David Christie Murray
Der Bischof in Not
David Christie Murray

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Der Bischof von Stockestithe war sehr ärgerlich. Alle Leidenschaften befinden sich in gasförmigem Aggregatzustande und sind folglich dehnbar, und während er dem Hause seiner Schwester am Eccleston Square zuschritt, schwoll seine beleidigte Würde so in ihm an, daß er manchmal glaubte, ersticken zu müssen.

Nach seiner Ankunft dort fragte er sofort nach Lucy, und als diese seinem Rufe Folge leistete und bei ihm eintrat, war sie ebenso würdevoll als ihr Vater und zum Kampfe bereit. Eine Schlacht – mit ihrer Tante – hatte sie bereits ausgefochten, ein leichtes Plänklergefecht, woraus sie ohne Mühe als Siegerin hervorgegangen war, aber jetzt stand ihr der Feind in voller Stärke gegenüber, und der Kampf versprach ernst zu werden. Im Innersten seines Herzens fürchtete sich der Bischof, allein er hoffte, die feindliche Stellung durch einen kühnen Handstreich erobern zu können.

»Ich habe mit Mr. Finch gesprochen,« begann er, »und ich wünsche, dich davon in Kenntnis zu setzen, daß ich ihm ein ausdrückliches und klares Verbot gegeben habe. Ich habe ihm eröffnet, daß ich jeden Versuch, sich dir wieder aufzudrängen, vollständig und endgiltig untersage.«

»Ich verstehe,« entgegnete Lucy. »Und was hat Tom darauf geantwortet?«

»Jede Besprechung muß ich ablehnen,« erwiderte der Vater. »Ich habe Mr. Finch allen Verkehr mit dir verboten, und dir verbiete ich jeden ferneren Verkehr mit Mr. Finch. Das ist, wohlverstanden, keine Bitte, die ich an dich und an ihn richte, sondern ein bestimmter Befehl, und ich werde dafür Sorge tragen, daß wenigstens du mir gehorchst.«

»Ich fürchte,« versetzte Lucy, »daß wir uns gegenseitig Kummer machen werden.«

»Mein liebes Kind,« unterbrach der Bischof sie, »durch eine Besprechung ist gar nichts zu gewinnen. Ich verlange deinen Gehorsam, und wenn du ihn nicht freiwillig leistest, werde ich Maßregeln treffen, ihn zu erzwingen.«

Bei diesen Worten fuhr das junge Mädchen in so lebhafter und stolzer Auflehnung auf, daß ihr Vater für einen Augenblick seine kalte Ruhe verlor. Er erwartete Sturm; aber sie wußte sich so weit zu beherrschen, daß es ihr gelang, einen ironischen Ton anzuschlagen.

»Wir leben in England, Papa, und stehen am Vorabend des zwanzigsten Jahrhunderts.«

Bei diesen Worten blieb dem Bischof geradezu der Atem stehen, während sie in einer Weise dicht vor ihn trat, der man ansah, daß sie sich vollkommen in der Gewalt hatte.

»Du sagst, durch eine Besprechung sei nichts zu gewinnen, Papa? Vielleicht ist aber doch etwas zu erreichen, wenn wir Geduld miteinander haben.«

»Ich lehne jede Besprechung ab, meine Liebe,« entgegnete der Vater mit eisiger Kälte, aber sie beachtete seine Worte nicht.

»Für dich ist es eine Angelegenheit von geringer Wichtigkeit, Papa . . .«

»Für mich?« fragte der Bischof erstaunt. »Von geringer Wichtigkeit für mich? Für mich?«

»Im Vergleiche zu dem Interesse, das sie für mich hat, Papa, ist das deine ganz geringfügig.«

Mit einem Lächeln des Aergers und der Geringschätzung schob er sie beiseite.

»Mein liebes Kind,« sprach er dabei, »du bist ja geradezu abgeschmackt!«

»Ich bin die einzig mögliche Beschützerin meiner Selbstachtung,« antwortete sie, »und diese werde ich nicht auf Befehl irgend eines Menschen in der Welt opfern.«

Das sprach sie ernst, langsam und mit schmerzlich bewegter Stimme, und ihr Vater fühlte, daß sie ihm, was das Benehmen anbetraf, bis dahin überlegen sei, und das brachte ihn aus der Fassung.

»Ohne deine Zustimmung hätte ich mich nicht mit Mr. Finch verloben können,« fuhr sie fort, »aber ich habe nun einmal mein Wort verpfändet, und nichts in der Welt soll mich dahin bringen, diesem Worte untreu zu werden.«

»Machst du dir auch klar, daß du dich in offenen und unmittelbaren Widerspruch mit deinem Vater setzest?« fragte er; und obgleich ihm diese außerordentliche Erscheinung schon vor einem Jahre vor Augen getreten war, hatte er sein Erstaunen darüber inzwischen wieder vergessen.

»Dein Benehmen überrascht mich, Lucy,« rief er entrüstet. »Es ist mir unbegreiflich.«

»Papa! Wie kannst du etwas so Grausames und Sündhaftes von mir verlangen?«

»Eine Handlungsweise vorzuschreiben, die diese harten Bezeichnungen verdiente, ist nicht meine Gewohnheit,« erwiderte er. »Ich verlange weiter nichts, als daß du der Stimme der gesunden Vernunft Gehör gibst und die Achtung nicht vergißt, die ein Kind seinem besten und liebevollsten Ratgeber schuldet.«

»Du verlangst von mir, daß ich Toms Herz brechen soll,« rief sie stürmisch, »und du verlangst, daß ich mein eigenes breche. Du forderst von mir etwas so Niedriges, daß ich mich ewig verabscheuen und verachten müßte, wenn ich auch nur einen Augenblick daran dächte, es zu thun.«

Damit hatte der Bischof entschieden einen Punkt gewonnen, und er beeilte sich, Nutzen daraus zu ziehen.

»Du kennst mich doch, so lange du lebst,« sprach er, »und du willst dich selbst verabscheuen, wenn du dich auch nur herabläßt, meine Ansichten in Erwägung zu ziehen? Ueberlege dir doch einmal in einem ruhigen Augenblicke, was das heißt, und dann sollst du selbst entscheiden, ob das, was du gesagt hast, den Geboten der Liebe und der Gerechtigkeit entspricht.«

Das war eine gute Karte, allein Lucy war boshaft genug, sie zu übertrumpfen.

»O!« rief sie, »ich habe dich also mißverstanden?«

Durch diese Worte geriet er so augenscheinlich außer Fassung, daß sie lachen mußte.

»Wenn es mit aller Achtung aus ist, so . . .« sprach er mit einer Handbewegung, als ob er allem weiteren ein Ende machen wolle.

»Wenn es mit aller Achtung aus wäre,« antwortete sie, »so wäre das ein großes Unglück für uns beide. Ich bin nicht anders geworden, lieber Papa, und ich kann auch nicht anders werden. Wenn du die Sache nur besprechen wolltest wie der liebe, verständige alte Papa, der du früher warst, könnte doch noch etwas Gutes dabei herauskommen. Aber du reitest dein Steckenpferd in so komisch feierlicher Weise und bedrohst ein junges Mädchen des neunzehnten Jahrhunderts, ein Mädchen, das in Girton studiert hat, mit Dragonern und der Bastille. O, du bist wirklich gar zu gelungen! Allein ich werde über einen solchen Unsinn keine tragische Miene aufsetzen. Tom liebt mich und ich liebe ihn, und damit basta!«

»Du bist schamlos!« rief der Bischof.

»Ich bin nicht schamlos!« erklärte seine Tochter entrüstet. »Und wenn mir das ein andrer Herr sagte, würde ich ihn ohrfeigen. Tom hätte mir keinen Antrag gemacht, wenn er mich nicht liebte, und ich würde nicht Ja gesagt haben, wenn ich ihn nicht liebte. Ich werde eins von zwei Dingen thun, Papa: ich werde Tom heiraten, oder ich werde als alte Jungfer sterben.«

»Mädchen!« schrie der empörte Vater. Er hatte sein eigenes Kind zu kennen geglaubt, aber so hatte sie ihn doch noch nie behandelt.

»Mein lieber Papa,« antwortete sie, »wenn du hochtrabend sein willst, werde ich Tante rufen lassen: ich meinerseits bin für den Rest meines Lebens dafür unempfänglich. Falls du es mir möglich machst, werde ich dich lieben und dir eine gute Tochter sein; wenn nicht, werde ich meine Liebe für – meinen zukünftigen Gatten aufsparen.«

Inmitten dieses fröhlichen Ausbruchs von Trotz (der erstaunlich echt aussah, so plötzlich er auch gekommen war) erschien die Bitte: »wenn du es mir möglich machst, werde ich dich lieben,« mit einer so reizenden, ernsten Anmut, daß sie einen weniger wütenden und erstaunten Vater entwaffnet haben würde.

»Lucy!« rief jedoch der Bischof, »diese Leichtfertigkeit ist durchaus ungehörig.«

»Mein lieber Papa,« entgegnete sie, »die Sache ist viel zu abgeschmackt, als daß man noch viel darüber reden könnte. Du gabst mich Tom mit deinem Segen und wirst als Ehrenmann dein Wort halten. Ich habe mich Tom verlobt und werde als ehrenhaftes Mädchen auch mein Wort halten, und wenn du dich nur entschließen könntest, lieb und vernünftig zu sein, wollte ich gern vergeben und vergessen. Einstweilen, lieber Papa, habe ich einen Befehl zu erteilen, und wenn du mir erlaubst, werde ich klingeln.«

»Lucy!« rief der Bischof, »das wird dir eines Tages sehr leid thun.«

Selbst als ein Zwischenruf war das schwach, kläglich schwach, und der Bischof fühlte es.

»Leid thun?« erwiderte Lucy. »Glaubst du, daß sich eine Tochter freuen könnte, wenn ihr Vater eigensinnig bei einem Benehmen verharrt, das ihn ihrer Achtung beraubt?«

Die Notwendigkeit, diesen treffenden Hieb zu beantworten, blieb Doktor Durgan durch den Eintritt eines Dieners erspart.

»Bitte, sagen Sie doch unten,« sagte Lucy, »daß Miß Durgan für Mr. Finch stets zu Hause ist.«

Der Mann verbeugte sich und verschwand.

»Gerechter Himmel!« stöhnte der Bischof verzweifelt, indem er auf einen Stuhl sank und den Kopf auf die Hand stützte. Das that er vollkommen natürlich und ungekünstelt, aber als er eine Weile so dagesessen hatte, verblieb er in dieser Stellung, weil er von ihr eine außerordentliche Wirkung auf seine Tochter erhoffte. Lucy würde genötigt sein, das Gespräch wieder zu beginnen, und dann konnte er in dieser vorteilhafteren Stellung den Kampf erneuern. Endlich jedoch verlor er die Geduld, und als er aufsah, fand er sich allein. Darüber war er aufs neue erstaunt und entrüstet, denn er hatte gute fünf Minuten eine rührende und wirksame Haltung verschwendet. Ihm war zu Mute wie einem Schauspieler, der für die Galerie gespielt hat, dem es aber nicht gelungen ist, deren Beifall zu erringen.

Nun zog er die Klingel, und als der Bediente wieder eintrat, trug er ihm auf, zu Mrs. Raimond zu gehen.

»Sagen Sie ihr, ich ließe sie um die Ehre ihrer Gesellschaft hier bitten.«

»Zu Befehl, Mylord,« entgegnete der Mann und ging, bis zum Gefrierpunkt angefröstelt, hinaus.

Gleich darauf trat Mrs. Raimond raschelnd ein und erhob Hände und Augen, als sie von Lucys Auflehnung hörte.

Der größte Teil der Komödie des Lebens wird in vollem Ernst gespielt, und das eben macht sie so außerordentlich komisch, oder schmerzlich traurig, je nach der Stimmung des Zuschauers, Der Bischof spielte seine Rolle mit der erfrischenden Unbefangenheit des vollendeten Egoisten.

»Ich habe es für meine Pflicht gehalten, mit dem ganzen Gewicht und Nachdruck meiner Vaterwürde, meiner Verantwortlichkeit, meines Alters und meines heiligen Amtes zu sprechen, und, meine liebe Amalie, einen Augenblick hätte man wahrhaftig glauben können, daß sie sich über mich lustig machte.«

Selbst ihren Gatten, den Richter Raimond, hatte Amalie stets für weniger würdevoll gehalten als ihren Bruder, und ihr empörtes Erstaunen nach dieser Mitteilung wirkte wie ein warmer Umschlag auf die verwundete Eitelkeit des Bischofs.

»Mein lieber Hubert,« sprach seine Schwester, »ich bin ganz mit dir einverstanden. Das väterliche Ansehen muß unter allen Umstanden aufrecht erhalten werden. Wenn du es wünschest, will ich morgen mit ihr nach Paris zurückkehren.«

»Ein ganz ausgezeichneter Vorschlag,« stimmte der Bischof zu, »ein höchst wertvoller und willkommener Vorschlag. Wenn es dir nur keine Unbequemlichkeiten verursacht, daß du nur so kurze Zeit zur Vorbereitung hast.«

Mrs. Raimond versicherte, daß die Zeit völlig ausreiche, und nachdem dies festgestellt war, ließen sie Lucy rufen.

»So kehren wir denn also in den Pferch der Unschuld und Sicherheit zurück,« sprach die junge Dame, »und Tante Raimond wird wieder Schäferhund spielen, Gut, dann muß ich mich beeilen und an den Wolf schreiben.«

»Bitte,« sagte Papa, »erkläre mir doch einmal, an wen du schreiben willst.«

»Ich will an Tom schreiben,« antwortete sie.

»Das verbiete ich dir!« rief der Bischof. »Ausdrücklich, bestimmt und endgültig verbiete ich es.«

»Ich verstehe,« erwiderte Lucy, »Ausdrücklich, bestimmt und endgültig. Aber ich werde trotzdem schreiben.«

»Kind!« stieß der Bischof entsetzt hervor, »Du erfüllst mich mit Erstaunen, Schmerz und Verdruß!«

»Mit Erstaunen, Schmerz und Verdruß erfüllt zu sein, ist höchst unbehaglich,« versetzte Miß Lucy. »Wenn du ganz artig und reumütig sein willst, werde ich dir etwas Angenehmeres und Wohlschmeckenderes vorsetzen.«

Diese Worte sprach sie im Tone liebenswürdigen Spottes, aber sie hatte sie kaum beendet, als sie sich zu ihrer vollen Größe aufrichtete, einen Knicks stolzer Geringschätzung machte und wie eine beleidigte Königin aus dem Zimmer segelte. Das war ein kleiner Auftritt aus dem Trauerspiel der Natur.

»Hubert,« stöhnte Mrs. Raimond, »ich fürchte, ich werde nicht mit ihr fertig.«

»Das kann unmöglich so weiter gehen,« entgegnete der Bischof mit äußerer Festigkeit. »Ich selbst,« fügte er hinzu, als ob er einen Gegner mit einem Zuge matt setze, »ich selbst werde euch nach Paris begleiten.«

Dieser unter dem Einfluß des Augenblicks gefaßte Entschluß wurde Lucy nicht mitgeteilt, so daß diese junge Dame in dem Briefe, worin sie dem Wolf ihre bevorstehende Rückkehr nach Paris meldete, nichts davon erwähnte, daß ihr Vater mit zur Reisegesellschaft gehören werde. Hätte sie das gewußt, so würde der Geist der Aufsässigkeit sie nicht veranlaßt haben, zu schreiben, daß sie sich auf das Gesicht freue, das ihre Tante machen werde, wenn es der Zufall so fügen sollte, daß sich Tom ihnen in Dover zugeselle. Aber das sprach sie wirklich in ihrem Briefe aus, und Tom war sofort Feuer und Flamme für diesen Gedanken. Sie wurden wieder auseinandergerissen, – »auseinandergerissen« ist Toms eigenes Wort und bei weitem kräftiger und ausdrucksvoller, als »getrennt«, – und wenn er sich auch verständigerweise eine Reise auf das Festland für wer weiß wie lange nicht erlauben durfte, so konnte er doch versuchen, vielleicht ein paar Stunden in Lucys Gesellschaft an Bord des Schiffes zu sein. Der Gedanke war verführerisch, und Tom gab nach. Tante Raimond konnte Seereisen durchaus nicht vertragen und würde wohl gleich in der Kajüte verschwinden, um sich dort ihren Leiden zu überlassen, während Tom mit Lucy auf dem Verdeck spazieren gehen und ihr und sich eine Erinnerung schaffen wollte, woran sie während der Zeit ihrer Trennung zehren konnten. Demnach begab sich Tom nach der Bank, erhob etwas Geld und packte eine Handtasche für den Fall, daß er genötigt würde, eine Nacht in Calais zu bleiben. Am folgenden Tage fuhr er mit einem frühen Zuge nach Dover und erwartete dort die Stunde der Abfahrt des Bootes.

*

Auch Mortimer verbrachte den Tag mit den Vorbereitungen zu seiner Reise nach dem Festlande. Nicht weit von Seven Dials liegt ein großes Geschäft, das mit neuen und alten Kleidern handelt, ein Geschäft, das wahrscheinlich jedem Schauspieler in London bekannt ist. In diesem Laden kann man sich in einer halben Stunde mit einem für jeden beliebigen Beruf passenden Anzuge versehen. Das Theatergeschäft bildet die eigentliche Grundlage, aber jeder mittellose Bruder Leichtfuß in der Stadt kennt den Laden und kleidet sich mit seiner Hilfe in billige Herrlichkeit. Mr. Mortimer kannte ihn natürlich auch und fand nach einer halben Stunde eifrigen Suchens einen unauffälligen, anständigen Herrenanzug, der ihm vollkommen paßte und außerdem den Vorzug hatte, nicht zu neu auszusehen. Sodann fuhr er in der Stadt umher und kaufte sich die besten Hüte, Handschuhe und Halsbinden, die mit Geld und Geschmack zu beschaffen waren, sowie feine Leibwäsche. Ferner besorgte er sich eine zierliche Krawattennadel mit einem Diamanten und einen Ring, worin ein großer Pariser Similibrillant funkelte, ferner ein gebrauchtes Reisenecessaire, dessen Geräte mit echtem Silber beschlagen waren, und eine ganze Anzahl von Regenschirmen, Stöcken und Riemen, kurz, er verbrachte den Tag mit Einkäufen und einem Besuche beim Handdoktor und war so stolz auf seine neuen Besitztümer, daß er dem Oberst Varndyke und Mr. Roß, die ihn vor seiner Abreise auf seinem Zimmer in Darcys Hotel besuchten, eine kleine Vorlesung darüber hielt.

»Hier,« begann er, »ist ein Koffer von gutem Leder. Er ist, wie Sie sehen, an einigen Stellen etwas beschädigt, aber gerade nur genug, um zu zeigen, daß sein Besitzer viel reist, und nicht so viel, daß er unanständig aussähe. Die Zettel, womit er beklebt ist, sind die der besten Hotels, sowohl in England als auch im Auslande. Sein Aussehen muß Vertrauen zu seinem Besitzer erwecken. Die Geräte in diesem Reisenecessaire sind mit echtem Silber beschlagen. Wegen des Monogramms, das, wie Sie gesehen, jeder der Gegenstände trägt, habe ich es billig bekommen. Freilich ist das nicht mein Namenszug, aber das Ganze kann ja recht gut eine Art von Familienerbstück sein. Zum Beispiel könnte es meinem Onkel mütterlicherseits gehört haben, der während des indischen Aufstandes einen so tragischen Tod fand. Stöcke und Regenschirme in reicher Auswahl. Wenige Dinge machen auf Reisen mehr Eindruck. Das zusammenlegbare Bad ist ein ausgezeichnetes Behältnis zur Aufnahme gebrauchter Wäsche, aber es ist mehr als das: es ist ein Zeugnis, daß sein Besitzer ans Reisen gewöhnt ist. Unter den Sachen eines jüngeren Mannes könnte es geziert aussehen, allein für einen Mann in meinen Jahren ist es ganz natürlich und charakteristisch, daß er sein gewohntes Bad auch auf Reisen nicht entbehren mag. Aha, du siehst dir meinen Ring an, Johnny. Den habe ich mir heute aus dem Gewahrsam meiner ›Tante‹ geholt. Zwei Jahre, neun Monate und vierzehn Tage habe ich die Zinsen für das darauf erhaltene Geld bezahlt. Er ist das einzige meiner Erbstücke, das nicht auf Nimmerwiedersehen in ihrem unersättlichen Rachen verschwunden ist.«

Die drei Spitzbuben speisten sehr ruhig und verständig zusammen, und darauf fuhr James mit seinen Einkäufen allein nach dem Bahnhofe von Charing Croß. Seinen Droschkenkutscher bezahlte er mit der Freigebigkeit eines Verschwenders, ebenso wie er den Gepäckträgern großartige Trinkgelder gab, wie das Leute zu thun pflegen, die an jähe Wechsel in ihren Vermögensverhältnissen gewöhnt sind. Die Freibeuter der Welt, Hochstapler, Einbrecher und Taschendiebe, Leute, die von Wetten leben, und die alte, jetzt fast verschwundene gewisse Art von Künstlern und Schauspielern sind alle in dieser Weise freigebig. Natürlich reiste James erster Klasse und machte es sich mit einer großen Menge von Zeitungen und Monatsschriften in einem Armstuhle der Raucherabteilung bequem. Er führte eine mit den besten Cigarren gefüllte große Dose und eine silberne Flasche mit vorzüglichem altem schottischem Whisky bei sich und erwartete, sich auf seiner Reise ausgezeichnet zu unterhalten.

Der Zug hatte sich schon in Bewegung gesetzt, als auf dem Bahnsteig Lärm und erregte Stimmen hörbar wurden. Gleich darauf schob ein riesenhafter Schaffner einen ältlichen Herrn so heftig in den Wagen, daß dieser hilflos hineinstolperte und hingefallen wäre, wenn Mr. Mortimer nicht geschickt zugegriffen hätte. Auch den Hut, eine Kopfbedeckung, wie sie die Bischöfe der englischen Kirche tragen, hob er ihm auf. Dabei sah James, daß auch der Rock, die Schürze und die Strümpfe an den mageren Beinen damit übereinstimmten.

»Sehr verbunden,« sprach der Bischof von Stockestithe.

Die einfachsten Dinge von der Welt lassen sich auf sehr verschiedene Weise aussprechen, und die Worte selbst sind verhältnismäßig viel weniger wichtig als der Ton des Sprechenden. Im Benehmen des Bischofs kam deutlich zum Ausdruck, daß der Herr, der ihm geholfen hatte, soviel er wisse, eine ganz achtbare Persönlichkeit sein möge, aber daß er, der Bischof, wirklich Bischof sei, der seine Würde bewahren und in Hinsicht auf seinen Verkehr vorsichtig sein müsse. Viele Engländer verstehen es, dieses glückliche und liebenswürdige Wesen zur Schau zu tragen, aber wenige sind so vollkommen zu Hause darin als unsre Geistlichen, und selbst unter diesen könnten sich nur wenige mit dem Bischof von Stockestithe vergleichen. Nun war James ja allerdings ein Spitzbube, aber er war auch ein Mann von Welt. Als der Bischof sagte: »Sehr verbunden,« klemmte sich James den Kneifer ins Auge und entgegnete in der wohlerzogensten Art: »Keine Ursache,« wobei indessen im Tone seiner Stimme etwas lag, als ob er aussprechen wollte, er sei keineswegs sicher, daß der Bischof das Recht habe, das geistliche Gewand zu tragen.

»Mein Einsteigen war wohl etwas plötzlich und störend?« sprach der Bischof.

»O, bitte, gar nicht,« entgegnete James, indem er wieder zum Kneifer griff und seine Zeitung auf dem Knie ausbreitete, als ob er dem Bischof die Erlaubnis geben wollte, weiter zu sprechen.

»Um ein Haar hätte ich den Zug verpaßt,« ließ sich seine Lordschaft endlich zu sagen herab. »Ich sah mich nach meinem Bedienten um, der, wie ich fürchte, wirklich nicht mitgekommen ist.«

»Seltsam,« erwiderte James lächelnd, »in der That seltsam. Ich habe meinen Bedienten auch verloren und kann gar nicht begreifen, was aus dem Menschen geworden ist. Die Fahrkarten und die Zeitungen hat er richtig besorgt, und dann ist er vollständig verschwunden. Ist Ihnen vielleicht eine Abendzeitung gefällig?«

Bei diesen Worten hielt er seinem Reisegefährten eine Handvoll Zeitungen hin, die dieser auch mit einer zu nichts verpflichtenden Verbeugung annahm, worauf beide Herren zu lesen begannen. Nach einer halben Stunde zog James seine Cigarrendose hervor und wählte mit großer Sorgfalt eine Cigarre. Nur einen Augenblick sah der Bischof von Stockestithe nach der Dose hin, aber James entging der Blick nicht. Es war eine sehr hübsche Tasche von Krokodilleder, mit einer großen vergoldeten viereckigen Platte verziert, worauf ein Namenszug graviert war. Er hatte sie am Nachmittag bei einem Pfandleiher des Westens entdeckt und gekauft.

»Gefällig . . .?« sprach er, indem er dem Bischof die Dose hinhielt. Dieser betrachtete sie schwankend.

»Ich kann für den Tabak bürgen,« fuhr James fort, »denn ich ziehe ihn selbst auf einer kleinen Besitzung, die ich in der Havana habe.«

»Hm,« entgegnete der Bischof, »außer in der Zurückgezogenheit meines Privatzimmers . . . Sie sind wirklich zu freundlich, mein Herr . . . Allerdings.«

Dies letzte Wort war die Antwort auf eine Handbewegung James', womit dieser andeutete, daß sie allein im Wagen seien.

»Ich kann Ihr freundliches Anerbieten wohl annehmen. Danke sehr,« schloß der Bischof.

James hatte ein Streichholz angezündet, und der Bischof fand den Tabak ausgezeichnet. Als nämlich Lucy gehört hatte, daß ihr Vater sie nach Paris begleiten wolle, war sie sehr unliebenswürdig gewesen. Die Reisenden hatten sehr zeitig speisen müssen, um den Zug zu erreichen, und in der dadurch hervorgerufenen Hast, die noch durch eine Predigt, die Lucys Benehmen nötig gemacht hatte, vergrößert worden war, hatte seine Lordschaft die Cigarren vergessen. Nach jahrelanger Gewohnheit war das eine Entbehrung für ihn, und er hatte selten ein besseres Kraut geschmeckt, als dasjenige, welches ihm James gegeben hatte, so daß er auftaute und seine Meinung über die Cigarre aussprach.

»Ja, sehen Sie,« antwortete James, »ich habe es sehr schwierig gefunden, wirklich guten Tabak zu bekommen, so daß ich mich endlich entschloß, meinen Tabak selbst zu bauen. Ein paar Jahre lang war der Versuch sehr mühsam, aber schließlich glaube ich doch, zu einem ganz annehmbaren Ergebnis gelangt zu sein.«

An dem einzigen Haltepunkte zwischen London und Dover verließ James den Wagen und redete den Schaffner an, den er schon durch ein reiches Trinkgeld gewonnen hatte.

»Wer ist der Bischof, Schaffner? Kennen Sie ihn?«

»Ja,« entgegnete der Schaffner, »das ist Doktor Durgan, der Bischof von Stockestithe.«

»Stockestithe?« wiederholte James, um sich zu versichern, daß er den Namen richtig verstanden hatte.

»Ja, Stockestithe,« wiederholte auch der Schaffner. »Bitte, einsteigen.«

Auch eine Flasche Selterswasser hatte Mortimer in seiner Handtasche, und als sie ein paar Meilen weiter gefahren waren, brachte er diese zum Vorschein.

»Vielleicht?« sprach er mit seinem Freimaurerlächeln.

»Hm,« machte der Bischof wieder, »Ich weiß wirklich nicht, ob ich so viel Freundlichkeit von einem Fremden annehmen darf.«

»O!« rief James. »Der Bischof von Stockestithe ist einem Angehörigen der englischen Kirche kein Fremder.«

Doktor Durgan hielt das für eine sehr hübsche, sehr höfliche und sehr passende Antwort und nahm die Einladung an. Mr. Mortimer trank nach ihm. Hierauf zog der Bischof sein weltmännisches Register und fing ein politisches Gespräch an, worauf er Mortimer versicherte, daß Homerule tot und begraben sei.

»Wissen Sie wohl,« entgegnete James, indem er mit seiner jetzt wohlgepflegten Hand, woran der Brillantring funkelte, den Tabaksdampf bei Seite wehte, »daß ich seit anderthalb Jahren nicht einen Pfennig Pachtgelder von meinen irischen Besitzungen bezogen habe? Nicht einen Pfennig!« schloß er mit Nachdruck, man könnte beinahe sagen: mit unterdrückter Leidenschaft.

»Das überrascht mich keineswegs,« antwortete der Bischof, »wirklich, keineswegs. Einer meiner persönlichen Freunde, niemand anders, in der That, als der Herzog von . . .«

Kurz, sie wurden vortrefflich miteinander fertig, und noch ehe sie an Bord des Dampfbootes waren, hatte James den Bischof vollständig in der Tasche. Grundsätze hatte er nicht, der arme James, aber es gab wenig Leute, die liebenswürdiger sein konnten. Wenn er im Gefängnis saß, verliebten sich sogar die Aufseher förmlich in ihn und verhätschelten ihn. Hatte er Geld und ging es ihm gut, wie das nach dem glücklichen Zusammentreffen mit dem Oberst Varndyke der Fall war, dann war er der fröhlichste Bandit, den man sich denken konnte, und seine Gemütlichkeit, seine Munterkeit und der ihn umgebende zarte Hauch einer feinen Erziehung, seine Lügen, die er mit solcher Liebenswürdigkeit an den Mann brachte, erregten in ihm ein Gefühl, als ob er ein Prinz von Geblüt wäre, und er genoß seine Freiheit, die für die meisten Menschen etwas Selbstverständliches ist, als ein unschätzbares und zur Freude berechtigendes Gut.

Zur fahrplanmäßigen Zeit fuhr der Zug am Hafendamm in Dover an. Tom war schon an Bord des Dampfers, wo er in einem Zustande freudiger Spannung wartete. Als er Doktor Durgan und seinen bischöflichen Hut im Gedränge auf der Landungsbrücke erblickte, sprang er rasch aus dem Lichtkreis zurück und machte in einer abgelegenen Ecke seinem Grimm und seiner Enttäuschung Luft.

Die Glocke ertönte, die Maschinen begannen unten zu arbeiten, das Boot entfernte sich vom Hafendamm, und der Bischof mit seiner Tochter und Schwester und seinem Freunde, dem Galgenvogel, und dem Geliebten seiner Tochter fuhren einer Reihe der unglaublichsten, unerwartetsten Abenteuer entgegen, die jemals, so lange die Welt steht, einem geistlichen Würdenträger begegnet sind.


 << zurück weiter >>