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VII.

Aber Fritz wollte und konnte auch gar nicht Paris verlassen. Einmal hielten ihn seine finanziellen Verbindlichkeiten fest, und dann mußte er hier den Vorbereitungskursus für seine praktische Thätigkeit als Anwalt vollenden. Er stürzte sich mit Feuer in die Arbeit, um die Langeweile zu vertreiben; er ging nicht mehr zu Gerard, schloß sich einen Monat ein und verließ sein Zimmer nur, um sich in den Justizpalast zu begeben. Aber die Einsamkeit, in die er sich plötzlich nach einem nur dem Vergnügen gewidmeten Leben versetzt sah, machte ihn ganz melancholisch. Er ging oft den ganzen Tag im Zimmer auf und ab, ohne ein Buch zu öffnen und ohne zu wissen, was er thun sollte. Die Karnevalszeit war bereits vorüber, die eisigen Märzregen hatten die Schneefälle des Februar abgelöst. Freundschaftlicher Geselligkeit fern, durch keine Zerstreuung, kein Vergnügen abgelenkt, überließ sich Fritz widerstandslos dem niederschlagenden Eindruck dieser traurigen Zeit des Jahres, die mit Recht »die tote Saison« heißt.

Gerard suchte ihn auf und fragte, was ihn zu dieser plötzlichen Abschließung bewogen hätte. Fritz machte kein Geheimnis daraus, aber er wies alle Anerbietungen seines hilfsbereiten Freundes zurück.

»Es ist Zeit,« sagte er, »daß ich Gewohnheiten aufgebe, die nur zu meinem Untergange führen können. Es ist besser, Langeweile zu empfinden, als sich wirklichem Unheil auszusetzen.«

Er verbarg auch den Kummer nicht, den ihm die Trennung von Bernerette bereitete, und Gerard bedauerte ihn, mußte ihm aber zugleich zu seiner Entschließung Glück wünschen.

Einmal ging er zum großen Maskenball im Opernhaus. Er war nur schwach besucht. Das Orchester, dessen Mitglieder zahlreicher erschienen waren als die Gäste, ließ in der Öde verschiedene Tanzweisen ertönen. Einige Masken irrten im Foyer umher, aus ihrer Haltung und ihrer Sprache konnte man schließen, daß die anständigere Frauenwelt diesen einst so rauschenden Festlichkeiten fern blieb. Fritz setzte sich abseits, als sich ein Domino neben ihm niederließ. Er erkannte Bernerette, die ihm sagte, sie wäre nur in der Hoffnung gekommen, ihn hier zu treffen. Er fragte sie, was sie seit ihrer Trennung gemacht hätte; sie erwiderte, sie hoffe, wieder zur Bühne gehen zu können, sie studiere eine Rolle für ihr erneutes Auftreten. Fritz hätte sie gern zum Souper mitgenommen; aber er dachte daran, wie leicht er sich bei seiner Rückkehr von Besançon bei einer ähnlichen Gelegenheit hatte verstricken lassen; er drückte ihr die Hand und verließ den Saal allein.

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Man sagt wohl, Kummer sei besser als Langeweile, das ist ein trauriges aber leider wahres Wort. Eine gesunde Seele besiegt am Ende jeden Kummer durch Thatkraft und Mut; ein großer Schmerz ist oft sogar ein großes Gut. Die Langeweile dagegen zernagt und zerstört den Menschen; der Geist erstarrt, der Körper erschlafft, und die Gedanken schweifen ziellos umher. Keinen Lebenszweck zu haben ist schlimmer als der Tod. Wenn Vorsicht, Interesse und Vernunft eine Leidenschaft verbieten, so ist es für den ersten besten leicht, begründeten Tadel gegen den zu erheben, der jener Leidenschaft nachgiebt. Eine Fülle von Argumenten pflegt in derartigen Fällen vorgebracht zu werden, und es bleibt wohl auch nichts übrig, als ihnen gegenüber die Segel zu streichen. Aber wenn das Opfer gebracht ist, wenn Vernunft und Vorsicht triumphiert haben, welcher Philosoph oder welcher Sophist ist dann nicht mit seinen Argumenten am Ende? Und was soll man einem Menschen antworten, der da sagt: »Ich bin Ihren Ratschlägen gefolgt, aber ich habe alles verloren, ich habe weise gehandelt, aber nun leide ich?«

So war Fritz' Lage. Bernerette schrieb ihm zweimal. Im ersten Briefe sagte sie, das Leben wäre ihr unerträglich geworden, sie bat ihn, von Zeit zu Zeit zu ihr zu kommen, und sie nicht gänzlich im Stiche zu lassen. Er hatte zu wenig Vertrauen in seine Festigkeit, um dieser Bitte nachzugeben. Der zweite Brief kam geraume Zeit später. »Ich habe meine Eltern wiedergesehen,« hieß es darin, »und sie behandeln mich besser. Ein Onkel ist gestorben, und von ihm haben wir etwas Geld geerbt. Ich lasse mir für mein Auftreten auf der Bühne Kostüme anfertigen, die Ihren Beifall finden werden, und die ich Ihnen gerne zeigen möchte. Treten Sie doch, wenn Sie Ihr Weg bei meiner Wohnung vorüber führt, auf ein Weilchen ein.« Diesmal ließ sich Fritz überreden. Er besuchte seine Freundin, aber es war kein Wort wahr von allem, was sie geschrieben hatte. Sie hatte ihn nur wiedersehen wollen. Er war von ihrer Ausdauer gerührt, aber die Notwendigkeit des Widerstandes war für ihn nur um so trauriger. Sobald er hiervon zu sprechen begann, schloß ihm Bernerette den Mund.

»Ich weiß es,« sagte sie, »küsse mich und geh' fort.«

Gerard ging auf das Land, und Fritz begleitete ihn. Die ersten schönen Tage, die körperliche Anregung durch das Reiten machten den letzteren wieder etwas heiterer, auch Gerard fühlte sich wohl; er hatte sein Mädchen, wie er sich ausdrückte, wieder heimgeschickt, er wollte ganz frei sein. Die jungen Leute streiften zusammen durch den Wald und machten einer hübschen Pächterstochter aus dem nahen Flecken den Hof. Aber bald stellten sich Gäste aus Paris ein, an die Stelle des Reitens trat das Spielen; die Diners wurden immer ausgedehnter und lärmender. Für Fritz war dieses Leben, das ihn nicht mehr wie ehemals blendete, unerträglich, und er zog sich wieder in seine Einsamkeit zurück.

Es kam ein Brief aus Besançon an, in dem ihm sein Vater mitteilte, Fräulein Darcy käme mit ihrer Familie nach Paris. In der That traf sie noch im Laufe der Woche ein. Fritz machte seinen Besuch, wenn auch mit innerem Widerstreben. Er fand sie, wie er sie verlassen hatte, treu ihrer geheimen Neigung und bereit, sich dieser Treue als eines Mittels der Koketterie zu bedienen. Jedenfalls gestand sie ein, es thue ihr leid, daß ihr bei der letzten Unterredung in Besançon einige zu harte Worte entschlüpft seien. Sie bat Fritz um Verzeihung, wenn sie anscheinend an seiner Diskretion gezweifelt habe. Sie bot ihm, da sie unvermählt bleiben wolle, von neuem ihre Freundschaft an, aber diesmal auf ewig. Wenn man sich weder froh noch glücklich fühlt, ist ein derartiges Anerbieten immer willkommen; der junge Mann dankte ihr und fand einigen Genuß darin, von Zeit zu Zeit seine Abende bei ihr zu verbringen.

Eine gewisse Sucht nach Aufregung veranlaßt manchmal blasierte Menschen, stets auf der Jagd nach etwas Außerordentlichem zu sein. Bei einer so jungen Person wie Fräulein Darcy mag ein so sonderbarer und gefährlicher Charakterzug auffallend erscheinen. Dennoch besaß sie in der That diese Eigenheit. Ohne Schwierigkeit gewann sie Fritz' Vertrauen und ließ sich von ihm seine fernere Liebesgeschichte erzählen. Sie hätte ihm vielleicht Trost verschaffen können, wenn sie ihm gegenüber nur die Kokette gespielt hätte, wenigstens hätte sie ihm in seinem Kummer einige Zerstreuung gewährt; aber sie gefiel sich in der umgekehrten Rolle. Statt ihn wegen seiner Verirrungen zu tadeln, meinte sie, die Liebe entschuldige alles, und seine Thorheiten gereichten ihm zur Ehre, und anstatt ihn in seinem Entschlusse zu festigen, versicherte sie ihm wiederholt, sie könne nicht begreifen, daß er ihn gefaßt hätte. »Wäre ich ein Mann und erfreute mich derselben Freiheit wie Sie, so sollte mich nichts auf der Welt von der Frau, die ich liebte, trennen; mit Freuden würde ich mich, wenn es sein müßte, lieber allem Unheil und dem Elend preisgeben als auf meine Geliebte verzichten.«

Im Munde einer jungen Person, die von der Welt nur den Kreis ihrer Familie kannte, war das eine merkwürdige Sprache. Aber gerade darum war sie um so wirkungsvoller. Zwei Motive bewogen Fräulein Darcy zu dieser Rolle, die ihr auch sonst zusagte. Einmal wollte sie sich großherzig zeigen und einen romantischen Anstrich geben; andererseits bewies sie dadurch, daß sie, weit entfernt, Fritz zu tadeln, weil er sie vergessen hätte, seine Neigung gut hieß. Zum zweitenmale ließ sich der arme Bursche durch diese Intrigantin am Seile führen und von einem siebzehnjährigen Kinde übertölpeln. »Sie haben recht,« versetzte er, »das Leben ist doch so kurz und das Glück hier unten so selten, daß man sehr thöricht handelt, wenn man lange nachdenkt und sich noch mutwillig Kummer zuzieht, während es doch so vielen unvermeidlichen ...« Doch Fräulein Darcy fiel ihm ins Wort und ließ sich nun auf eine ganz andere Weise vernehmen. »Werden Sie von Ihrer Bernerette geliebt?« fragte sie mit verächtlicher Miene. »Sagten Sie mir nicht, daß es eine Grisette wäre? Wie kann man sich denn auf eine solche Frau verlassen? Sollte sie ein Opfer wert sein? Würde sie den Preis auch nur zu schätzen vermögen?«

»Ich kann's nicht sagen,« erwiderte Fritz, »und ich empfinde auch selbst keine große Liebe zu ihr,« fügte er in leichtem Tone hinzu; »war ich bei ihr, so wollte ich mir nur die Zeit angenehm vertreiben. Jetzt habe ich Langeweile, das ist das ganze Leiden.«

»Pfui!« rief Fräulein Darcy, »was ist das für eine Neigung!«

Leidenschaftlich ergoß sich der Strom ihrer Worte über dieses Thema, als ob ihre eigene Person dabei beteiligt wäre, und ihre lebhafte Phantasie hatte einen geeigneten Tummelplatz gefunden. »Heißt das lieben,« sagte sie, »wenn man sich die Zeit zu vertreiben sucht? Wenn Sie dieses Weib nicht liebten, was wollen Sie denn bei ihr? Wenn Sie sie liebten, warum ließen Sie sie im Stich? Sie leidet, sie weint vielleicht. Wie können klägliche Geldfragen in einem edlen Herzen Raum finden? Sind Sie ebenso gefühllos, ebenso sehr Sklave Ihres Eigennutzes, wie es meine Eltern unlängst waren, da sie mich für mein ganzes Leben unglücklich machten? Ist das die Rolle eines jungen Mannes und erröten Sie nicht darüber? Aber nein, Sie wissen selbst nicht, was Ihnen fehlt; die erste beste wird Sie trösten; Ihr Geist sucht nur eine Beschäftigung. So liebt man nicht! Ich habe Ihnen in Besançon verkündet, Sie würden eines Tages wissen, was Liebe ist, aber wenn Sie nicht mehr Mut besitzen, so sage ich Ihnen heute, Sie werden es nie wissen!«

Nach einer derartigen Unterhaltung war Fritz eines Abends auf dem Rückwege zu seiner Wohnung, als ihn der Regen überraschte. Er trat in ein Café und trank ein Glas Punsch. Fühlen wir im Herzen längere Zeit eine Leere, so genügt oft eine leichte Aufregung, um es stärker schlagen zu lassen; so ging es auch Fritz. Als er das Café verließ, beschleunigte er seine Schritte. Zwei Monate voll Einsamkeit und voll Entbehrung lagen schwer auf ihm; er empfand das unüberwindliche Bedürfnis, das Joch der Vernunft abzuschütteln und dem freien Zuge des Herzens zu folgen.

Ohne weitere Überlegung schlug er den Weg zu Bernerettes Wohnung ein; der Regen hatte aufgehört; er blickte bei hellem Mondlicht zu den Fenstern seiner Freundin auf und betrachtete mit eigenen Gefühlen die ihm so vertraute Pforte. Mit zitternder Hand ergriff er die Schelle und fragte sich, ob er wohl wie früher das Feuer mit Asche bedeckt und ein Mahl bereit finden würde. Im Augenblick, als er schellen wollte, zögerte er.

»Aber was kann es schaden,« sagte er bei sich, »wenn ich eine Stunde bei ihr weile und Bernerette um ein Denkzeichen ihrer alten Liebe bitte? Welche Gefahr sollte mir das bringen? Werden wir nicht beide morgen wieder frei sein? Da uns das Gebot der Notwendigkeit doch von einander trennt, warum soll ich mich vor einem kurzen Wiedersehen fürchten?«

Es war Mitternacht. Er klingelte leise, und die Pforte öffnete sich. Wie er die Treppe hinaufging, rief ihn die Portiersfrau an und sagte ihm, es wäre niemand im Zimmer. Das war das erstemal, daß er Bernerette nicht zu Hause traf. Er dachte, sie wäre vielleicht ins Theater gegangen, und sagte, er wollte warten, aber die Portiersfrau widersprach. Nach längerem Zögern gestand sie ihm endlich, Bernerette wäre früh weggegangen und würde erst am nächsten Tage wiederkommen.


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