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Drittes Kapitel.
Der Python treibt sein Unwesen

Ehe unsere Geschichte weitergeht, muß ich euch noch eine nähere Beschreibung unseres Dorfes geben. Wie kann ich von den Wegen der Papageien erzählen, wenn ich nicht zuvor den Wald beschreibe, in dem sie leben?

Ebenso wie auf der Gemeindetenne und dem Tempelplatz trafen und unterhielten sich die Leute am Fluß Avati, der ungefähr achtzig Meter breit und für Schifffahrt zu seicht war, obgleich er, wenn im Frühjahr der Schnee auf dem Himalayagebirge schmolz oder im Juli die Regenfälle die Wasser anschwellen ließen, für jeweils vierzehn Tage eine Tiefe von ungefähr zwölf Fuß erreichte. Aber zu diesen Zeiten war die Strömung so reißend, daß es dem äußersten Mißgeschick gleichkam, in ihr zu schwimmen oder auf ihr zu treiben. Der Fluß zog zwischen Ilex, Deodarzedern und Platanen dahin, und hier und da war sein Nordufer durch Steinwälle und Treppen aus gelbem Sandstein, allgemein als Ghats bekannt, unterbrochen und befestigt. Während der Regenzeit wurde der Avati so braungelb wie die Stufen, sonst aber war er so hell und klar wie die Augen eines Vogels.

Dort auf den Ghats trafen sich die Leute, wenn sie gegen neun Uhr morgens, eine Stunde bevor das Baden begann, zum Wasserholen kamen. Da die Strömung stets in der gleichen Richtung lief, ohne Ebbe und Flut, wurde alles Wasser, das nach dem Trinkwasserschöpfen getrübt war, für die Badenden stromabwärts wieder klar, und alles, was diese verunreinigten, floß nach Osten ins Meer ab. Das Wasser war immer sauber. Nachmittags badeten die Leute wieder darin, ehe sie zur Abendmeditation in den Tempel gingen, und um Mittag, zwischen den Stunden, in denen Menschen sich den Avati nutzbar machten, badeten die Tiere und tranken aus ihm, so oft es ihnen behagte. Wir führten immer um halb zwölf unser Vieh dorthin und badeten es. Es war wundervoll, die roten, weißen und grauen Flanken in das silberne Wasser tauchen zu sehen, in dessen Tiefe die hohen Uferbäume ihr Spiegelbild warfen wie grüne Fackeln.

 

Eines Morgens, spät im November, als Frauen zum Wasserschöpfen an den Fluß gegangen waren, sahen sie einen Python den Fluß hinab treiben. Sie kamen heim und erzählten es den Männern, aber diejenigen von uns, die auf den Äckern waren, hörten nichts davon, und pünktlich um halb zwölf führten wir unsere Viehherden zum Baden. Mit dem Beistand eines unserer gedungenen Leute war ich eifrig dabei, meine Tiere, die gewöhnlich eins nach dem andern aus dem Wasser kamen, mit Stroh zu scheuern; kamen aber zwei zugleich, dann übernahm der Tagelöhner das eine und ich das andere. Nachdem sie abgerieben waren, wurden sie zu einem abschließenden Untertauchen wieder in den Fluß geschickt. Kamen sie dann endlich heraus, dann trieften ihre Flanken von funkelndem Wasser in der Mittagssonne.

Gerade als Goma und ihre Mutter vom Fluß heraufgekommen waren und der Tagelöhner und ich angefangen hatten sie abzureiben – ich hatte natürlich Goma vorgenommen –, schwang sich plötzlich über uns von einem Baum ein schwarzes Tau herunter und umschloß mit seinen raschkreisenden Windungen erst die Kuh und dann meinen armen Mann. Wo die beiden eben noch gestanden hatten, stöhnte gleich darauf ein sterbender Mensch unter dem Gebrüll eines sterbenden Tieres. Goma und die übrige Herde flohen in panischem Schrecken und ließen mich allein vor dem entsetzlichen Schauspiel. Nie werde ich vergessen, wie der einige Fuß lange Schwanz dieser Schlange sich fast bis zum Umfang eines Kinderhandgelenks verdünnte, als er, vom Baum herabhängend, sich straff spannte, wahrend ihr Körper sich ausstreckte, um dann loszulassen, als die Schlingen um ihre Opfer fielen. Ehe der Mann und die arme Kuh zu Brei zermalmt waren, floh ich von dieser Stelle.

Es dauerte nicht lange, bis ich auf Viehherden traf, die in wildem Durcheinander durch die Dorfstraßen liefen. Augenscheinlich war unsere in rasender Flucht dahinjagende Herde in anderer Leute Vieh, das zum Baden an den Fluß ging, hineingelaufen und hatte es mit seinem Schrecken angesteckt. Ich schrie den Hirten die Nachricht von dem Unglück zu, dessen Zeuge ich am Flußufer geworden war. Ruf auf Ruf ließ der Priester im Tempel aus seinem Muschelhorn erschallen.

Ach, als das Dorf sich beim Fluß versammelte, fand man weder den Python noch seine Opfer. Keiner wußte, wo man sie suchen sollte. Aber ich sagte Kuri, ich sei überzeugt, das Untier könne ganz dicht bei der Unglücksstätte gefunden werden. Daher zogen wir den Priester, als wir am Abend in den Tempel gingen, um ihn aus den heiligen Schriften und Epen vorlesen zu hören, in eine Ecke, und ich schüttete ihm mein Herz aus. Der Graubart hörte mich aufmerksam an und sagte: »Hole mich morgen früh ab. Jetzt muß ich meinen Platz am Altar einnehmen und euch die Geschichte von Rama vorlesen.«

Später werde ich von den Vorlesungen erzählen, die unser Priester jeden Abend im Tempel hielt, und von den Sittenstücken, die dort mindestens einmal im Monat aufgeführt wurden.

Am nächsten Tag, nachdem ich Blumen in den Tempel gebracht und dort gebetet hatte, zogen der Priester und ich aus, den Mörder zu finden. Zuerst führte ich Purohit an den Rand des Dschungels, wo ich am Dipavali-Abend dem Feind begegnet war. Im Tageslicht erwies sich das als ein einfaches Unternehmen. Siehe, da lagen lange Streifen von Gras und dürren Blättern in ein bestimmtes Muster gepreßt. Wir gingen ihm überall hin nach. Jene langen geschwungenen Streifen, breit wie meine Körpermitte, konnten nur durch einen Python hervorgerufen sein. Nach kurzer Zeit erreichten wir das Flußufer. Zweifelsohne hatte er sich dorthin begeben, um einen Trunk zu nehmen. Und während er damit beschäftigt gewesen, hatte ihn irgend etwas von hinten erschreckt, und er war in die reißende Strömung gefallen. Die trug ihn flußabwärts, an den Ghats vorüber, wo die Leute badeten. Schließlich kam er an die Stelle, wo der Fluß eine scharfe Biegung macht und wo wir immer unser Vieh badeten. Dort wird die Strömung von einer Art Damm, der aus abgelagertem Geröll gebildet ist, verlangsamt. Wir verfolgten die Spur des Pythons bis über den weichen Grund, über den er gekrochen war, und bis zu dem Baum, um den er seinen lehmigen Körper geringelt hatte.

Purohit, der Priester, und ich gaben uns große Mühe, seinen augenblicklichen Aufenthaltsort festzustellen, aber vergebens. Mit niedergeschlagener Seele und bestürztem Sinn setzten wir uns um die Mittagszeit ans Ufer, um unsere müden Glieder auszuruhn. Langsam kamen Hirten mit ihren Herden und badeten sie. Stück für Stück gingen die Kühe und Ochsen heim. Endlich kam unsere eigene Herde, geführt von einem neuen Tagelöhner namens Gokul. Seinen Schutzbefohlenen voran sprang er ins Wasser. Ihm folgte Klein-Goma, um recht zu zeigen, daß auch sie Gokuls Vergnügen teilen konnte. Sie spielten miteinander im Wasser wie Kinder. Es machte mir Spaß, mein kleines Kälbchen so ausgelassen und glücklich zu sehen. Ich rief ihren Namen, sie gehorchte sofort. Sie wandte sich dem Ufer zu. Zoll für Zoll arbeitete sie sich langsam heraus. Als sie gerade so weit war, die Füße auf trockenen Boden zu setzen, fiel ihr Blick auf irgend etwas zu ihrer Linken. Da blieb sie stehen. Als habe sie den Tod selber erblickt, bebte ihr Körper vor Entsetzen. Das genügte dem scharfen Auge des Priesters. Er sprang mit einem Satz ins Wasser, stand bis zum Gürtel darin und sah nach der Stelle, auf die die Augen des Kalbes geheftet waren. Freudig rief er: »Mila, Mila! (Gefunden, gefunden!)« Dieser Schrei gab Gomas Stocksteifheit einen Stoß. Sie wurde durch das »Mila, Mila« das Ufer heraufgetrieben und rannte nach Hause. Das übrige Vieh folgte ihrem Beispiel. Das Dröhnen der Hufe auf dem Boden erschreckte anscheinend den Python; denn der Priester rief mich, ich sollte ihn mir ansehen, bevor auch er entfliehe.

Der Python konnte weder fortkriechen noch kämpfen. Er hatte zuviel gefressen. Mindestens einen Monat brauchte er dazu, einen zwanzigjährigen jungen Menschen und eine mittelgroße Kuh zu verdauen. Ich ging ins Wasser und stellte mich neben den Priester. Ich schaute und schaute. Unter einem Baum, von dem der Fluß zurückgewichen war, nachdem er den Grund darunter zur Hälfte weggenagt hatte, sah ich endlich etwas. Zwei Augen wie trübe Kristalle und unter ihnen zwei vorstehende braune Dinger wie Stoßzähne. Er glich einem höchst unheildrohenden Bild Satans, wie er da unter den äußersten Wurzeln eines Ahornbaumes und in den dichten Schatten eines Zweiges lag, der das Wasser viele Fuß weit überhing. Ein schwarzer Berg von einem zusammengerollten Python, der uns aus glasigen Augen ansah. Und aus den Winkeln seines Maules stachen die beiden Hörner unserer Kuh hervor! Der unheimliche Anblick erfüllte mich mit Ekel und Grauen. Es dauert lange, bis eine Schlange die Hörner ihres Opfers in ihrem eigenen Speichel aufgelöst hat. Wie ihr wißt, können weder große noch kleine Schlangen kauen; sie zerdrücken ihr Futter teilweise in der Kehle. Der Priester sagte: »Wir wollen ihn lebendig fangen.«

Wir gingen ins Dorf, das durch Gokul, unseren neuen Hirten, von des Pythons Anwesenheit erfahren hatte. Der tüchtige Mann fragte die Schlangenbeschwörer um Rat, die sagten, daß die Schlange zu groß sei, als daß man mit der Flöte Gewalt über sie bekommen könnte. Deshalb machten die Männer sich daran, einen Käfig aus Bambusstäben und Kuhhautriemen zu bauen, dessen Herstellung einen Tag dauerte. Als er fertig war, wurde er vor dem Python herabgelassen. Aber jetzt war die schwere Frage, wie man ihn dazu bringen konnte, hineinzukriechen. Lärm, Geschrei, das Springen von Männern über die Baumwurzeln, nichts veranlaßte ihn dazu, sich auch nur um einen Zoll zu bewegen. Da lag er, festgehalten von der Tätigkeit seinen Fraß zu verdauen, ein Vorgang, der stärker war als er selbst. Der offene Käfig war so dicht an den Höhleneingang unter dem Baum herangeschoben, daß gerade noch Platz genug für die Tür blieb, die durch ein Seil an dem überhängenden Ast in die Höhe gehalten wurde, um nach Art einer Guillotine herunterzufallen, wenn er erst einmal drinnen war.

Doch er rührte sich nicht vom Fleck. Deshalb gingen alle Leute ärgerlich fort und sagten: »Was für eine einfältige Schlange.«

Es war wohl am vierten Tag, nachdem wir sein Versteck gefunden hatten, daß ich allein hinging, um einen selbst erdachten Plan auszuführen. Als ich zu der Stelle kam, war kein Erwachsener in der Nähe. Ich brachte Hacke, Spaten, Stroh und eine Menge Anmachholz herbei. Zunächst grub ich im Rücken des Pythons einen Gang, ein schräges Loch, das, wie es sich dem Tier näherte, immer tiefer führte. Ich war halb fertig, da erschien Purohit. Als er mich sah, hieß er meinen Plan gut, warf seinen priesterlichen Rosenkranz und Stock beiseite und nahm die Hacke aus meinen schon müden Händen. Er fuhr fort immer heftiger zu graben, und gegen vier Uhr nachmittags, nachdem wir nochmals zwei Stunden gearbeitet hatten, sagte er: »Ich kann ihn atmen hören. Geh' und hole eine Brechstange.«

Als ich sie brachte, ergriff er sie und stieß sie geradeswegs durch die dünne Scheidewand aus lockerer Erde und traf auf die Schlange. Sie bewegte sich. Wir hörten die Wurzeln des Baumes zittern, als der schwere Körper dagegenschlug. Aber sie bewegte sich nicht genug, um dem Priester zu gefallen. Er stieß noch ein paarmal zu, ohne einen befriedigenden Erfolg bei dem schläfrigen Untier zu erzielen.

Nun steckten wir eine dicke Lage Stroh in den Gang, fast unmittelbar bis an die Haut des Pythons, und bedeckten es mit trockenem Herbstlaub. Nachdem wir das Brennholz obenauf gelegt hatten, setzten wir den Tunnel in Brand. Mir wurde befohlen, mit einem Messer auf den Baum zu steigen. Ich kletterte hinauf und legte mich auf den überhängenden Ast, an dem das Seil befestigt war, das die Tür des für unseren Feind vorbereiteten Gefängnisses in die Höhe hielt. Ich hatte die Weisung das Seil durchzuschneiden, sobald die Schlange in den Käfig gekrochen wäre.

Langsam erhob sich der Rauch und lag, wie das Schicksal es fügte, in dicken Schwaden zwischen mir und allem was unten war. Allmählich stieg er höher und fing an, mir in die Augen zu beißen. Ich rief dem Priester Bescheid zu: »Schreit es mir zu, so laut Ihr könnt, wenn der Python in den Käfig geht und die Tür zufallen soll; denn ich kann nichts sehen. Sobald ich Euch höre, werde ich das Seil durchschneiden.«

Purohit rief: »Wenn sie in den Käfig kommt, werde ich so laut schreien, daß du taub wirst. Sobald du mich hörst, schneide das Seil durch.«

Rauchwirbel auf Rauchwirbel stieg auf, drang mir in die Nasenlöcher und blendete meine Augen. Da saß ich mit dem Gesicht über der allmächtigen Weihrauchwolke. Ich schloß die Augen und konzentrierte meine ganze Aufmerksamkeit darauf, den Signalschrei des Priesters aufzufangen. Natürlich hörte ich, je mehr ich lauschte, um so starker das Zischen und Knistern des Feuers und den Lärm menschlicher Stimmen. Anscheinend hatte sich das ganze Dorf herbegeben, um dabei zu sein, wie der Python geröstet wurde. Die Leute redeten fortwährend miteinander und schrien manchmal laut. Wie in aller Welt ich unter solchen Umstanden meine Aufgabe vollbringen sollte, überstieg mein Begriffsvermögen.

Stunden schienen zu vergehen. Ich glich einem Menschen, der in eine mitternächtliche Finsternis von Rauch und Getöse eingehüllt ist. Plötzlich packte mich ein Schwindelanfall. Mir war, als müßte ich vom Baum hinabstürzen. Ich hörte einen fürchterlichen Radau. Mitten unter dem donnerartigen Getöse vernahm ich schwach, wie jemand mit einer quäkenden Stimme sagte: »O du Vorfahre eines Affen, schneide das Seil durch. Hörst du mich nicht, du Halbbruder eines Maulesels? Schneide das Seil durch.«

Aber der, der mich beschimpfte, wußte nicht, daß ich in dem Rauch gar nichts sehen konnte. Nichtsdestoweniger tastete ich blindlings vorwärts und hieb mit meinem Messer unter dem Ast her, wobei ich größtenteils nur die Luft durchschnitt. Aber ich gab nicht nach. Einmal schnitt ich einen Zweig ab. Ein anderes Mal meinte ich einen Ast durchzuhauen. Dann wieder einen Ast – nein, dies war kein Ast! Ha! das Seil! Ich fuhr fort, daraufloszusäbeln. Immer angestrengter arbeitete ich. Und an dem wachsenden Lärm und Tumult konnte ich mich überzeugen, daß ich dabei war, das Seil zu durchschneiden. Ich verdoppelte meine Gewalt. Zuletzt verlegte ich mein halbes Gewicht auf das Messer, dann zerrte ich heftig. Noch größerer Lärm von unten, jetzt schnappte etwas. In dem Augenblick verlor ich das Gleichgewicht. Aber ich hatte Verstand genug das Messer wegzuschleudern, als ich vom Baum fiel. In einem Nu versank ich im Fluß – abwärts, abwärts, abwärts …

Als ich wieder über Wasser kam, lag mein Gesicht fast an den dichten, doppelten Bambusstäben des Käfigs, in dem sich eine ungeheure grauschwarze Fleischmasse wand. Ich sah genauer hin. Ja, er hatte die beiden Hörner verschlungen, die ihm aus dem Maul staken, als wir ihn zum erstenmal unter dem Baum entdeckten. Das schien eine seltsame Neugierde in mir zu befriedigen. Was mir dann noch auffiel, war die Größe des Untiers. Es mußte zum wenigsten einen Fuß im Durchmesser haben. Die Leute um mich her sagten, daß sie nie zuvor einen so großen Python gesehen hätten. Sie freuten sich jedoch so sehr, daß er eingefangen war und im geeigneten Zustand, um an ein Museum verkauft zu werden, daß, außer dem Priester und Kuri, niemand sich um mich kümmerte, der ich triefend, halb erstickt und braun und blau geschlagen dastand.


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