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I.

Es war gegen das Ende der zwanziger Jahre, als sich Fritz Hombert aus seiner Vaterstadt Besançon nach Paris begab, um sich an der dortigen Rechtsakademie dem Studium der Jurisprudenz zu widmen. Der junge Student verfügte zwar bei den beschränkten Verhältnissen seiner Familie nur über einen sehr mäßigen Wechsel, doch, haushälterisch und anspruchslos, wie er war, kam er mit wenigem aus. Um den Hörsälen möglichst nahe zu sein, mietete er sich im » quartier latin«, dem Pariser Studentenviertel, ein; und die Aufgabe, die ihn nach der Hauptstadt geführt hatte, erfüllte ihn so gänzlich, daß er kaum die öffentlichen Plätze und Denkmäler aufsuchte, die in Paris beständig einen Strom von Fremden anziehen. Seine einzige Zerstreuung bildete der Umgang mit einigen Studiengenossen, die er an der Universität kennen lernte, und ein gelegentlicher Besuch in den Häusern, deren Thüren sich ihm infolge von Empfehlungsschreiben geöffnet hatten. Mit seinen Eltern stand er in regelmäßigem brieflichem Verkehr und machte ihnen sofort Mitteilung, wenn er wieder eine glücklich bestandene Prüfung hinter sich hatte. Nach anhaltendem dreijährigem Studium sah er endlich den Zeitpunkt herankommen, wo er sein Patent als Anwalt erhalten sollte, er hatte nur noch seine letzte wissenschaftliche Prüfungsarbeit, seine These, zu verfassen; bereits war in Besançon seine Heimkehr angesagt, als ein unvorhergesehener Umstand eintrat, der in sein bisher sich so regelmäßig und ruhig entwickelndes Dasein eine nachhaltige Störung brachte.

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Vor den Fenstern seines bescheidenen Zimmers im dritten Stock eines Hauses in der Straße La Harpe standen Blumen, die er mit seiner gewöhnlichen Sorgfalt pflegte. Während er sie eines Morgens begoß, bemerkte er am entsprechenden Fenster des gegenüberliegenden Hauses ein junges Mädchen, das ihn mit freundlichem Lächeln betrachtete. Ihr Antlitz trug so sehr das Gepräge der Offenheit und natürlichen Frohsinns, daß er ihr unwillkürlich zunickte. Sie erwiderte den Gruß mit holder Anmut, und von da an versäumten sie es nicht, jeden Morgen in gleicherweise über die Straße hinüber Gruß um Gruß zu tauschen. Eines Tages nahm Fritz nach dem üblichen Morgengruß ein Blatt Papier, faltete es in Briefform und zeigte es seiner Nachbarin, als wenn er fragen wollte, ob er einen Brief an sie richten dürfe. Doch sie schüttelte den Kopf und verschwand mit verdrießlicher Miene vom Fenster.

Der Zufall wollte es, daß sie sich am nächsten Tage auf der Straße begegneten. Das junge Mädchen kam gerade nach Hause zurück und zwar in Begleitung eines jungen Mannes, den Fritz nicht kannte und den er sich nicht erinnerte, je unter den Studenten gesehen zu haben. Aus der Haltung und Kleidung seiner Nachbarin glaubte Fritz schließen zu müssen, sie wäre, was man in Paris eine Grisette nennt. Ihr Begleiter war allem Anschein nach ein Bruder oder ein Geliebter, und zwar viel eher dies als jenes. Auf alle Fälle faßte unser Student den Entschluß, sich das ganze Abenteuer aus dem Sinne zu schlagen. Da bereits die ersten Fröste eingetreten waren, nahm er seine Blumen ins Zimmer, aber er konnte sich nicht helfen, immer wieder mußte er einen Blick durch die Scheiben werfen; endlich rückte er seinen Arbeitstisch näher zum Fenster und ordnete den Vorhang so, daß er hindurchsehen konnte, ohne selbst von außen bemerkt zu werden.

Die Nachbarin war aber des Morgens nicht mehr zu sehen. Manchmal erschien sie abends gegen fünf Uhr am Fenster, um die Jalousien zu schließen, wenn sie ihre Lampe angezündet hatte. Einmal wagte es Fritz, ihr eine Kußhand zuzuwerfen. Zu seinem Erstaunen erwiderte sie seine Kühnheit mit derselben Freundlichkeit wie damals seinen ersten Gruß. Noch einmal hob er das Stück Papier in die Höhe, das noch gefaltet auf seinem Schreibtische lag, und suchte durch alle möglichen Zeichen seinen Wunsch zu erkennen zu geben, man möchte ihm schreiben oder einen Brief von ihm entgegennehmen. Aber auch diesmal erfolgte keine befriedigende Antwort; die Grisette schüttelte wieder den Kopf, und so ging es acht Tage fort. Die Küsse waren willkommen, nicht aber die Briefe.

Nach einer Woche war es Fritz müde, immer dasselbe erfolglose Spiel zu wiederholen, und zerriß das Papier vor den Augen seiner Nachbarin. Sie lachte erst, zog aber dann nach einigem Schwanken aus ihrem Schürzentäschchen ihrerseits einen Brief und zeigte ihn dem Studenten. Man kann sich denken, daß er nicht den Kopf schüttelte. Da er nicht zu ihr sprechen konnte, schrieb er auf ein großes Blatt Zeichenpapier in Riesenbuchstaben die drei Wörter: Ich liebe Sie! Dann lehnte er das Blatt an eine Stuhllehne und setzte zwei angezündete Kerzen davor. So las die Grisette mit Hilfe einer Lorgnette die erste Erklärung ihres Liebhabers. Sie antwortete mit einem Lächeln und machte Fritz durch ein Zeichen verständlich, er sollte herunterkommen und sich das Briefchen holen.

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Es war bereits dunkel und dazu stark nebelig. Unverzüglich eilte der junge Mann die Treppen hinunter, ging schnell über die Straße und trat in das gegenüberliegende Haus. Die Thür war offen, und das Fräulein stand unten an der Treppe. Fritz umfing sie mit seinen Armen und hatte es eiliger, sie zu küssen als sie anzureden. Bebend entzog sie sich ihm.

»Was haben Sie mir geschrieben?« fragte er. »Wann und wie kann ich Sie wiedersehen?«

Sie kam ihm wieder etwas näher und sagte, indem sie das Briefchen in seine Hand gleiten ließ: »Seien Sie vorsichtig und durchschwärmen Sie künftig nicht mehr die Nächte!«

In der That hatte der Student trotz seines sonstigen löblichen Lebenswandels seit kurzem angefangen, die Nächte außerhalb zu verbringen, was der Aufmerksamkeit der Grisette nicht entgangen war.

Wenn zwei Liebende einig sind, so werden die entstehenden Hindernisse leicht überwunden. In dem Briefe war die größte Vorsicht anempfohlen, es war von drohenden Gefahren die Rede, schließlich wurde aber gefragt, wo man sich sehen könnte; in dem Zimmer des Studenten dürfte es keinesfalls geschehen. Es mußte also ein Zimmer in der Nähe ausfindig gemacht werden, und daran fehlte es im »quartier latin« nicht. Nach Verabredung des ersten Stelldicheins erhielt Fritz folgende Zeilen:

 

»Sie sagen, Sie lieben mich, und Sie sagen mir nicht, ob Sie mich hübsch finden. Sie haben mich nicht ordentlich gesehen, und um mich lieben zu können, müssen Sie mich besser sehen. Ich werde in Begleitung einer älteren Frau ausgehen. Folgen Sie mir und treffen Sie mich auf der Straße! Reden Sie mich wie eine alte Bekannte an und sagen Sie irgend etwas zu mir; dabei betrachten Sie mich aufmerksam! Wenn Sie mich nicht hübsch finden, so werden Sie es mir sagen, und ich werde es nicht übel nehmen. Das ist ganz einfach, und im übrigen bin ich nicht bösartig.

Tausend Küsse.

Bernerette.«

 

Fritz befolgte die Weisungen seiner Geliebten, und das Ergebnis der Probe war, wie zu erwarten, über jeden Zweifel erhaben.

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In wohlberechneter Koketterie hatte jedoch Bernerette für diese Begegnung nicht etwa ihre glänzendste Toilette ausgesucht, sondern erschien in einfachstem Anzuge. Der Student begrüßte sie achtungsvoll und bemerkte wiederholt, er finde sie schöner als je. Dann kehrte er voll Entzücken über seine neue Eroberung in seine Wohnung zurück. Aber doch noch schöner erschien ihm die Geliebte am nächsten Tage beim Stelldichein, als er sah, daß sie nicht nur den Toilettenputz, sondern jegliche, auch die dürftigste Toilette missen könnte.


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