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Dreizehntes Kapitel.
Tosa-Schals

Nachdem das ganze Dorf heimgekehrt war, nahm für ein paar Tage das Leben seinen gewöhnlichen Gang wieder auf. Dann geschah etwas äußerst Interessantes. Die Ernten waren schon eingebracht, und das Dankopfer war gefeiert. Jetzt wandte die Gemeinde ihre Aufmerksamkeit einem anderen Erwerbszweig zu. In alten Zeiten, ehe mit Maschinen betriebene Industrien ihre Fühler in die lebenswichtigen Gebiete unseres Landes vorgestreckt hatten, gab es für die Landleute zwei Arten, sich den Lebensunterhalt zu verschaffen: Ackerbau und Weberei. Jede Gemeinde hatte ihre eigene besondere Kunstfertigkeit. Rampur spann Tschuddars, die so schmiegsam waren wie Wasser und so lind wie die Hände einer Mutter. Und Kaschmir wob seine Schals. Obwohl andere Provinzen ihre gewebten Erzeugnisse nicht mehr herstellen, benutzt Kaschmir noch immer eifrig seine Webstühle, um Dosalas (zweiseitige Schals) und Zamewars (bestickte Schals) anzufertigen.

Die kostbarsten Schals werden aus Steinbockwolle gemacht. Aber eine Art gibt es, die überhaupt nicht aus Wolle gemacht wird; dennoch werden Leute, die sie tragen, bei ihrem Eid zu euch sagen, daß das Gewebe auf ihrem Rücken aus keinem anderen Stoff verfertigt ist. So groß ist die Täuschung, die durch die Geschicklichkeit der Tosaschalweber hervorgebracht wird.

Woraus wird Tosa gemacht? Während der Mauserzeit des Tosavogels schickt das Dorf eine Gruppe kräftiger junger Männer aus, um die Federn zu sammeln; aus ihnen wird der Schal gemacht.

In eben diesem Jahr hatten die Vögel im späten September zu mausern begonnen. Die Nachricht wurde uns eines Tages durch den Anblick eines weißen Vögelchens von der Größe einer Schwalbe beschert. Es kam und setzte sich auf unser Dach. Ich sagte zu meiner Tante: »Was für ein merkwürdiger Vogel?«

Sie sagte: »Aber Kind, das ist ein Tosa.« Sie betrachtete ihn sehr genau.

»Was ist ein Tosa, Tante?« fragte ich sie.

»Seine Federn werden, nachdem sie geschliffen und vorbereitet sind, zu Garn für Schals versponnen. Schau, er ist nicht honiggelb, sondern rein sahnefarben. Er muß kürzlich gemausert haben.«

Während wir so redeten, hatte sich das ganze Dorf bei unserem Hause versammelt und beobachtete den »Bruder von der edlen Feder«. Als der Vogel davonflog, sagten die Leute: »Es ist nicht üblich, daß der Tosa um diese Zeit mausert, aber manchmal kommt es vor. Laßt uns deshalb in den Dschungel gehen und noch Federn sammeln, das wird die Vorräte für das Schalmachen in diesem Winter vermehren.«

Am selben Abend wurde ein Gemeinderat abgehalten, in dem der Tantiguru oder Oberweber, ein alter Mann von siebenzig und mehr Jahren, zuerst jeden anhörte und uns dann empfahl, am nächsten Morgen nach dem Dschungel aufzubrechen. Da ich sehr darauf drang, erlaubte man mir, mich dem Trupp anzuschließen, der aus fast einem Dutzend Männern bestand. Meine Tante ließ mich gerne ziehen.

Lange vor Sonnenaufgang, nachdem wir ohne zuvor irgend etwas zu frühstücken, in eiskaltem Wasser gebadet hatten, versammelten wir uns beim Tempel, jeder mit einem Wochenvorrat von Tschhana (Bohnen) auf dem Rücken. Nach Gebeten und dem Segen aus dem Munde des Priesters ermahnte uns dort Tantiguru:

»Raubtiere werden euren Pfad kreuzen. Aber erschreckt sie nicht. Bittet täglich Gott, euch vor Furcht zu bewahren. Erschreckt auch nicht die Vögel; denn wenn ihr den Bruder erschreckt, der die Federn abwirft, so wird ihn das krank machen und seine Federn werden nicht so gut sein. Nur ein gesunder Vogel liefert saubere Federn. Furcht ruft Krankheit hervor. Deshalb steigt zum Nest hinauf, wenn der Bruder nicht dort ist; sammelt alle Federn in eure Vorratstaschen und laßt die Nester unbefleckt von Hast und rein von allen menschlichen Gerüchen zurück. Meditieret: Möge ich ruhig sein, möge ich tapfer sein.«

Hierauf verabschiedeten wir uns von den Frauen des Dorfes und zogen davon. Wir alle trugen Ziegenhautröcke, um uns warm zu halten. Die Häute hatten über einen Zoll langes Fell auf sich. Unsere Füße waren mit dicken Ledersandalen beschuht.

In einem Tagesmarsch erreichten wir eine kleine Balti-Niederlassung mitten im Dschungel. Sie bestand aus zwei Familien strenggesichtiger aber gutherziger Baltis. Sie boten uns an, uns gegen eine sehr geringe Summe pro Kopf zu beherbergen. Diese Balti-Niederlassung nennen wir Baltis-than (Heim der Balti).

Am folgenden Tag betraten wir, eine Hand voll Tschhana für das Mittagessen in der Tasche und den Sack über der Schulter hängend, den tieferen Dschungel. Wie verschieden war er von unseren südlichen Wäldern! Da gab es keine tropischen Bäume, von denen zu reden sich lohnte. Kastanien stießen ihre Wurzeln wie riesige Krallen in den Granitboden. Trauereschen ließen die herbstgoldenen Zweige dicht auf immergrüne Pflanzen herabhängen, die anspruchslos waren wie Asketen. Ebereschen und Walnußbäume bedrängten einander in einem harten Wettkampf, an die Sonne zu kommen. Ein paar Platanen stritten standhaft mit Linden um mehr Luft und Raum. Hin und wieder drehte sich eine knorrige Eiche wie eine tanzende Gottheit.

Gerade auf einer dieser Eichen erblickten wir ein Tosanest. Ich stieg hinauf und nahm eine Handvoll Federn heraus. Sie waren mehr silbern denn honigfarben. Als ich mich vom Nest entfernte, hörte ich, wie ein Vogel mich von oben schalt. In dem hellen Sonnenschein sah er aus wie der Kern der Reinheit.

Sorglos sammelten wir alle an diesem Tage Federn. Aber das Urteil über unsere Geschicklichkeit brachte der nächste Tag; denn als wir die Nester nachsahen, die wir am Tag zuvor der Federn beraubt hatten, stellten wir fest, daß viele von den Vögeln die Nacht nicht zu Hause zugebracht hatten. Das hieß, daß wir sie verscheucht hatten. Von dem halben Dutzend Nestern, die ich geplündert hatte, gaben nur zwei ein paar Federn her; die übrigen enthielten nichts.

Nun bin ich ein Mensch, der das Meditieren nicht allzusehr liebte, aber nichtsdestoweniger mußte ich jetzt den Tag in Meditation zubringen. »Möge ich nie die Brüder erschrecken. Mögen ihre Federn nicht krank werden.«

Ob es nun die Meditation machte, oder ob die Vögel sich an uns gewöhnten, sie gaben es bald auf, sich ihren Nestern fernzuhalten, und in weniger als zehn Tagen hatte jeder von uns beinahe ein Pfund Federn. Sobald wir unser Teil beisammen hatten, kehrten wir nach Hause zurück. Ich kann es nicht unternehmen, die Freude der Frauen zu schildern, als sie ihre Männer von wilden Tieren unversehrt wiederkommen sahen.

Den Tag darauf begaben wir uns zu den Tempelplätzen und brachten unseren Beitrag Tantiguru. Jetzt sah ich ein aufregendes Schauspiel. Der alte Mann nahm einen Sack Federn nach dem andern, und indem er ihn öffnete und mit den Händen hineinfuhr, schüttete er Hände voll Federn auf den Boden, wobei er wie ein Falke niederstieß und mit schnellem Zupacken jede unvollkommene Feder, die sich zufällig in dem silbernen Strom befand, herausgriff. Welche Augen und welche Behendigkeit!

Nachdem alle fehlerhaften Federn ausgesondert waren, übergab er die guten den Frauen des Dorfes, um Garn daraus zu spinnen.

In der nächsten Woche spannen alle Frauen. Lieblich klangen ihre Armreifen und schlugen den Takt zu ihrem Gesang, während sie von jeder Feder die zarten Teile abzupften und zwirnten und sie zu Faden spannen. Wie Wasser rann Gesang durch das Dorf.

Endlich war der Tag, an dem der Schal gewebt werden sollte, festgesetzt, und alle Weber wurden aufgefordert, sofern sie es vermöchten, für die vorausgehenden vierundzwanzig Stunden ohne Nahrung zu bleiben. Auch ich begehrte zu weben, deshalb beschloß ich von Sonnenaufgang bis Sonnenaufgang zu fasten. Während meines Fastens suchte Tantiguru mich auf. Er sah noch größer aus als seine gewöhnlichen sechs Fuß; denn er hatte eine lange fließende Toga angetan, deren Falten seinen Wuchs beträchtlich erhöhten. Sein Bart wie weiße Silberfäden und sein kahles Haupt betonten sein Alter. Er wünschte mich allein zu sprechen. So gingen wir auf die Veranda, wo er mir beide Hände auf den Kopf legte und betete:

»Möge dein Gefühl so lebhaft sein, daß es vor Schönheit schmerzt. Möge dein Sinn frei sein von Habgier und Furcht. Mögen Kette und Einschlag deiner Seele eingeprägt sein, auf daß deine Finger die Fäden in Mustern hinaussingen. Mögen deine Hände beredt werden wie Zungen!« Nach ein paar Augenblicken des Schweigens berührte er seine eigene Toga und erklärte: »Schau dieses Gewand an! Es wurde von meinem Großvater gewoben. Seine Farbe ist beständig. Sein Gewebe ist so glatt wie die Haut eines Kindes, und dabei wie schmiegsam! Untersuche seine Fäden – ja, presse sie mit den Fingern, lege deine Faust darunter. Spürst du das Muster?«

»Ja, Herr.«

»Gut«, rief der alte Weber aus. »Bewahre diese Zeichnung in deinem Sinn, bis sie in dein Herz und in deinen Traum hinabsinkt. Wie ein Mensch träumt, so webt er!« Er ging davon, nicht ein armer Dorfweber, sondern ein Dichterfürst – Kavyaradscha.

Am folgenden Morgen vollzogen wir unsere Waschungen und badeten, und nach einem kargen Frühstück aus Tschapati (Brot) und heißer Ziegenmilch versammelten wir uns in Tantigurus Haus.

In einem der gutbeleuchteten Räume hatte man den Webstuhl aufgestellt und die Kette bereit gemacht, und neben ihm saß der Handwerksmeister wie ein Priester vor seiner Gottheit. Wir alle betraten leise den Raum und setzten uns um den Webstuhl. Als Tantiguru sah, daß wir unsere Plätze eingenommen hatten, rief er die Jungfrauen des Dorfes herbei, die im Hause waren, damit sie das Garn brachten, das sie gesponnen hatten. Anders als wir, schritten sie mit klingenden Fußspangen und untereinander redend.

Sie waren acht, gekleidet in grüne, safranfarbene und violette Seidensaris, und sie gingen in Gruppen ein und aus und ließen neben jedem Weber eine Spindel voll Garn wie Sommerseide zurück.

»Möget ihr mit Gesang weben«, befahl der Meister. »Möge eure Geschicklichkeit derart sein, daß das Gewebe, das ihr macht, so köstlich ist wie das Mondlicht, aber so sicher in seiner Wirkung wie der Blitzstrahl.«

Dann begann das Weben. Ich, der sehr wenig davon verstand, mußte den anderen bei der Arbeit zusehen. Wie Schlangenzungen schoß Faden auf Faden hervor und verschwand. Ihre Geschicklichkeit beim Weben zu beobachten schmerzte mich, aber die Schmerzempfindung vor aller Kunstfertigkeit ist etwas, worin ich ein Zeichen ihrer Vornehmheit sehe. Wie die Finger dieser Männer sich eifrig mit den Sommerfaden befaßten, sie schoben und zogen, wird immer unerforschlich für mich bleiben, wenn es auch einfach ist. Manchmal tadelten sie den Faden mit Gesang:

»Komm, komm
wie der Strom aus dem Felsen;
komm, komm
wie die Schlange auf den Flötenruf des Zauberers.«

Um die Mittagszeit hatte ich genug Fertigkeit erlangt, um einen Faden weiter zu führen, der mir eingehändigt wurde … Ich konnte ihn behende in die Kette einfügen und ihn durchziehen, bis er für die Hand meines Nachbarn bereit war. Wieso wir immer das Ganze des Musters im Kopf hatten, kann ich nicht sagen. Fünfzehn Leute webten an einem Schal. Natürlich waren alle außer mir geborene Weber. Ihre Finger wußten das Muster, wie die Hand einer Mutter das Gewicht ihres Kindes weiß.

Ungefähr um drei Uhr nachmittags fingen wir wieder an. Lied auf Lied wurde gesungen, manchmal im Chor, manchmal allein von einer guten Stimme, während die übrigen schweigend arbeiteten. Von Zeit zu Zeit berührte der Webermeister einen mit der Hand oder mit seinem Stab, um eine falsche Bewegung zu verbessern. Gegen das Ende des Tages sang er ein langes Lob der Schals. Er pries »den Zamewar. (bestickten Schal) wegen seines Adels«. Den Alawan (den Tschuddar) lobte er: »Dieser stets bereite Freund, Erhalter unseres Körpers wie die Milch unserer Mutter.« Dann, nachdem er die vielfachen Farben eines »Dosala« (ein zweiseitiger Schal) besungen hatte, endete er mit einer kurzen Strophe auf »Aschli« (das reine Muster) und den uralten roten Färbelack.

So ging es Tag für Tag weiter. Nach sechs Wochen endlich war der Schal fertig. Damit überfiel uns alle Traurigkeit. Wir, die wir Wunder gewirkt hatten, hörten nun auf Zauberer zu sein. Die letzte feierliche Tosa-Handlung war dennoch köstlich. Der Schal wurde zusammengefaltet und den Frauen des Dorfes übergeben, die ihn ausmaßen. »Sechs Fuß lang und zweieinhalb breit.« Bei dieser Mitteilung streifte Tantiguru einen Ring vom kleinen Finger und zog den ganzen Schal hindurch. »Er ist wohlgeraten. Sehet, er besteht die Probe.« Ein freudiges Aufleuchten übergoß für einen Augenblick sein Antlitz. »Dieser Ring wurde meinem Ahnherrn vom Kaiser Schah Dchehan geschenkt, dem Erbauer der Tadsch Mahal. Seit jener Zeit müssen immer alle unsere Schals in ihn hineingehen mit der Demut eines Sklaven und als Herren aus ihm hervorkommen.«

Jetzt berührte ich den Schal, und ich kann schwören, daß die meisten, die ihn anfassen und befühlen, sagen werden, was ich damals sagte: »Das sind keine Vogelfedern, sondern er ist aus Wolle gemacht.« Ist es da nicht natürlich, daß das Weben eines solchen Stoffes seinen Erzeuger zur Würde eines Zauberers erhebt? Um Ghonds Erzählung von den aus Federn gemachten Tosa- oder Kosischals zu bestätigen, siehe die Notiz über Tosa in »The Christian Science Monitor« vom 26. August 1924, S. 5. Dieses Blatt wird in Boston, Massachusetts, U. S. A., gedruckt.


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