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Viertes Kapitel.
Einführung in das Dschungelmysterium

Nach unserem Abenteuer mit dem Python faßte der Priester ein tiefes Interesse für mich. Eines Tages kam er in unser Haus und verlangte eine Unterredung mit meiner Tante. Es war ein kalter Dezembernachmittag, deshalb begaben sie sich auf das Dach des Hauses. Das mag euch seltsam erscheinen, aber ich werde es euch erklären.

Unser Haus war eines der wenigen, die am Nordende des Dorfes lagen. Es war aus Steinen und Lehm gebaut, und durch ein Jahrhundert Regen und Sonne hatte es eine rötlichbraune Färbung bekommen. Die Balken und das Sparrenwerk waren aus Teakholz. Die Zimmerdecken waren sehr hoch. Fast alle Hauser in Indien sind so gebaut, daß sie der Hitze Widerstand leisten: Hohe Decken und geräumige Zimmer sind dazu nötig, um einem Volk Behagen zu schaffen, das alljährlich sechs Monate lang eine beständige tropische Hitze aushalten muß, und so war der Winter, der ungefähr vier Monate dauerte, höchst ungemütlich. Wir hatten kein Feuer, außer im Freien, inmitten der gemauerten Einfriedigung, und wir waren auf Schals und wollene Hüllen angewiesen, um uns, sei es im Haus oder draußen, warm zu halten. Ihr könnt unsere Beschwernisse an der Tatsache ermessen, daß in jeder Winternacht die Kälte so stark war, daß das Wasser gefror. Immerhin war es während des Tages überall, wo die Sonne hinschien, behaglich, aber wenn man aus der Sonne in den Schatten trat, drang die Kälte in einen ein wie die Kralle eines Panthers.

Offensichtlich betraf es mich, was der Priester an jenem Nachmittag meiner Tante mitzuteilen hatte, denn ich wurde bald aufgefordert, zu ihnen auf das Dach zu kommen. Ich ging aus meinem Zimmer die von Pfeilern getragene Veranda entlang, bis ich an ihrem Ende die Treppe erreichte; denn in früheren Zeiten wurden alle Treppen nicht durch das Haus gelegt, sondern an eine Ecke des Hauses. Gleich neben ihnen waren die hohen Außenmauern, die das Gebäude und den vorderen Hofraum umgaben.

Als ich oben ankam, fand ich die beiden alten Leute in einer tiefen Unterhaltung. Der Himmel über uns war blau, die nicht weit entfernten Wälder waren grün und rotbraun wie gewöhnlich im Winter, und fern im Norden stand das Himalayagebirge, in Winternebel gehüllt, wie ein hoher Spiegel, auf den jemand gehaucht hat.

Der Priester blickte auf und lächelte unter seinem weißen Bart. Er sagte: »Wir denken daran, dich einzuführen.« Die Miene meiner Tante sah, wie mir im Niedersetzen auffiel, beunruhigt aus. Obgleich Kuri sechzig Jahre alt war, zeigte ihr Gesicht keine Sorgenfalten. Ein paar wenige Alterslinien waren da. Heutzutage scheint es, als ob die Leute sich sehr viel quälen, und ihre Gesichter sind von Falten zerklüftet. In Indien sieht selbst jetzt das gewöhnliche Volk nicht abgehetzt und verhärtet aus, und in alten Tagen sah man es nur selten erregt; deshalb erfüllten mich jene neuen Züge in Kuris Antlitz mit Unruhe. Als habe sie erraten, was mir durch den Sinn ging, bemerkte sie, die dunklen Augen ruhig und stetig:

»Der Priester meint, du sollest eingeführt werden, wenn du neun Jahre alt bist.

Du weißt, daß du der Kriegerkaste, Kschatrya, angehörst. Die höchste Kaste in Indien sind die Brahmanen, die Priester. Die zweite ist die deine, die der Krieger. Die dritte ist die der Händler und Bauern, die Vaisyas genannt werden. Die vierte bilden die Tagelöhner, die Sudras. Dieses Kastensystem ist ein Bestandteil unserer Religion, doch es stammt nicht aus dergleichen Zeit wie der Kern unseres Glaubens, und schon bricht es in den Städten zusammen. In fünfzig Jahren wird es auf dem Lande zerfallen, aber inzwischen mußt du, ein Landkind, dich wie üblich der Einführung deiner Kaste unterziehen. Statt zu warten, bis du Vierzehn wirst, sollst du eingeführt werden, ehe du Zehn bist, denn dein Charakter ist reif.« Dann folgte eine Pause, nach der Kuri hinzufügte: »Als Sudra (Tagelöhner) hast du schon gute Dienste geleistet. Du warst äußerst tüchtig als Viehhirte. Auch bist du ein Edelstein von einem Vaisya. Im letzten Frühling hast du bei der Feldbestellung geholfen. Du bist mit allem Nötigen versehen, um ein guter Landmann zu werden. Ich habe immer vom Ackerbau für dich geträumt. Aber der Priester sagt, du sollest ein Krieger werden, weshalb so früh, das kann ich nicht verstehen.«

Ebensowenig konnte ich es begreifen. Deshalb sah ich den Priester an. Er lächelte wieder, was alle Zweifel in meinem Gemüt beschwichtigte. Er sagte: »Komme allmorgendlich mit den Blumen in den Tempel, wie du es im letzten Jahr getan hast, aber statt aufs Feld zu gehen, verbringe ein paar Stunden mit mir. Das ist alles.«

Nun stand der Brahmane auf, um sich zu verabschieden. Wir grüßten ihn, indem wir die Köpfe bis auf den Boden neigten. Nachdem er » Swastu« gesagt hatte – die übliche Wendung, die bedeutet ›Mögen eure Wünsche in Erfüllung gehen‹ – ging er fort. Wir saßen auf dem Dach und verharrten schweigend, bis die fernen Tempelglocken das Nahen der Nacht begrüßten.

 

Statt mit neun Jahren eingeführt zu werden, wartete ich bis zu meinem elften Jahr und erlernte in der Zwischenzeit das Handwerk eines Kriegers. Ich verbrachte sehr viel Zeit im Tempel, und wie Monat auf Monat folgte, wurde meine Zuneigung zu dem Priester tiefer und tiefer.

Unter seiner liebreichen Führung lernte ich, daß das Leben eine Einheit ist. Es gibt nichts Einzelnes, das ein bevorzugter Liebling der Natur und Gottes wäre. Der Mensch ist nicht Herr aller Dinge, sondern er ist einer der Diener des Lebens. Hier ein Beispiel:

Eines Tages trafen Purohit und ich, als wir durch die Tempelgärten schritten, auf eine giftige Kröte. Ich erhob meinen Stock, um sie zu vernichten, ehe sie aus ihrem Körper eine giftige Flüssigkeit verspritzte, die, läßt man es geschehen, daß sie einem auf die Haut fällt, einen blasigen Ausschlag darauf hervorruft. Außerdem war diese Kröte ein ekelhafter Gesell, dick und stark. Kein Wunder, daß ich wünschte, ihr auf der Stelle den Garaus zu machen. Aber Purohit wollte das nicht zulassen. Er faßte meinen Stock, ehe ich ihn auf den Kopf der Kröte niederfallen lassen konnte. »Sie mag ein wenig Gift verspritzen, wenn du sie erschreckst, aber bedenke, o Juwel der Weisheit verborgen in der Unwissenheit der Jugend, wenn du sie tötest, fügst du meinen Tempelgärten Schaden zu.«

»Wieso, Herr?« fragte ich erstaunt.

»Weil es viele Insekten gibt, die Blätter fressen, und Würmer, die die Blüten meiner sich entfaltenden Pflanzen zernagen. Sie sind zahlreich und klein. Ich habe weder Zeit noch Umsicht genug ihnen nachzugehen, aber sie müssen vernichtet werden, wenn die Blumen, die wir zur Ehre Gottes darbringen, vollkommen sein sollen, und du weißt, daß es niemand einfallen würde, zur Verehrung des Göttlichen von Würmern zerfressene Blüten zu opfern. Nun, und wer ist es, der den Garten von Insekten und Würmern frei hält? Es ist unsere Freundin, die Kröte. Und sie tötet sie nicht aus Schlechtigkeit, sondern verzehrt sie, um ihren Hunger zu stillen. Sie ist die beste Freundin, die ein Gärtner hat, und der Schutzengel der Blumen. Obgleich noch keine Dichter ihr Lob gesungen haben, noch die Religion ihr einen Altar errichtet hat, wissen doch die Blumen selbst, daß sie ihre Freundin und Retterin ist. Sie, die Unbesungene, zu töten werde ich dir nicht erlauben.«

Obgleich ich erst neun Jahre zählte, sanken diese Worte tief in meine Seele. Man kann nicht eine Tierart vertilgen, ohne das ganze Gleichgewicht des Lebens zu zerstören. Das Leben ist ein Ganzes. Davor gibt es kein Entrinnen.

Ein anderes Beispiel: Was würde geschehen, wenn man alle Schlangen tötete? Die Würmer und Frösche und alle Geschöpfe, die von Holz leben, würden sich so vermehren, daß sie, um ihr Leben zu erhalten, den halben Pflanzenwuchs der Welt auffräßen. Außerdem ist das Wichtigste am Leben seine Mannigfaltigkeit. Tiger, Elefanten, Schlangen, Nashörner, Krokodile, Papageien, Tauben, Adler, Habichte und Pfauen, sie alle geben uns ein herrliches Schauspiel der Verschiedenartigkeit. Wollten wir Art nach Art ausrotten, wie wir es in der Vergangenheit getan haben, dann würde das Leben schal, farblos und eintönig werden, ein Schauspiel von ungemilderter Langweiligkeit. Denke an die malerische Erscheinung des Mastadons, eines säbelzahnigen Tigers, oder eines Dinosaurus, der durch den Wald schreitet. Beschwingt das nicht die Einbildungskraft eines Knaben? Spannt das nicht sein Denken an? Erweitertes nicht seinen geistigen Horizont? So hat das alte Sprichwort recht: »Was wir erhalten können, wird alles erhalten.«

Aber das Abstrakte wächst auf dem Baume der Langeweile, Eintönigkeit hängt wie eine Frucht an jedem seiner Zweige, deshalb will ich mich seiner enthalten und euch von konkreten Dingen erzählen, die Purohit und ich zusammen unternahmen. Da ich aus der Kriegerkaste stammte, lehrte er mich die Künste des Krieges, als da sind Bogenschießen, Speerwerfen und Ringen.

Von all diesen Freuden werde ich die des Bogenschießens niemals aufgeben. Nachdem mein erster Bogen verfertigt worden war, ging ich zum Schmied wegen der Pfeile. Endlich kam der bedeutungsvolle Frühlingstag, an dem ich eingeführt werden sollte.

Meine Tante, einer der Dorfältesten, Purohit und ich versammelten uns im Hof des Tempels, wo ein Altar errichtet und das Feuer darauf angezündet war. Meine Gebete und Waschungen hatte ich schon vollzogen. Kuri nahm mich bei der Hand und führte mich dem Priester zu: »Ich schwöre und bekenne, daß dieser mein Neffe begierig ist, in die Kriegskunst eingeführt zu werden. Er ist, ich beschwöre es, eines Kriegers Sohn und Enkel. In ihm fließt das Blut alter Könige, die für den Schwachen kämpften, und die starben, um den Hilflosen zu retten. Ehrenwerte Versammelte, nehmt mein Wort, daß es mein Wunsch ist, ihn als Kschatrya zu sehen, und daß ich euch gestatte, ihn in die Geheimnisse der Lehre eines Kriegers einzuführen.«

Dann umschritt ich siebenmal das heilige Feuer. Das wurde Pradakschina genannt. Als das Pradakschina vorüber war, stand ich dem Priester gegenüber. Er trug ein safranfarbenes Gewand, das im Morgenlicht aufflammte. Hinter ihm breitete sich der grüne Rasen, und über ihm hing der Himmel – eine saphirene Unberührbarkeit. Zwischen uns brannte das Sandelholzfeuer. Er sprach: »Du kommst aus freiem Antrieb, um die Einführung zu empfangen?« Ich antwortete: »Ja, Herr.« Das wiederholte ich dreimal. Dann fragte unter seinem weißen Bart der adleräugige Brahmane: »Schwörst du, den Schwachen zu beschützen, dem Hilflosen zu helfen, dem Leidenden beizustehen und den Missetäter zu bestrafen?«

»Ich schwöre wieder und wieder«, sang ich zurück.

»Du willst deinen Zorn beherrschen, du willst deine Begierden zügeln, du willst weder hassen noch fürchten?«

»Ja, Herr«, stimmte ich zu.

»Wer sich selbst bezwingt, bezwingt den Blitz«, fuhr der Priester fort. »Wer das Schwert der Einsicht zieht, wird nicht oft der stählernen Waffe bedürfen. Wer mitfühlend ist, wird leben, ohne andere zu verletzen oder zu erniedrigen. Willst du demütig sein, mein Sohn?«

»Ja, Herr«, antwortete ich.

»Willst du mitfühlend sein?«

»Ja, Herr.«

»Willst du, statt andere zu beherrschen, zuerst dich selbst beherrschen?«

Ich entgegnete: »Ich will meine Begierden zügeln mit meiner ganzen Kraft.«

»Schwöre wieder und wieder«, forderte der Priester.

Ich schwur.

Darauf hob er vom Boden zu seinen Füßen einen Bogen auf, einen Köcher voll Pfeile und zwei lose Sehnen. Er hielt sie über das Feuer empor und sang:

»O Feuer, läutere diese Waffen,
O Sonne, heilige sie,
O Mutter Wasser, wasche sie rein von jedem Flecken
des Schreckens und des Todes.
O Gott in diesem jungen Menschen, leite ihn, auf daß
er sich dieser Werkzeuge bediene zum Ruhm der Wahrheit,
zur Sicherheit des Guten und für die Auferstehung
deiner Alten und Unendlichen Barmherzigkeit
in den Herzen aller Menschen.
Agni Dehi
Agni Dehi
Agni Dehi

Schenke uns das reinigende Opferfeuer
Schenke uns das reinigende Opferfeuer
Schenke uns das reinigende Opferfeuer.«

Wir sangen im Chor:

Swastu

So sei es

   

Swastu

So sei es

   

Swastu

So sei es

Purohit sang seinen Segensspruch.

Dann übergab er mir den Bogen und die Pfeile, darauf führte er mich siebenmal um das Feuer. Als dieses Pradakschina vorüber war, blickte er mich an und sprach:

»Mögest du so leben, daß alle von dir sagen, er lebte nicht vergebens! Möge Gott mir Kraft verleihen, dich zu lehren, was ich weiß, mit Demut im Herzen, Reinheit im Geist und Wahrhaftigkeit in der Seele.«

Dann legte ich meine Hand in die Kuris und wir gingen zusammen heim.

Als wir dort ankamen, war zu einem Festmahl gedeckt, an dem das ganze Dorf teilnehmen sollte. Selbst die Armen, deren es nur wenige in unserem Dorf gab, waren vollzählig erschienen. Als wir eintraten, wurden die Muschelhörner geblasen, und die vornehmen Frauen, die eingeladen waren, meinen Einführungstag zu feiern, bestreuten mein Haupt mit Blumen.


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