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Michael Bakunins Lebenswerk.

Fünfzig Jahre trennen uns von Bakunins Tode, immer kleiner wird die Zahl der uns sein Wesen noch aus eigener Erinnerung beschreibenden Menschen, aber immer reicher werden unsere Einblicke in viele Phasen seines bewegten Lebens, von der Kindheit bis zum Grabe, immer geringer die einst weitklaffenden Lücken in seiner Geschichte. Immer mehr ist es möglich, die ihn früh umspinnende Legende, die gleichfalls selten ruhende Böswilligkeit und Einsichtslosigkeit seiner Feinde, die noch heute nicht ruht, beiseite zu schieben und uns dem Verständnis seiner Persönlichkeit, der Würdigung seines Wollens und seiner Ideen zu nähern.

Ich war in der Lage, das sich immer mehr anhäufende Material mehr oder weniger durchzuarbeiten, und gewann dadurch immer mehr den Eindruck einer in dieser inneren Kraft seltenen Stetigkeit in seinem Wesen, seinen Gefühlen und Ideen, wie zahlreich und verschieden die Milieus waren, in die sein rastloses, kampferfülltes Leben ihn verschlug.

Er wuchs in einem Milieu auf, das auf ihn wie eine Utopie, eine idyllische Oase wirkte, und sein ganzes Leben wurde ein Ringen für die Verwirklichung, Verbreitung, Verallgemeinerung solchen Glücks und unversöhnlicher Kampf gegen die sich entgegenstellenden Mächte, die er langsam, aber dann mit vollster Klarheit erkannte. Das Gute, Schöne und Gerechte, das er so früh im kleinen Kreis um sich sah, wollte er ausbilden und verbreiten und sah bald, daß nur seine Ausdehnung auf alle, die Befreiung der ganzen Menschheit, das Glück und die Freiheit des einzelnen und seines engeren Kreises ermöglicht. Dieser Arbeit widmete er sein Leben; sein Wille war mit gespanntester Intensität auf dieses Ziel gerichtet, seine Geisteskraft wußte seine Ziele zu begründen, und er weckte die schlummernden rebellischen Gefühle vieler auf und riß sie mit sich, wenn auch nur wenige ihm dauernd folgen konnten und er fast immer sich bald allein befand und sein Werk von neuem beginnen mußte. Er tat dies mit unverdrossener Entschlossenheit, denn er glaubte, daß ähnliche Gefühle in allen Menschen schlummern. Glauben wir nicht dasselbe? Wenn er sein Ziel bis 1876 nicht erreichte, haben wir dieses Ziel bis 1926 erreicht? Die der Zahl nach etwas größere Kollektivität, die heute die wirkliche Befreiung der Menschheit will, wie Bakunin, ist mit ihrem Bahnbrecher solidarisch, der, wie die Verhältnisse liegen, nichts weniger als eine Größe der Vergangenheit ist, sondern noch immer unsere stärkste theoretisch und praktisch revolutionäre Kraft.

Michael Bakunin wuchs auf dem Gut seiner Eltern, Premuchino, nordwestlich von Moskau, auf, zusammen mit zwei etwas älteren, zwei etwas jüngeren Schwestern und fünf durchweg noch jüngeren Brüdern. Sein Vater, der als Knabe für viele Jähre nach Italien kam und dort und in Frankreich die humanitären und aufgeklärten Ideen der Jahrzehnte vor der französischen Revolution in sich aufnahm, hielt sich dann vom Hof- und Beamten- oder militärischen Leben des russischen Adels fern und lebte in Premuchino als wohlhabender Kunst- und Naturfreund, Familienvater, durch Verkehr mit den besten geistigen Elementen in Rußland und internationaler Lektüre wohl unterrichtet, zweifellos ruheliebend und im Grunde genommen konservativ, aber ohne Härte und freundlich und mitteilsam für die vielen Kinder. So kam es, daß in dieser auch von der Natur begünstigten Umgebung Michael Bakunin vom wirklichen russischen Leben nichts sah, sich keine Gedanken machte und unter Schwestern und Brüdern, an den älteren Schwestern ein Vorbild besitzend, die jüngeren beschützend, selbst das Vorbild der Brüder, von dem milden Vater, einem Stück bestes achtzehntes Jahrhundert, geistig gefördert, die glücklichste Jugend hatte; die Erzählungen des Vaters und Reisebeschreibungen brachten ihm die schönsten Teile ferner Länder nahe, bevor er noch Rußland sah.

Wie der spätere Briefwechsel im weitesten Umfange beweist, bestand zwischen diesen Kindern, besonders Michael und den Schwestern zunächst, eine seltene geistige Intimität und Solidarität, eine Gemeinsamkeit ernsten Strebens nach Vervollkommnung, einem idealeren persönlichen Zustand, und da dies auch dem humanen Vater und noch mehr der ganz weltlichen Mutter als eine den normalen Bildungsdrang überschreitende Sonderbarkeit erschien, so schloß die Jugend sich bald zur Verteidigung zusammen, rebellierte wohl auch manchmal, und Michael war der Vorkämpfer aller. Er selbst wurde diesem Milieu über sechs Jahre entrissen, als er im fünfzehnten Jahre in die Petersburger Artillerieschule gebracht wurde und dann 1833 und 1834 in Petersburg und in westrussischen Gegenden Offizier war. Aber er machte sich 1835 von diesem Beruf frei, sehr zum Erstaunen seines Vaters, den sein weiteres Ziel, philosophische Studien zur einstigen Erlangung einer Moskauer Professur, einer Möglichkeit, zur russischen Jugend zu sprechen, noch mehr erstaunte. Er verließ selbst das Elternhaus im Februar 1836, ein Bruch, der wieder eingerenkt wurde; aber erst im Sommer 1840 konnte er erreichen, daß ihm die Reise nach Deutschland zu philosophischen Studien in Berlin ermöglicht wurde.

In diesen sieben Jahren, 1835-40, machten er, seine Schwestern und ihr Kreis, dann auch die Brüder vielerlei Entwicklungsstadien durch bei ihrem eingehenden Suchen nach geistiger und moralischer Vervollkommnung und persönlicher Befreiung. Von mystischer Religionsauffassung führte Michael seinen kleinen Kreis zur idealsten Philosophie, dem reinsten Fichte-Kultus, und schon damals erkannte er in der Verbreitung des von dem engen Kreis Erreichten auf die ganze Menschheit seine Aufgabe, und ebenso schloß sich schon damals für ihn sein Kreis zur intimen Gruppe, seiner ersten geheimen Gesellschaft sozusagen, zusammen. Bekannt ist, welche Anregung er, Stankewitsch und Bielinski einander gegenseitig verdankten, wie intensiv diese und andere Kreise der Moskauer Jugend der Philosophie lebten, wie der strenge Hegel-Kultus dann die humanen Ideen Fichtes verdrängte usw.; natürlich fehlten andere Beziehungen nicht, die andere Gebiete erschlossen, ohne daß Bakunin ihnen folgte – Bekanntschaft mit mehreren interessanten Murawieffs, mit Tschadaeff, mit den jungen Slavophilen und mit den überzeugten Sozialisten und Atheisten Herzen und Ogareff usw. Bakunin war in all diesen Jahren ein intensiver Sucher von Wahrheit und Erkenntnis, die er in der Philosophie zu finden wähnte; die Philosophie sollte sein Ideal verwirklichen, das er längst in der Freiheit und der Solidarität erkannt hatte, das heißt, in der Freiheit nicht eines, sondern aller. Wie in früheren Jahrhunderten manche besten Glaubens ein solches Ideal durch religiöse Erkenntnis und Vertiefung zu finden hofften, so glaubte er in jener Zeit der Blüte der Philosophie und in seinen Kreis noch nicht gedrungener sozialer Erkenntnis, daß die Metaphysik in ihrer reinsten und konsequentesten Form, der er nachstrebte, das Glück und die Befreiung bringen könne, deren Verwirklichung er sein Leben gewidmet hatte.

An der Quelle des Hegelianismus, in Berlin, sah Bakunin dann allmählich das Illusorische der Metaphysik und nahm vom Winter 1841-42 ab und 1842 in Dresden intensiven Anteil an jener radikalphilosophischen Entwicklung, die ihren prägnantesten Ausdruck in Ludwig Feuerbach fand. Sein Gesichtskreis umfaßte nun Politik und, durch Lamennais, das bekannte Buch von Lorenz Stein usw. angeregt, das soziale Gebiet, und es war für den logischen Denker, der in der philosophischen Einsicht in das Wesen der Religion nun mit Feuerbachs klaren Augen sah, selbstverständlich, daß er zu analoger Einsicht auf dem Gebiet der Politik und der gesellschaftlichen Zustände kam. Er sah, daß Staat und Eigentum Menschenwerk und Menschentrug waren wie Gott, eine die Menschheit fesselnde, ausbeutende, geistesknechtende Dreieinigkeit, die nur durch die vollständige Zerstörung beseitigt werden kann, worauf der Wiederaufbau auf der Grundlage der Freiheit und Solidarität erfolgen müsse. In diesem Sinne schloß sein berühmter Artikel der » Deutschen Jahrbücher«, Oktober 1842, mit den Worten: … »Laßt uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. – Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust!«

Er lernte seit 1843 in der Schweiz, in Brüssel und Paris alle Nuancen des damaligen Sozialismus kennen, meist durch persönlichen, oft engen Verkehr mit den Hauptvertretern dieser Richtungen, also aus den denkbar direktesten Quellen: so kannte er Weitling, August Becker und Cabet, Marx, Engels und Heß, Considérant, Villegardelle usw. und Proudhon. Er war nie der Schüler oder Anhänger eines dieser Männer, weil keiner ihn befriedigen konnte, indem jeder einen Sozialismus vertrat, an dem etwas Wichtiges fehlte. Denn Bakunin hatte den vollen und ganzen Sozialismus in sich – die vollständige Zerstörung, den Wiederaufbau aus der Freiheit heraus, durch Schaffung der Grundlage dieser Freiheit, was nur durch Föderation geschehen kann, durch Solidarität, durch Achtung und Begründung der gleichen Freiheit aller, wozu die Gleichheit eine notwendige Bedingung ist.

Dies war und blieb Bakunins Anarchie, und obgleich, von einigen Spuren in Briefen an Georg Herwegh (1848) abgesehen, schriftliche Spuren fehlen – seine Briefe der Jahre 1840-47 sind meist verloren –, ist kein Grund, anzunehmen, daß er nicht in den Jahren 1842-47 zu derjenigen sozialistischen Auffassung gelangte, die zuerst in Schriften von 1865 und 1866 uns vorliegt.

Einen indirekten Beweis hierfür erbringen seine Ideen nationaler Umgestaltungen, der Föderalismus seiner Grundlagen der neuen slavischen Politik (1848). Die Jahre 1846 bis 1863, eine durch seine Kerker- und sibirischen Exiljahre, Mai 1849 bis Ende 1861, so enorm verlängerte Periode, sahen ihn im Bann slavisch-nationaler Ziele, gewisser Fragen, die er im Sinne seiner autonomistisch-föderalistischen Ideen nach Zerstörung der bestehenden Staatsverbände gelöst zu sehen wünschte. Wie dieses besondere nationale Interesse entstand, erklärt seine Biographie, seine besondere Stellung als revolutionärer Russe den Polen gegenüber, sein Tätigkeitsdrang und anderes. Er beging einen Fehler gegen seine eigenen Ideen: denn die deren Wesen bildende Unteilbarkeit der geistigen, politischen und ökonomischen Befreiung läßt auch eine besondere nationale Befreiung nicht zu, und Bakunin gelangte durch diese Spezialisierung entweder in die Gesellschaft der vulgären Nationalisten, die seinen Gesamtideen nur feindlich waren, oder er blieb isoliert und machtlos. Letzteres war tatsächlich der Fall, so sehr er mit anderen Slaven zusammenzuarbeiten wünschte und versuchte, und die Ironie des Schicksals wollte, daß er zuletzt seine beste Kraft unbedenklich einer Revolution der von ihm gehaßten Deutschen zur Verfügung stellte, der Dresdener Mairevolution, 1849, die ihn in den Kerker und an den Rand des Todes durch Hinrichtung brachte.

Dann begannen die Leidensjahre, 1849-1861. In jene Zeit fällt eine neuerdings viel besprochene Episode, die Abfassung der sogenannten »Beichte«, August 1851, eines auf Wunsch des Kaisers Nikolaus I. geschriebenen Dokuments, durch das Bakunin sehr geschickt ein weiteres Untersuchungsverfahren abzuwenden verstand, freilich um den Preis hoffnungsloser Kerkerjahre, die seine Gesundheit untergruben. Wenn die russischen Regierungen von 1851 bis 1917 dieses Dokument hätten gegen Bakunin ausspielen können, hätten sie es getan; dies allein warnt vor dem seit 1919 mit dem Schriftstück getriebenen Mißbrauch, der nach seiner Veröffentlichung, 1921, bald ein Ende fand. Durch 1923 und besonders 1925 erfolgte russische Veröffentlichungen ist man jetzt genauer über diese Vorgänge unterrichtet und wird es durch eine weitere russische Veröffentlichung in einiger Zeit noch mehr sein.

Nachdem Bakunin nach geglückter Flucht, 1861, in den Jahren 1862 und 1863 sein Möglichstes getan hatte, der damaligen polnischen Insurrektion zu helfen und ebenso für die russische Bewegung tätig zu sein, überzeugte er sich endlich davon, daß seine idealen nationalen Bestrebungen mit dem europäischen Nationalismus, dem Werkzeug der Großstaaten und selbst vor allem staatssüchtig, nichts gemein hatten, und hiermit war diese lange Episode abgeschlossen. Der Nationalismus der Mazzini und Garibaldi arbeitete für die Cavour und Victor Emanuel und hing in letzter Linie zusammen mit den Napoleon III. und Bismarck, wie der slavische Nationalismus beim Zaren endete – in diesem Milieu hatte Bakunin nichts zu suchen.

Er sah damals, wie alle, eine neue europäische Revolution, ein neues 1848, voraus, beginnend beim Sturz oder Tod Napoleons III., und er wünschte, daß die Irrtümer von 1848 vermieden, daß diese Revolution nicht wieder die Bourgeoisierepublikaner in den Besitz der Macht bringe, wie damals, sondern daß sie eine soziale werde, und dazu mußte sie eine staatszerstörende werden, die die Staatsmaschine zerschlägt, die revolutionären Volksinstinkte entfesselt und die freie Föderation der produzierenden Assoziationen, Gemeinden, Provinzen und selbstbestimmend sich zusammenfügenden Provinzföderationen oder Länder – bis zur universellen Föderation dieser Länder – von unten nach oben herstellt.

Er war Freund und fleißigster Teilnehmer jeder Art von Propaganda und freiwilligen Organisation, aber er wußte, daß Mittel und Zeit hierzu beschränkt sind und vertraute vor allem der instinktiven Aktion der Volkskräfte, die stets antistaatlich und sozial wirken würden, sobald sie nicht durch Anhänger der Autorität, neuer Diktatur, irregeführt würden. Er kannte diese Gefahr, der noch jede Revolution vor und nach ihm erlegen ist, und versuchte ihr entgegenzuarbeiten durch im Volk operierende intime Gruppen von Revolutionären, die vor Irrwegen warnen und unter sich eng verbunden durch Gleichzeitigkeit revolutionärer Initiativen und ähnliches den zersplitterten Volkskräften einen gemeinsamen Willen einflößen würden. Er vermied nicht, bei Erklärung dieses Vorgehens von unsichtbarer Diktatur oder einem revolutionären Generalstab zu sprechen, und es ist leicht, vom Standpunkt eines theoretisch vollkommenen Systems aus an seiner Methode Kritik zu üben. Ihm schien sie der Diktatur oder einem sich umständlich aufbauenden neuen Parlamentarismus gegenüber Vorzüge und die geringsten Nachteile zu besitzen.

In diesem Sinne gründete er 1864, bevor noch die Internationale bestand, die Internationale revolutionäre Gesellschaft, die auch Internationale Brüderschaft genannt wurde und die, soweit sie seit 1868 innerhalb der Internationale bestand, die Geheime Alliance, später Alliance der sozialistischen Revolutionäre genannt wurde, in Spanien Alianza de la Democracia socialista. In Rußland war sie nicht verbreitet, aber der russischen Jugend riet Bakunin 1872 und 1873, im Volk als propagandistische und Kampfgruppen zu wirken und die sich in isolierten Aufständen aufreibenden Kräfte der Bauern zu gleichartiger, gleichzeitiger Aktion gegebenenfalls zusammenzufügen. In Italien bildeten solche Mitglieder den ersten Kern der neuen Sektionen, nahmen die Initiative zur Föderation der Sektionen, setzten die Arbeit fort, wenn die öffentlichen Sektionen aufgelöst wurden.

Bis zum Krieg von 1870-71, der Napoleon III. auf eine leider nicht vorhergesehene Weise liquidierte, waren als republikanische Erhebung beginnende Bewegungen in Italien, Spanien und Frankreich durchaus möglich, und die ganz lockere Form der Internationale, die, soweit sie irgendwo größere Massen umfaßte, sehr verschiedenartige und oft wenig vorgeschrittene Elemente enthielt, war zu wirklicher Aktion ungeeignet und unternahm auch nie eine solche. Ihre glänzenden antiautoritären Theoretiker in Belgien theorisierten, ihre lokalen Politiker in Genf politisierten, der Generalrat administrierte und dekretierte, viele machten Propaganda und organisierten, gar mancher intrigierte, – nur Bakunin versuchte auf die erwähnte Weise eine Aktionsbereitschaft herbeizuführen; Teile von Frankreich und Italien, die ganze spanische Internationale und der Schweizer Jura waren damals durch intime Genossen in beständiger Verbindung mit ihm, und als der Kriegsausbruch die Situation gründlich änderte und die öffentliche Internationale perplex ließ – an papiernen Manifesten fehlte es natürlich nicht –, waren Bakunin und einige wenige seiner engsten Genossen in der großen Internationale die einzigen, die an Ort und Stelle eilten, an den Platz möglicher Aktion, nach Lyon, um eine Bewegung zu entfachen, die den Krieg in eine soziale Revolution umwandeln würde, eine am 28. September 1870 versuchte Unternehmung, deren Fehlschlag lokale Ursachen hatte, die aber der einzige groß gedachte Versuch jener Zeit war, die durch den Krieg bis heute vereitelte europäische Revolution vielleicht doch zu entfesseln, indem sie von Südfrankreich nach Spanien und nach Italien übergegriffen hätte, von Italien vielleicht auf die slavischen Teile Oesterreich-Ungarns und von dort auf die Ukraine und die russische Bauernmasse. Es sollte nicht sein, und seitdem hat der Krieg und der bewaffnete »Friede« die Initiative; die Kommune von Paris, 1871, war nur ein verzweifeltes, hoffnungsloses Rückzugsgefecht der Revolution, und ihr Fall besiegelte ihre Vertagung für eine bis jetzt endlose Reihe von Jahren.

Statt sich nun enger zusammenzuschließen, zerfiel die Internationale, das heißt, sie wurde von Marx zersprengt, der ihre Schwächung durch die furchtbaren Ereignisse benutzte, um ihr seine Dogmen aufzuzwingen und seinen Haß gegen Bakunin endlich sättigen zu wollen. Diese grenzenlos erbärmlichen Machinationen zerstörten das äußere Gefüge der Gesellschaft und, was bedauerlicher war, die internationalen Gefühle, das internationale Interesse aneinander. Bakunin befürwortete das freundliche Nebeneinander der verschiedenen Richtungen auf Grundlage der ökonomischen Solidarität, des gleichen Interesses aller Arbeiter am Kampf gegen das Kapital. Seine Gegner kannten nur Schimpf, Hohn und, im Fall von Marx in der Alliance-Untersuchungskommission des Haager Kongresses, 1872, noch Schlimmeres. Die Solidarität der anarchistischen Föderationen im Jura, in Italien, Spanien und Belgien bestand weiter, aber die große internationale Solidarität der Arbeiter hat Marx 1872 zerstört; für ihn existierte von damals an – wie persönlich seit jeher – nur die Solidarität der Anhänger seiner Dogmen. So ist es auch geblieben, und den Staaten und dem Kapital stehen die Arbeiter zerstritten und zersplittert gegenüber, mögen sie noch so stark organisiert sein. Der internationale Geist ist damals tief verwundet worden.

Bakunin wußte seit dem Fehlschlag in Lyon, daß er die Revolution nicht mehr erleben würde. Er setzt seine Arbeit unermüdlich fort, beginnt sofort jene Reihe von Manuskripten, die in seinen schönsten Seiten, Gott und der Staat, gipfelt, verteidigt die Kommune, die Alliance, zerfasert Mazzinis nationalbourgeoise Theokratie, fördert wie kein zweiter damals die Ausdehnung der italienischen Internationale, lebt mit der russischen revolutionären Jugend in Zürich, reorganisiert die Alliance am Tage, als Marx sie zerstört zu haben glaubte – im September 1872 in Zürich –, wirkt 1873 und 1874 intensiv nach Spanien und Italien hin, bis im September 1874 seine Tätigkeit ihren Abschluß findet unter Verhältnissen, die nur im Rahmen einer Biographie besprochen werden können.

Es gab keinen Sozialisten vor und nach Bakunin, der praktischer und unmittelbarer für die soziale Revolution gearbeitet hätte. Er wollte die volle Zerstörung, den vollen Wiederaufbau, und nur das. Er wußte, daß man von einer Pest und Seuche nicht die Hälfte, ein Viertel, ein Zehntel zerstören muß, sondern die ganze, und daß man auf verseuchtem Boden kein gesundes Haus baut. Andere haben das Innere des Palastes und die Gärten der kommenden Anarchie geschildert: er fand nicht Zeit dazu und überließ dies den Menschen von später. Er war der Revolutionär der harten Arbeit, der Zerstörung aller Knechtschaft und der ersten soliden Grundlagen des neuen Baues, nicht eines Uebergangszustandes (der nie ein Ende nimmt), sondern eines Anfangszustandes, von dem aus sofort weitergebaut wird. Manche mögen glauben, daß Bakunin überwunden ist, daß man eine freiere, weitergehende Anarchie ersonnen hat – andere aber denken, daß man Bakunin noch gar nicht erreicht hat, daß man vieles unendlich Nützliche, das er aussprach, noch gar nicht voll und ganz ins Auge faßte.

Möge ein eingehendes Studium dieser Fragen endlich beginnen; besonders die deutschen Arbeiter, denen der Marxismus Bakunin solange im gehässigst falschen Licht gezeigt hat, haben zu seinen Ideen noch nicht hinreichend Stellung genommen. Diese Ideen, fünfzig Jahre nach seinem Tode, erscheinen mir heute frischer und lebendiger als je.

11. Mai 1926.
M. Nettlau.


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