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Aus Briefen Bakunins aus der Festung Königstein.

An Reichels Schwester Mathilde, am 16. Januar 1850 (in deutscher Sprache).

… Was mein hiesiges Leben betrifft, so ist es sehr einfach und mit wenigen Worten geschildert: – Ich habe eine sehr reinliche, warme und wohnliche Stube, viel Licht und sehe durch das Fenster ein Stück Himmel Hierdurch wird angedeutet, daß ein Holzverschlag die eigentliche Aussicht versperrte.. Um sieben Uhr früh stehe ich auf und trinke Kaffee; dann setze ich mich an meinen Tisch und treibe Mathematik bis um zwölf. Um zwölf bringt man mir mein Essen; Nachmittag werfe ich mich auf mein Bett und lese Shakespeare oder blättere irgendein mathematisches Buch durch. Um zwei holt man mich gewöhnlich zum Spazierengehen; da wird mir eine Kette angelegt, wahrscheinlich, damit ich nicht weglaufe, was aber auch ohnedem unmöglich wäre, da ich zwischen zwei Bajonetten spaziere und eine Flucht aus der Festung Königstein mir wenigstens unmöglich scheint. Vielleicht ist es auch eine Art Symbol, um mich in meiner Einsamkeit an die unsichtbaren Bande zu erinnern, welche jedes Individuum mit der ganzen Menschheit verbinden. Wie dem auch sei, so mit diesem Luxusartikel geputzt, gehe ich eine Weile spazieren und bewundere von weitem die Schönheiten der sächsischen Schweiz. Nach einer halben Stunde kehre ich zurück, lege den Putz ab und studiere bis um sechs Uhr abends englisch. Um sechs trinke ich Thee und nehme wieder die Mathematik vor bis um halb zehn. Obgleich ich keine Uhr bei mir habe, so kenne ich die Zeit recht genau, da eine Turmglocke mir jede Viertelstunde anzeigt, – und um halb zehn jeden Abend erklingt eine melancholische Trompete, deren Gesang, gleich der jämmerlichen Klage eines unglücklich Verliebten, ein Zeichen ist, daß man das Licht ausblasen und sich ins Bett legen muß. Natürlich kann ich nicht sogleich einschlafen und wache gewöhnlich bis Mitternacht. Diese Zeit gebrauche ich, um an alles mögliche zu denken und besonders an die wenigen Lieben, deren Freundschaft mir so teuer ist. Die Gedanken sind zollfrei, durch keine Festungsmauern beschränkt, und so irren die meinigen um die ganze Welt herum, bis ich einschlafe. Jeder Tag wiederholt dieselbe Geschichte. Sie sehen, liebe Freundin, daß meine Lage gar nicht so schlimm ist, und daß mir hier gar nichts fehlt außer zwei Kleinigkeiten, welche den ganzen Wert des Lebens ausmachen. Mein Inneres ist jetzt ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch, darüber darf und will ich nicht sprechen. Wie gesagt, ich bin ruhig, ganz ruhig und auf alles mögliche gefaßt. Ich weiß noch nicht, was man mit mir machen wird; bald werde ich hoffentlich das erste Urteil hören. Ich bin ebenso bereit, wieder in das Leben einzutreten, als von demselben zu scheiden. Jetzt bin ich im Nullpunkte, d. h. ein blos denkendes, d. h. ein nicht lebendes Wesen; denn zwischen denken und sein, wie Deutschland es neuerdings erfahren hat, ist doch eine ungeheure Kluft …

 

Am 16. Februar 1850, an dieselbe, nach der Verurteilung zum Tode.

… Ob ich den Tod verdient habe? Nach den Gesetzen, soweit ich sie aus der Erklärung meines Advokaten begriffen, ja. Nach meinem Gewissen – nicht. Die Gesetze stimmen selten mit der Geschichte überein und bleiben fast immer hinter derselben. Darum gibt es ja auch Umwälzungen auf der Erde und wird es auch immer solche geben. – Ich habe nach meiner besten Ueberzeugung gehandelt, und nichts für mich selbst gesucht. Ich habe gestrandet wie viele andere und bessere vor mir, – aber das, was ich gewollt, kann nicht untergehen, nicht weil ich es gewollt, sondern weil das, was ich gewollt habe, ein Notwendiges, Unvermeidliches ist. Spät oder früh, mit mehr oder weniger Opfern, wird es zu seinem Rechte, zu seiner Verwirklichung kommen. Das ist mein Trost, meine Kraft und mein Glaube. –

Liebe Freundin, Sie träumen sich ein Himmelreich auf Erden, Sie glauben, daß das Wort allein genügt, um die Welt zu bekehren, die Menschen zur Menschlichkeit und zur Freiheit zu führen. Oeffnen Sie aber nur die Annalen der Geschichte, und Sie werden finden, daß der kleinste Fortschritt der Menschheit, jede neue lebendige Frucht aus einem mit menschlichem Blute begossenen [Boden] entstanden ist, – und so können wir hoffen, daß das unsrige auch nicht gänzlich verloren sein wird. Selbst Christus – mit dem ich übrigens gar nicht im Sinn habe, uns zu vergleichen, – ist als Staatsverbrecher durch die jüdischen Gesetze zum Tode verurteilt worden. – Er hat aber keines vergossen, werden Sie sagen, – ja, andere Zeiten, andere Sitten. – Um diese Frage in ihrer ganzen Wahrheit zu ergreifen, müssen Sie sich, liebe Freundin, auf einen etwas höheren Standpunkt stellen … Die Geschichte ist eine Tragödie, ein fortwährender, großartiger Kampf des Alten mit dem Neuen. Das Alte hat recht, weil es besteht – das Neue, weil es das dem Alten selbst innewohnende Lebens- und Vernichtungsprinzip ist, die schöpferische Quelle der Zukunft. Vergessen Sie nie, daß es eine Zeit gab, wo das Alte auch neu und somit ungesetzlich erschien. Nun ist es solid geworden, hat sich gesetzt, d. h. ist zum Gesetze geworden – und bekämpft das neue Neue ebenso wie es vormals selbst von dem älteren Alten bekämpft wurde. In diesem Kampfe siegt bald das Neue, und das nennt man Revolution, bald das Alte, und das nennt man Reaktion und gesetzliche Strafe. Beide Parteien haben von ihrem Standpunkt recht: die richtende wie die gerichtete. Die erste, weil sie die Gesetze für sich hat, die andere, weil sie nach ihrer Ueberzeugung handelt …

… Ich weiß, Sie hassen die Stürme; ob mit Recht? das ist die Frage. Stürme in der sittlichen Welt sind ebenso notwendig wie in der Natur: sie reinigen, sie verjüngen die geistige Atmosphäre, sie entfalten die schlummernden Kräfte, sie zerstören das Zerstörbare und leihen dem ewig lebenden einen neuen, unverwelklichen Glanz. Im Sturme athmet man leichter; erst im Kampfe erfährt man, was ein Mensch kann, was er soll – und wahrlich tat ein solcher Sturm not der jetzigen Welt, welche sehr nahe daran war, an ihrer verpesteten Luft zu ersticken. Nur ist er lange noch nicht vorbei; ich glaube, ich bin fest überzeugt, daß, was wir erlebt haben [1848-49], nur ein schwacher Anfang dessen gewesen, was noch kommen und lange, lange dauern wird. – Die Heilung wird uns desto schwieriger werden, als die Krankheit gefährlich war, und die Krankheit ist maßlos. Blicken Sie um sich und sehen Sie, wie diese sogenannte zivilisierte Welt hilflos und machtlos dasteht und nicht weiß, was sie anfangen, wohin sie sich flüchten soll. – Sie ist in ihrem Fortschritt stecken geblieben, sie kann nicht weiter; denn sie ist von allen Triebfedern des Lebens und des Weitergehens verlassen. – Sie glaubt an nichts mehr, weder an sich selbst, noch an die Zukunft … Ihre Stunde hat geschlagen, ihr jetziges Leben ist nichts als ein letzter Todeskampf; – aber fürchten Sie sich nicht, liebe Freundin, eine jüngere und schönere Welt wird ihr folgen, nur schade, daß ich diese nicht sehen werde und Sie auch nicht, denn der Kampf, wie gesagt, wird noch lange dauern und wird uns beide überleben …


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