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»Die Beichte« M. A. Bakunins

Von M. Saschin (Arm. Ross).
(Uebersetzt von M. N.)

Ich verbrachte die Zeit der Oktoberrevolution [November 1917], des Bürgerkrieges bis Mitte 1920 mit meiner Frau im nördlichen Kaukasus in der Stadt Trosno in der Familie meines Sohnes, Bergingenieurs bei der Naphthagewinnung. Der Kaukasus war damals, besonders in den letzten 1½ bis 2 Jahren, fast ganz vom übrigen Rußland abgeschnitten: Post, Telegraph, Eisenbahnen funktionierten fast gar nicht. Keine Nachrichten von Verwandten im Norden, die hungerten, Kälte litten und starben. Sehr selten kamen allgemeinpolitische Nachrichten und nur in kurzer, auszugsweiser Form.

Im Sommer 1920 kam einmal ein junger Mann zu mir, N., ein Menschewikisozialdemokrat, der als Sekretär eines Volkskommissars, der in Angelegenheiten der Naphthaindustrie in einem Extrazug nach Baku reiste, und sich nur 2-3 Stunden aufhielt.

Von diesem hörte ich, daß er meine Verwandten kenne und von mir wisse als bakunistischen Anarchisten. Er erzählte dann als allerletzte Neuigkeit, die er einige Tage vor seiner Abreise aus Moskau erfahren habe: im Geheimarchiv des Zaren sei die »Beichte M. A. Bakunins« gefunden worden, die er für Nikolaus I. im Alekseiravelin bald nach seiner Ueberführung aus einer österreichischen Festung schrieb. Er teilte mir ihren Inhalt mit; er war unter den ersten, die sie in Moskau gelesen hatten. Dabei machte ich verbessernde oder ergänzende Bemerkungen, so daß er mich fragte: wie könne ich davon etwas wissen und den Inhalt kennen, du sie doch erst gefunden sei und keine Verbindung mit Moskau bestehe. »Letzteres ist richtig,« sagte ich, »den Inhalt aber kenne ich durch Bakunin persönlich, der ihn mir recht ausführlich mitteilte.« Tatsächlich, als ich später in Moskau das von Bakunin geschriebene Original las, überzeugte ich mich davon, daß er in seiner Erzählung nichts verschwiegen und alles ausführlich mitgeteilt hatte, den Brief an Alexander II. [1857] einbegriffen.

[Ross erzählt dann, wie ihm infolge dieser Zusammenkunft mit N. schließlich ermöglicht wurde, nach Moskau abzureisen, was in einem Extra-Last- und Personenzug geschah, der zweiundeinehalbe Woche zu dieser Fahrt brauchte.]

In Moskau beim Zusammentreffen mit alten und neuen bekannten Sozialrevolutionären, bolschewistischen und menschewistischen Sozialdemokraten und »Freunden« Bakunins im allgemeinen kam sofort die Rede auf die »Beichte«, Bakunins schimpflichen Fall usw., trotzdem ich die Aufklärung gab, daß er die »Beichte« schrieb, bewußt beabsichtigend, den Zar in Irrtum zu versetzen, ihn zu täuschen, daß auf keine Weise von einem »Fall« auch nur die Rede sein könne. Man legte meinen Worten keine Bedeutung bei, glaubte ihnen nicht. So ging es, bis man den Brief fand, den Bakunin [1854] in der Festung an seine Schwester [Tatjana] schrieb und ihr im geheimen mit ungeheurem Risiko übergeben hatte. Dieser Brief ist auf schmalen Papierstreifen geschrieben und wurde bis zur Revolution im Bakuninschen Familienarchiv aufbewahrt. Dort fand ihn Professor Korniloff, der dieses Archiv studierte, und druckte ihn in seinem Werk M. A. Bakunins »Wanderjahre« ab [erschienen im Mai 1925]. Aus dem Brief ist vollständig ersichtlich, daß Bakunins »Fall« auf keine Weise in Frage kommt. Der bekannte marxistisch-bolschewistische Historiker V. P. Polonski nahm ebenfalls diese Stellung zur »Beichte« ein, nachdem er diesen Brief gesehen hatte [in der zweiten Ausgabe seiner Bakunin-Biographie, 1925], vor Bekanntschaft mit diesem Brief aber sprach er vom »Fall«.

Bei einem meiner Besuche bei Bakunin in Locarno – wenn ich nicht irre 1872 nach der Auslieferung Netschaeffs von der Schweiz an die russische Regierung [nach Bakunins Tagebuch kam Ross am 9. Dezember aus Zürich an und reiste am 10. vormittags über den Simplon nach Genf weiter; es liegt sehr nahe, daß das Gespräch über Netschaeffs Schicksal die russische Festung, zu Erinnerungen Bakunins an seine eigenen Festungsjahre hin überleitete], – erzählte er mir, daß in den österreichischen Kerkern seine Behandlung durch die Behörden und seine Lebensverhältnisse streng, hart und schwer waren, daß er aber unerschüttert das Ende abwartete; er war überzeugt, daß er der Hinrichtung nicht entgehen werde. Als er aber von seiner Auslieferung an den russischen Zar vernahm, versetzte ihn dies in Bestürzung; er nahm an, daß der Zar ihn noch härter behandeln, wenn nicht hinrichten lassen werde.

Er war bei der Ueberführung an Händen und Füßen mit Ketten gefesselt, die Behandlung durch den begleitenden Offizier war eine grobe, zynische; er bekam empörend schlechte Nahrung. Nach der Uebergabe an der Grenze an russische Gendarmen änderte sich das ganze Benehmen zu ihm plötzlich: der russische Gendarmerieoffizier befahl, sofort ihm die Fesseln abzunehmen, lief! ihm gute Nahrung geben, man behandelte ihn zuvorkommend. All dies verwunderte Bakunin, und er wußte nicht, was es bedeuten sollte. In Petersburg, im Alekseiravelin war dasselbe der Fall. Damals bildete sich zum erstenmal in ihm der Gedanke, daß Nikolaus ihn bei weitem nicht so hart behandeln werde, wie er sich vorstellte, und daß er sich vielleicht in einiger Zeit auf irgendeine Weise werde herausreißen können, wenn er auch für die erste Zeit nach Sibirien müßte.

Er stand unter dem Einfluß dieser Idee, als er den vom Zar geschickten Grafen Orloff sah, der den Vorschlag brachte, er solle seine »Beichte« schreiben; er begegnete ihm äußerlich ziemlich kalt, seine Gefühle verbergend, und ließ den Zaren bitten, ihm Zeit zu lassen, über den Vorschlag nachzudenken. Aber er hatte sofort die Absicht gefaßt, sich dieses Vorschlags als Mittel zu seiner Befreiung aus der Festung zu bedienen. In einigen Tagen arbeitete er den ganzen Plan der »Beichte« aus und schrieb sie dann nieder. Das Schwerste für ihn war, soviel ich mich erinnere, zu vermeiden, keine Fingerzeige zu geben, auf niemand hinzuweisen, der kompromittiert werden könnte, besonders in polnischen Angelegenheiten, die mehr als alles andere den Zar interessierten.

Der Zar ließ ihn nicht aus der Festung heraus, aber es war doch, wie er überzeugt war, der »Beichte« zu verdanken, daß seine Haftverhältnisse ganz erträgliche waren; ausreichende Ernährung, der Besuch von Verwandten, Briefe, Bücher, Zeitschriften, Zeitungen; zur [Krim-] Kriegszeit erfuhr er durch Zeitungen und ständige Besuche des Kommandanten und Platzadjutanten ziemlich viel über die Lage in Rußland. Er wartete geduldig das Kriegsende ab, in der Hoffnung, daß sich dann seine Lage bestimmt zum Besseren wenden müsse.

Nikolaus starb, der Krieg war zu Ende, der neue Zar Alexander II. amnestierte die Dekabristen, die Petraschevzy [1848 verurteilt], aber von Bakunin war wider Erwarten nicht die Rede. Auf die Bemühungen seiner Mutter erwiderte der Zar mit einer entschiedenen Ablehnung. Da begriff dann Bakunin, wie er mir sagte, sehr gut, daß, wenn er jetzt nicht aus der Festung herauskommen könne, sein Untergang unabwendbar sei. Es mußten also die entschlossensten Mittel ergriffen werden, und da schrieb er den bekannten Brief an Alexander II., der dem Zar die Möglichkeit nehmen sollte, seine Bitte abzuschlagen [Februar 1857]. »Ich war damals«, sagte Bakunin, »von dem leidenschaftlichen Wunsch nach revolutionärer Tätigkeit erfaßt, ich fühlte in mir ungeheure Kraft, ich war überzeugt, daß ich viel tun könnte; ich kannte recht gut alle revolutionären Elemente Europas«. Und er erreichte das so leidenschaftlich und beharrlich angestrebte Ziel. Man schickte ihn nach Sibirien. Dort richtete er sein Leben und seine Haltung so ein, um die ihn scharf beobachtenden Gendarmen von der Aufrichtigkeit und Wahrheit seiner »Beichte« zu überzeugen.

Es ist seltsam, daß fast alle, die von Bakunins »Fall«, von der »Dämmerung seiner großen Seele« usw. usw. geschrieben haben, nach Erscheinen des Briefes [der geheime Festungsbrief an seine Schwester, 1854, ist gemeint] geschwiegen und es nicht für möglich und notwendig gehalten haben, nicht nur ihren Irrtum einzugestehen, sondern dem beleidigten Mann Genugtuung zu geben. Sie haben ihn bespuckt, geschmäht und Schluß – die Sache ist abgetan. Mit einem Wort, sie nahmen ihm die Möglichkeit, zu beweisen, daß er »kein Taugenichts« ist, wie einer seiner Hauptgegner |sich ausdrückte, wenn ich diesen Satz des russischen Textes richtig verstehe).

Zum Schluß einige Worte darüber, daß die russische Regierung Alexanders II. eine auf der »Beichte« beruhende Broschüre druckte, um Bakunin moralisch zu töten. Dies geschah, als er in Schweden 1863 Hilfe für die aufständischen Polen organisierte. Diese Broschüre ist nicht erschienen; die Regierung selbst hielt sie aus unbekannten Ursachen zurück. »Freunde« [ironisch] Bakunins nehmen daher an, dies sei nicht ohne Intrigen Bakunins geschehen; wahrscheinlich, sagen sie, ist es ihm irgendwie gelungen, die Broschüre zu verhindern. Mir dagegen erklärt sich dieser Umstand vielmehr dadurch: durch Herausgabe einer solchen Broschüre hätte die Regierung den Beweis erbracht, wie man sie getäuscht hat, wie sie aufgesessen ist. Ich stand Bakunin sehr nahe und wir waren sehr aufrichtig zueinander, aber nie hörte oder sah ich das geringste Anzeichen davon, daß er die Veröffentlichung der »Beichte« gefürchtet hätte [eine 1926 in Berlin von dem deutschen Herausgeber der »Beichte« in einer Zeitschrift ausgesprochene phantastische Vermutung]. Warum hätte er sich fürchten sollen? War er nicht immer derselbe geblieben, wie vor seiner Gefangenschaft? Hat er sich verändert, als er die »Beichte« schrieb? Diese »Freunde« Bakunins müssen ihn um jeden Preis schuldig befinden und denken sich alle möglichen Vorwände dazu aus. Auf diesem Gebiet sind die Marxisten Meister.

Moskau, 12. Mai 1926.
M. Saschin (Armand Ross).

Bakunins jetzt ältester Genosse, M. P. Saschin, geboren 1845, schrieb diese Darstellung, deren Kenntnisnahme den Lesern und kritischen Besprechern der jetzt erscheinenden deutschen Uebersetzung der »Beichte« zu empfehlen ist. Die 1862 beginnende sozialistische, später anarchistische Laufbahn Saschins, 1876 durch vieljährigen Kerker und sibirische Verbannung unterbrochen, ist unter anderm seinen Erinnerungen aus den sechziger bis achtziger Jahren (russisch; Moskau, 1925, 143 S.) zu entnehmen. Im vorausgehenden ist das in Klammern Befindliche von mir hinzugefügt.

18 Mai 1926.
M. Nettlau.

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