehr gelehrten und doch bei aller Hirnfülle zur Erfassung der tausend Bedürfnisse des Proletariats unfähigen Kopf hervorgehen würde, sondern aus der absolut freien, spontanen und gleichzeitigen Tätigkeit der Arbeiter aller Länder.

Die Grundlage dieser großen Einheit, die man vergeblich in den philosophischen und politischen Tagesmeinungen suchen würde, ist von selbst gegeben in der Solidarität der Leiden, Interessen, Bedürfnisse und wirklichen Aspirationen des Weltproletariats. Diese Solidarität braucht nicht erst geschaffen zu werden, sie ist als Tatsache vorhanden, sie bildet das ihr eigentümliche Leben, die tägliche Erfahrung der Arbeiterwelt, und es bleibt nur zu tun übrig, ihr dieselbe zur Kenntnis zu bringen und ihr zu helfen, sie bewußt zu organisieren. Es ist die Solidarität der ökonomischen Forderungen …

[Sollte man sich also in der Internationale nur mit ökonomischen Fragen beschäftigen, fragt dann Bakunin.] … Diese ausschließliche Sorge um ökonomische Interessen wäre für das Proletariat der Tod … Selbst wenn also Fragen der Politik und Philosophie in der Internationale nicht aufgeworfen worden wären, würde das Proletariat sie unfehlbar selbst aufwerfen … [Alle solche Fragen werden frei aufgeworfen und diskutiert werden, was gerade das Bestehen einer offiziellen Wahrheit verhindern würde, die man dann nur wie neue zehn Gebote auswendig zu lernen hätte!] …

[Bakunin würde diese Ausführungen wahrscheinlich mit Worten geschlossen haben, wie folgende in einem einige Wochen vorher geschriebenen Manuskript:]

… Was ist aber heute zu tun? Da heute eine Lösung und Versöhnung auf dem Gebiet der Politik unmöglich ist, muß man sich gegenseitig dulden [il faut se tolérer mutuellement] und jedem Lande das unbestreitbare Recht lassen, den politischen Tendenzen zu folgen, die ihm besser gefallen und ihm für seine besondere Lage die geeignetsten erscheinen. Indem man also alle politischen Fragen aus dem obligatorischen Programm der Internationale hinauswirft, darf man die Einheit dieser großen Assoziation nur auf dem Terrain der ökonomischen Solidarität suchen. Diese Solidarität vereint uns, während die politischen Fragen uns unvermeidlich trennen …« ( Werke, III, 1924, S. 225.)

[Dieses Angebot ist noch heute offen, und solche Verhältnisse verknüpfen Bakunin mehr mit der Gegenwart und, lassen die Beachtung seiner Argumente wertvoller erscheinen, als mancher glaubt, der noch keine Gelegenheit nahm, ihn näher kennenzulernen. M. N.]


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