David Christie Murray
Der Bischof in Not
David Christie Murray

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

An demselben Abend, während der Bischof noch in seinem engen Gefängnis auf und ab ging und James, sein Wächter, im Nebenzimmer auf dem Ladentische saß und seine große Cigarre rauchte, erhielt der junge Draker mit der Post die erste Prozeßvollmacht seines Lebens, und als er seinen Büreaudiener, den er mit zwei andern Herren gemeinsam hielt, entlassen hatte, tanzte, sang und frohlockte er. Hierauf wusch er sich die Hände und verließ sein Büreau – ein Büreau bleibt ein Büreau, auch wenn dreißig Herren nur eins gemeinsam haben – bereit, die ganze Welt zum Diner einzuladen. Beim Verlassen des Hauses begegnete ihm Tom Finch, und natürlich lud er diesen ein, und Tom nahm ebenso natürlich an. Drakers Börse war ziemlich leer, wenn auch sein Herz voll war, und deshalb gingen die zwei Freunde in eine bescheidene Wirtschaft, wo sie ein Hammelsrippchen mit einer mehligen Kartoffel aßen und eine Flasche billigen Rotweins dazu tranken. Während sie beim Essen saßen, trat noch ein emporstrebender Rechtsanwalt ein, dessen Namen ich vergessen habe, ein Freund Drakers, der, wie es sich herausstellte, mit dem Eilzuge um acht Uhr fünfzehn Minuten auf einige Zeit nach Paris fahren wollte, um sich einen lustigen Tag zu machen.

Da das Wetter an diesem Juliabend sehr schön war, beschlossen Draker und Tom, ihn nach dem Bahnhofe zu begleiten, und die drei wanderten vergnüglich plaudernd über den Strand nach Charing Croß, wo der Reisende seine Karte nahm und den Freund traf, der mit ihm fahren wollte und das Gepäck schon besorgt hatte. Draker und Tom versahen sich mit Bahnsteigkarten, um die Reisenden bis an den Wagen geleiten zu können. Während sie scherzend auf dem Bahnsteig standen, ging ein glattrasierter Herr von militärischem Aussehen so dicht an ihnen vorüber, daß er Tom anstieß. Die Reisenden waren bereits in ein Rauchcoupé zweiter Klasse gestiegen, und Draker hatte den Kopf durchs Fenster gesteckt und sprach mit ihnen. Als Tom den Stoß fühlte, wandte er sich um, während der militärisch aussehende Herr mit zurückgenommenen Schultern in strammem Husarenschritt weiterging.

»Eine Million gegen eins, wenn das nicht der Oberst Varndyke ist!« rief Tom und lief hinter dem Fremden her. »Wohin du auch reisen möchtest, mein christlicher Freund,« fuhr er bei sich fort, »aber weit von London kommst du diese Nacht nicht.«

Noch während ihm dies durch den Kopf ging, wandte sich der Herr halb um, so daß Tom sein Profil sehen konnte, und dies veranlaßte diesen, plötzlich stehen zu bleiben. Es war doch nicht sein Mann.

»Ich weiß nicht,« dachte Tom, »ein abgenommener Bart kann ein Gesicht zwar merkwürdig verändern, aber auf den Gang könnte ich schwören. Ich muß ihn mir doch noch einmal näher ansehen.«

Der Fremde bestieg einen Wagen erster Klasse, und nachdem der Schaffner, der seine Karte prüfte, sich entfernt hatte, trat Tom herzu und blickte durchs Fenster, als eine Stimme rief: »Zurücktreten!« und sich der Zug in Bewegung setzte. In diesem Augenblick sah der Reisende im Wagen auf und seine Blicke begegneten denen Toms. Ein weiterer Irrtum war unmöglich, es war der Mann, der mit dem Strolch gesprochen hatte, der Mann, dem die Frage nach Portland so unangenehm gewesen war. Schon hatte der Zug seine Fahrt beschleunigt, aber Tom sprang aufs Trittbrett, drehte den Griff, riß die Thür auf und schwang sich hinein. Warnendes und scheltendes Geschrei wurde hinter ihm hörbar, aber er achtete nicht darauf. Wie wir wissen, war er ein ungestümer junger Mann, und seine Art war es stets gewesen, erst zu handeln und dann zu überlegen. Das ist eine Handlungsweise, die den Menschen, der sie sich zur Regel macht, leicht in Unannehmlichkeiten verwickeln kann, und Tom darf seinem Schöpfer danken, daß er meist Trieben folgt, die er zu rechtfertigen vermag.

»Ich habe ein Wörtchen mit Ihnen zu reden,« begann Tom ganz kalt, indem er sich dem großen Herrn, der einen in die Augen fallenden Versuch machte, ihn zu »schneiden«, gegenübersetzte.

»So?« sprach der Oberst. »Ich wüßte nicht, daß ich das Vergnügen hätte, Sie zu kennen.«

»O doch, das Vergnügen haben Sie,« entgegnete Tom. »Ich las Erkennen in Ihren Augen, ehe Sie die Vorhänge herabließen, und wie ich sehe, erinnern Sie sich auch dieser Worte.«

»Ich weiß nicht, wer, zum Teufel, Sie sind,« sprach Oberst Varndyke, »oder aus welchem Irrenhause Sie entsprungen sind. Ich kenne Sie nicht und verlange nicht nach Ihrer Gesellschaft.«

»O, das glaube ich schon,« entgegnete Tom, »aber Sie werden sich nichtsdestoweniger das Vergnügen meiner Gesellschaft bis zum nächsten Haltpunkt und dann zurück nach Bow Street gefallen lassen müssen.«

In diesem Augenblick flog Oberst Varndykes linke Hand mit gewaltiger Kraft und Gewandheit vorwärts, aber Tom wich ihr aus, so daß der Schlag das gepolsterte Kissen traf. Nun begann ein wütendes Ringen, und Tom hatte Gelegenheit, sich zu freuen, daß er die Gesundheit verleihende, Selbstbeherrschung lehrende und überhaupt bewundernswerte Kunst des Boxens erlernt hatte und auch ein paar Kniffe der Ringkunst kannte. Es war ein wilder Kampf, zuerst Hand gegen Hand, dann Brust an Brust, Hüfte an Hüfte. Schon aus dem ersten Griffe hatte Tom erkannt, daß ihn sein Gegner aus dem Fenster werfen wollte, wenn er könnte. An Körpergewicht und Muskelkraft war ihm Varndyke überlegen, aber Tom war gewandt und geschickt und wußte sich zu verteidigen. Dem größeren Manne begann bald der Atem auszugehen, so daß es Tom gelang, sich frei zu machen, und nun wurde aus dem Ringkampf ein Faustkampf. Dem Oberst Varndyke brauchte nicht zum zweitenmal gesagt zu werden, daß seine Freiheit vom Ausgange dieses Kampfes abhing, und Tom Finch wußte ganz genau, daß sein Leben auf dem Spiele stand, denn das las er deutlich in dem verzweifelten Hasse, der in den Augen seines Gegners glühte. Deshalb kämpften sie beide mit Vorsicht, ohne sich viel auf Ausweichen und nur wenig auf Finten einzulassen, denn jeder wußte, daß er es mit einem Gegner zu thun hatte, der seine Sache verstand. Der Spitzbube zielte nach dem Kopfe und Tom nach dem Rumpfe, doch er war der ruhigere von beiden. »Er hat nicht viel an Atem zuzusetzen,« sagte er sich, »und das ist die Schwäche, die ich ausnützen muß.« Tom warf seinen Kopf bald nach rechts, bald nach links, und so gelang es ihm, allen Schmiedehammerschlägen Varndykes bis auf einen auszuweichen, während er diesen immer in der Gegend der Uhrkette traf. Endlich gelang es ihm, einen Schlag mit solcher Wucht anzubringen, daß sich Varndyke zusammenkrümmte, und nun folgte ein zweiter gewaltiger Schlag von oben herunter, der den Oberst zu Boden streckte. Jetzt stieß Tom mit dem Ellbogen die Scheibe der Wagenthür ein und zog die Notleine. Es war die höchste Zeit, denn in seinem Kopfe begann es sich zu drehen, und wenn der andre nur eine Minute länger kampffähig geblieben wäre, hätte sich der Sieg ihm zuneigen können. Der Zug verminderte seine Geschwindigkeit, aber er war in voller Fahrt gewesen, und es dauerte einige Zeit, bis er zum Stehen gebracht wurde. »Dieser Mensch da,« sprach Tom zu dem erscheinenden Zugführer, »nennt sich Varndyke, ist aber ein aus Portland entsprungener Sträfling.«

Oberst Varndyke erwiderte nichts, der Zugführer gab das Zeichen, daß der Zug weiter fahren könne, und setzte sich zwischen die beiden Gegner. Die Lokomotive gewann wieder ihre Geschwindigkeit, und der Zug rasselte mit seiner alten ungestümen Einförmigkeit weiter, während sich der Oberst allmählich zu erholen begann.

»Das sollen Sie teuer bezahlen, Sie infamer Hund,« begann er, und von diesem Augenblick an machte er seiner Wut in einem ununterbrochenen Redestrom Luft. Es sei ganz unerhört, erklärte er, daß ein anständiger Mann auf diese Weise von einem offenbar verrückten Menschen überfallen werde, und es sei Pflicht der Eisenbahngesellschaft, ihre Reisenden vor solchen Unannehmlichkeiten zu schützen. Auch über seine eigene hohe persönliche Stellung sprach er und verkündete seinen Entschluß, Sühne für den Vorfall dieser Nacht zu erlangen, und wenn es ihn tausend Pfund koste. Zu all diesem Geschwätz schwieg Tom und versuchte zu lächeln, was ihm jedoch nur schlecht gelang, da sich sein Mund in wahrhaft grotesker Weise nach einer Seite verzogen hatte. Schon oft hatte er sich die bittersten Vorwürfe gemacht, daß er sich den Spießgesellen dieses Menschen hatte durch die Finger schlüpfen lassen, aber jetzt fühlte er, daß ihm das Glück Gelegenheit gegeben habe, seinen Fehler wieder gut zu machen und seine Selbstachtung wieder zu erringen.

Zwei Stunden später fuhren unsre Reisenden wieder nach London zurück, diesmal in Begleitung eines Polizeibeamten der Grafschaft Kent. Ihr Ziel war das Polizeigefängnis in Bow Street. In dieser großen Börse der Spitzbüberei mußte Tom seine Anklage begründen. Der Oberst spielte den tief gekränkten Ehrenmann, aber bei der ersten Erwähnung des Ausbruchs aus dem Gefängnis von Portland blickte der Inspektor, der vor einem dicken Buche saß, empor und schaute ihn mit einem väterlichen Lächeln an.

»Sieh da, Eves!« rief er. »Was haben Sie denn mit sich angestellt, daß ich Sie nicht gleich erkannt habe? Aha, ich sehe, Sie haben Ihr Haar gefärbt, und dann diese Augenbrauen! Gar nicht übel, wirklich, gar nicht übel!«

»O ja,« entgegnete der Gefangene, »Sie sehen so lustig und schlau aus, als ob Sie die Sache selbst gemacht hätten. Aber ich habe doch eure ganze Bande an der Nase herumgeführt, und wenn ich nicht dieses infame Pech gehabt hätte, wäre ich schon längst überm Wasser.«

»O,« antwortete der Inspektor freundlich, »Sie dürfen es mir nicht übel nehmen, wenn ich mich freue, Sie wiederzusehen.«

Während die Hand eines Beamten ihn durchsuchte, stand der Oberst ganz stille. Uhr, Uhrkette, Krawattennadel, Börse, Taschenbuch, für alles hatte er einen wehmütigen Blick, als die Sachen auf einen Tisch gelegt und in eine Liste eingetragen wurden, die er unterzeichnen mußte. Hierauf wurde sein Eigentum in einen kleinen Leinenbeutel gethan und in ein Pult verschlossen. Schon stand ein Beamter bereit, ihn in seine Zelle zu führen, als sich der Gefangene räusperte.

»Wenn Sie und dieser junge Herr mitkommen wollen,« sprach er, »möchte ich Ihnen eine Mitteilung machen.«

Der Inspektor ersuchte Tom, zu folgen, worauf sie beide den Oberst in seine neue Wohnung begleiteten.

»Verraten werde ich niemand,« sprach der Gefangene hier, »wenn ich es vermeiden kann, aber es ist doch vernünftig, wenn ich mich nicht noch tiefer hineinreite. Ich verlasse mich auf Sie beide, meine Herren, daß die Mitteilung, die ich Ihnen zu machen im Begriffe bin, an zuständiger Stelle zu meinen Gunsten verwertet wird.«

»Das ist Ihre Sache,« entgegnete der Inspektor. »Sie kennen die Vorschriften ja aus Erfahrung, und ich bin verpflichtet, Sie zu warnen, daß alles, was Sie sagen, als Beweismittel gegen Sie gebraucht werden kann.«

»Von amtlichem Standpunkt aus ist das richtig,« erwiderte der Oberst, »aber wir sind alle Menschen, und ich hoffe doch auf ein wenig Dank. Nicht sehr weit von hier ist ein Mann,« – er befeuchtete seine Lippen mit der Zunge – »ein Herr, ein Mitglied des Oberhauses eingesperrt und befindet sich in diesem Augenblicke in Lebensgefahr.«

»O,« machte der Beamte, »das sieht ja ernst aus, und ich möchte Ihnen raten, in Ihrer Aussage vorsichtig zu sein.«

»Ich wußte es schon diesen Nachmittag,« fuhr der Oberst fort, »und wenn ich entkommen wäre, würde ich heute abend an die Polizei telegraphiert haben. Ich hatte mir alles überlegt, wie ich es ohne Gefahr hätte thun können, und ich hätte es auch ausgeführt. Der Herr, von dem ich spreche, weiß zufällig etwas zu viel, und er versuchte heute nachmittag, mit eigener Hand eine Verhaftung vorzunehmen, allein er wurde selbst gefangen. Jetzt ist er eingesperrt und wartet, was mit ihm geschehen wird. Nun könnte gesagt werden, ich sei mit dabei beteiligt, aber ich will etwas Derartiges nicht auf dem Gewissen haben, und ebensowenig habe ich Lust, für etwas zu baumeln, was ein andrer in der Verzweiflung thun mag.«

»Sie werden langweilig, Eves,« fiel ihm der Inspektor ins Wort. »Kommen Sie doch endlich zur Hauptsache.«

»Vergessen Sie nicht,« begann der Oberst wieder, »daß ich niemand verrate, und ich verlange auch keine Anerkennung dafür, denn derartige Dinge entsprechen einfach meinen Neigungen nicht. Andrerseits habe ich, wie gesagt, keine Lust, mir den Hals ausrecken zu lassen für etwas, was ein andrer vielleicht hinter meinem Rücken thut. Ich sage ›vielleicht thut‹, bitte ich zu bemerken. Die Gefahr liegt vor, sonst würde ich nicht sprechen.«

»O, so kommen Sie doch endlich zur Sache,« wiederholte der Inspektor.

»Gut,« entgegnete der Oberst, indem er sich seine trockenen Lippen wieder anfeuchtete. »Gegen Sie nach Nr. . . . in der . . . straße. Dort werden Sie den Bischof von Stockestithe in einem Hinterzimmer des ersten Stockes eingeschlossen finden.«

»Den Bischof von Stockestithe?« rief Tom.

»Ja, den Bischof von Stockestithe,« wiederholte der Oberst, »und ich hoffe, meine Herren, daß Sie in Berücksichtigung – –«

Soweit Tom in Betracht kam, verhallte der Rest dieser Worte ungehört. Zwei Minuten später saß er mit einem Polizeisergeanten in einer Droschke und nach weiteren sechs Minuten hielt diese in der vom Oberst genannten Straße vor dem betreffenden Hause. Der Sergeant zog einen Bund Schlüssel aus der Tasche, und gleich darauf standen die beiden vor der Thür im ersten Stock. Hier beleuchtete der Sergeant das Schlüsselloch mit seiner Laterne, und binnen kurzem hatte er auch dieses Schloß geöffnet, worauf Tom und sein Begleiter ein kahles Zimmer betraten, worin ein Ladentisch und mehrere Gestelle mit Schiebladen standen.

»Jemand hier?« rief der Sergeant laut und ermutigend.

»Mylord!« schrie Tom. »Wo sind Sie?«

»Hier, hier,« antwortete die Stimme des Bischofs. Nun wurde auch die letzte Thür im Handumdrehen geöffnet, und der Bischof erschien in dem von der Laterne ausgehenden Lichtstreifen.

»Gott sei gepriesen, daß wir zur rechten Zeit gekommen sind,« sprach Tom, indem er die Hand des Bischofs ergriff und kräftig drückte, und Seine Lordschaft erwiderte den Druck von ganzem Herzen. Allerdings war seine Gefahr nicht so furchtbar gewesen, als er glaubte, und wenn er seinem Geschick auch ohne Zagen entgegengesehen hatte, so war er doch über seine Rettung erfreut.

Alle drei kehrten nun nach Bow Street zurück, wo der Bischof seine Geschichte erzählte.

»Nun, Mylord,« sagte der Inspektor, als der Bischof geendet hatte, »nächst der Hilfe der Vorsehung verdanken Sie Ihr Leben diesem jungen Herrn. – Sergeant, haben Sie dafür gesorgt, daß das Haus bewacht wird?«

»Selbstverständlich,« entgegnete der Sergeant.

»Mr. Finch,« sprach der Bischof, »ich wohne im Hause meiner Schwester, Mrs. Raimond, und würde mich Ihnen zu Danke verpflichtet fühlen, wenn Sie mich dahin begleiten wollten.«

»Mit dem größten Vergnügen,« entgegnete Tom, und nun folgte eine abermalige Droschkenfahrt. Als sie am Ziele angelangt waren, wechselte der Bischof den Anzug, setzte sich sodann zu seinem Befreier und ließ sich die Geschichte der letzten Nacht erzählen.

»Ihr Gesicht ist etwas entstellt,« sagte der Bischof, als Tom geendet hatte.

»O, das hat nichts zu sagen,« erwiderte Tom. »Der Oberst ist ein sehr tüchtiger Boxer.«

»Wollen Sie mich gütigst entschuldigen, wenn ich einen Brief schreibe?« fragte der Bischof.

»Ganz gewiß,« entgegnete Tom, der sich über die Gelassenheit des Bischofs etwas wunderte. »In Anbetracht der Umstände,« sprach er bei sich, »könnte er etwas mehr Empfindung zeigen. Er strömt nicht gerade von Dankbarkeit über.«

Inzwischen hatte sich seine Lordschaft an einen Schreibtisch gesetzt und angefangen, zu schreiben. Abgesehen vom Kratzen der Feder und vom Ticken einer auf dem Kamin stehenden Uhr herrschte für einige Minuten vollkommene Stille im Zimmer.

»Seien Sie so freundlich, dies zu lesen, Mr. Finch, während ich den Umschlag überschreibe,« sprach der Bischof endlich.

Etwas überrascht nahm Tom den dargereichten Brief und las:

»Meine liebe Amalie! Ich würde Dir sehr zu Danke verpflichtet sein, wenn Du, sobald Du es einrichten kannst, mit Lucy nach London zurückkehrtest. Diese Bitte wird Dir wahrscheinlich überraschend kommen, allein ich habe mich entschlossen, der Verlobung Lucys mit Mr. Finch nicht länger im Wege zu stehen. Mr. Finch hat sich, wie Du Lucy sagen kannst, in einer Angelegenheit, die meine Wohlfahrt sehr nahe anging, mit einem so hervorragenden Pflichtbewußtsein als Staatsbürger und dabei auch mit bewundernswertem Mute benommen, daß ich es nicht leicht finde, meine Meinung über sein Verhalten auszusprechen. Bitte, teile mir auf telegraphischem Wege mit, daß Du diesen Brief erhalten hast und wann ich Dich und Lucy hier erwarten darf.

Dein Dich liebender Bruder

Hubert.«

Schweigend mit dem raschelnden Blatt in der Hand stand Tom da. Der Bischof nahm es wieder an sich, steckte es in den Umschlag und klingelte.

»Besorgen Sie dies sofort zur Post,« befahl er dem eintretenden Diener. Dann wandte er sich nach Tom um und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ein für allemal, Mr. Finch,« sprach er, »ich sage Ihnen meinen herzlichsten Dank, und ich . . . ich möchte hinzufügen, daß ich nicht ganz ohne Einfluß bin. Es wird mir eine große Freude sein, von diesem Einfluß, wo es immer möglich ist, zu Ihren Gunsten Gebrauch zu machen.«

»Und ich werde ebenfalls mein Bestes thun, vorwärts zu kommen,« erwiderte Tom, der angesichts der ungeheuren Veränderung der Sachlage seine Fassung noch nicht ganz wiedergefunden hatte.

»Ich fürchte, die Verletzung in Ihrem Gesicht ist etwas schmerzhaft, Mr. Finch,« sagte der Bischof.

»O, das ist gar nichts,« antwortete Tom. »Man bemerkt es wohl, aber es sieht viel schlimmer aus, als es ist. In einem Faustkampfe lohnt es sich nicht der Mühe, das Gesicht des Gegners bunt zu malen. Wenn ich meine Zeit damit verschwendet hätte, würde mich der Oberst auf den Rücken gelegt haben.«

»Was Sie sagen!« entgegnete der Bischof. »Haben Sie – hm – Erfahrungen in derartigen – hm – Zusammenstößen?«

»Einigermaßen,« erwiderte Tom lächelnd, und das machte sein geschwollenes Gesicht so komisch, daß der Bischof laut lachen mußte.

»Es würde eine Verleugnung meiner wahren Empfindungen sein,« sprach er, »wenn ich Bedauern über Ihre Tüchtigkeit in dieser Hinsicht aussprechen wollte, indessen –«

»O, unter Freunden und im Spaß gibt es kein größeres Vergnügen,« versetzte Tom.

»Nun ja, das mag sein,« antwortete der Bischof. »Können Sie sich so einrichten, daß Sie nächsten Donnerstag hier mit uns speisen? – Gut, dann will ich Ihnen jetzt gute Nacht sagen, lieber Freund, und vergessen Sie nicht, daß Sie das Recht haben, auf mich zu zählen.«

Gab es im ganzen großen London wohl einen glücklicheren Menschen, als Tom, während er im Lichte der Gaslaternen und unter den funkelnden Sternen nach Hause wanderte? Und wer malt sein Entsetzen, als er, da der selige Donnerstag endlich gekommen war, fand, daß die Spuren von Varndykes Faust noch zu bemerken waren, und daß sein Gesicht aussah, wie ein Wasserspeier? Und wessen Verlegenheit kam der Toms gleich, als ihm Mrs. Raimond um den Hals fiel und öffentlich vor Rührung über ihn, als den Retter ihres lieben, lieben B–b–b–bruders schluchzte? Und wer war so schüchtern glücklich, wie derselbe Tom Finch, da Lucy im geheimen über ihn weinte, wobei sie die Arme um seinen Hals gelegt hatte und trotz all seines Widerspruchs darauf bestand, daß er ein Held sei? . . .

*

Unser Freund James hatte so lange vor dem Zimmer des Bischofs Wache gestanden, als er es für ratsam hielt. Darauf war er zu Roß gegangen.

»Varndyke ist ausgerissen, und ich gehe auch,« sagte er, »Und Sie thäten gut, es ebenso zu machen. Ich habe mir die Sache überlegt, lieber Freund, und in der Einsamkeit Ihres kleinen Comptoirs ein Briefchen an einen Freund geschrieben. Sie müssen nämlich wissen, daß Seine Lordschaft mir in einer Droschke gefolgt war, und wenn in einigen Tagen eine so hervorragende Persönlichkeit wie ein Bischof vermißt wird, so wird sich der Droschkenkutscher, der ihn gefahren hat, der Sache und auch der Nummer des Hauses erinnern, Ihr Name steht groß und breit an der Thür. Diese Thatsachen müssen Sie im Auge behalten, mein lieber, guter Herr, und sich ins Unvermeidliche finden.«

»Von was für einem Briefchen sprechen Sie denn?« fragte Roß stöhnend.

»Eine kleine Mitteilung an einen meiner Freunde,« entgegnete James, »worin ich ihn benachrichtige, wo sich der Bischof gegenwärtig befindet, und wodurch ich ihn ersuche, denen, die es angeht, Nachricht zukommen zu lassen.«

»Mann,« antwortete Mr. Roß, »das ist ein trauriges Ende einer geachteten Laufbahn.«

»Mr. Roß,« erwiderte James ernst, »das ist Kriegsglück, und das muß jedermann hinnehmen. Freilich ist es nur ein Krieg zwischen Insekten, aber wir sind es uns doch selbst schuldig, daß wir etwas Mut zeigen. Wir sind Spitzbuben, Sie und ich, Mr. Roß, und wir können nicht erwarten, daß ehrliche Leute uns gern haben.«

»Mensch,« rief Mr. Roß, »wollen Sie mich mit Ihrem albernen Geschwätz verrückt machen? Ich bin ein wohlbekannter Mann und kann mich nicht verkleiden oder verstecken. Ich bin verloren. Ich bin verloren!«

»Nun,« versetzte James, »wir sind Kameraden gewesen, und wenn Sie wollen, können wir auch ferner Kameraden bleiben. Falls Sie sich meiner Führung anvertrauen wollen, werde ich mein Möglichstes thun, Sie in Sicherheit zu bringen. Sie werden den Vorschlag, den ich Ihnen machen will, vielleicht für eine Verletzung Ihrer Würde halten, aber ich versichere Ihnen, es ist durchaus nicht so gemeint.«

»O!« rief Mr. Roß, »ich denke nicht an meine Würde.«

»Diese Versicherung,« fuhr James fort, »macht mir Mut, zu sprechen. Sie sind ohne Ausnahme der achtbarste Mann, den ich kenne, und Sie würden für einen Herrn in meiner Stellung als vertrauter Kammerdiener von unermeßlichem Werte sein. Wenn Sie keinen Anstoß daran nehmen, für meinen Bedienten und Begleiter gehalten zu werden, sollen Sie in vierundzwanzig Stunden in Sicherheit sein.«

»Das ist ein guter Gedanke!« sprach Roß. »Das ist wirklich guter Gedanke!«

»Dann reichen Sie mir die Hand,« erwiderte James. »Sie anhänglicher, treuer Diener! Meines Großvaters bescheidener, aber geschätzter Freund! Für den Augenblick zeigt uns das Glück ein finsteres Gesicht, aber Sie und ich lassen uns dadurch nicht schrecken.«

Thatsächlich wurde die ehemalige Firma Roß, Varndyke & Mortimer in diesem Augenblick aufgelöst und die neue Firma Mortimer & Roß ins Leben gerufen. Ihre Abenteuer harren noch des Chronisten.

Lucy und Tom sind im gegenwärtigen Jahre 1898 glücklich verheiratet, und Tom hat einen bescheidenen Anfang gemacht, als Rechtsanwalt emporzukommen.

 

Ende.

 


 << zurück