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Zweites Kapitel.
Festtag im Dorf

Als ich ungefähr acht Jahre alt war, fing ich an, die Dinge als ein Ganzes wahrzunehmen. Bis dahin waren die Begebenheiten des Tages, wie etwa die Morgengebete und das Abendschweigen, mir wie Friedensinseln in einem Chaos von sinnlosen, unzusammenhängenden Geschehnissen vorgekommen; und die Leute gingen zur Arbeit, kamen von den Feldern heim, legten sich schlafen, und jede dieser Handlungen schien einem augenblicklichen Einfall zu entspringen. Es fiel meinem Kinderverstand nie ein, daß sie Teile eines Ganzen bildeten und nicht bloß zusammenhanglose Zufälligkeiten waren.

Aber kurz vor meinem achten Geburtstag vollzog sich ein Wandel in meinen Vorstellungen, als eine unserer Kühe einem Kuhkälbchen das Leben gab. Als das Kalb sechs Wochen später von der Mutter entwöhnt wurde, betraute man mich mit der Aufgabe es zu versorgen. »Erst die Glocke, dann die Kuh«, lautet ein Sprichwort in den Bergen, und so war es meine erste Sorge, wegen einer Messingglocke zum Schmied zu gehen. Dann mußte ich den Weber aufsuchen, um eine Baumwollschnur zu bekommen, die fest war und doch weich genug für den zarten jungen Hals Gomas, – das war der Name, den ich meiner kleinen Schutzbefohlenen gegeben hatte. Immer, wenn sie muhte, klang es wie Go-Ma, was hieß: »O meine Mutter, wo bist du?«

Im Verlauf von vierzehn Tagen lernte ich, daß der Weber, der Grobschmied und der Heuhändler alle mit mir und meinem kleinen Kalb im Zusammenhang standen.

Noch eine andere Erfahrung enthüllte meinem schwachen kleinen Geist die Einheit des Lebens. Das geschah bei der Dipavali-Feier, dem Lampenfest, das, wie ihr wißt, nach den Herbstregen stattfindet und eine Art Danksagungs- und Erntefeier ist. An diesem in den späten Oktober fallenden Tage wurden alle Kühe unseres Dorfes in feierlichem Zuge durch die Hauptstraße zur Gemeindetenne geführt, um dort freigelassen zu werden und allein heimzulaufen.

Meine Tante und ich besaßen die drittgrößte Zebuherde des Dorfes, die aus zwanzig Kühen bestand, so ging unsere Herde an der dritten Stelle im Zug. Aber kein Landmann führt seine sämtlichen Kühe vor; er wählt meistens ein halbes Dutzend schöner Stücke aus. Mir lag es ob, unsere sechs schönsten Tiere, die im Zug mitgehen sollten, auszusuchen. Vor allem nahm ich Goma, dann ihre Mutter, noch drei weitere Kühe und unseren Stier Vrisa.

Die Auswahl wurde am Morgen getroffen. Den Rest des Tages brachten ich und einer unserer Tagelöhner damit zu, die Tiere zu waschen und zu schmücken. Wir führten sie an den Fluß, der am südlichen Ende des Dorfes vorbeifloß. Das Dorf war von Osten nach Westen gelagert, und nördlich von uns starrte das Himalayagebirge. Nach dem Bad wurden die Tiere nach Hause geführt, um herausgeputzt zu werden. Zu allererst strichen wir die Hörner jedes ausgewachsenen Tieres gelb an. Dann hingen wir Kränze aus rotem Oleander um ihre Hälse, und über den Rücken warfen wir ihnen purpurne, blaue, orangefarbene, grüne und silberne Tücher, die mit Schnüren sicher um ihre glänzenden Leiber befestigt wurden. Darauf malten wir ihnen die Hufe gelb. Es dauerte fast den ganzen Tag, bis meine Herde fertig war, im Zuge mitzugehen. Goma, die noch keine ausgebildeten Hörner hatte und deren Rücken noch nicht breit genug war, um mit einem Tuch, das Edelsteine beschämte, bedeckt zu werden, mußte mit nichts als ihrer Glocke gehen. In elfter Stunde schlug jemand vor, wir sollten ihre Hufe gelb malen wie die der anderen, aber ich erhob Einspruch: »Sie soll kein Gold an ihren Füßen tragen, ehe sie nicht Hörner hat, die man wie leuchtende Bananenschalen malen kann. Eher nicht!«

Meine Tante, die mir zustimmte, befahl uns zum Tempel des Dorfes zu gehen, von wo der Zug seinen Ausgang nehmen sollte. Vrisa, unser Stier, bekränzt mit rotem Oleander, die Hörner funkelnd wie goldene Spieße, sein Rücken ein smaragdenes Schimmern, während seine Wamme wie funkelnder Stahl zwischen Büscheln flammender Blüten hervorsah, führte unsere Herde. Dicht bei ihm schritt unser Oberhirt, in fleckenloses Weiß gekleidet und auf dem Haupt einen Turban aus gelbbrauner Seide. Er hielt einen grünen Bambusstab in der linken Hand, während die rechte auf Vrisas berghaftem Rumpf ruhte, der wie der Kopf eines schläfrigen Kindes von einer Seite zur anderen schwankte. Ich führte die Nachhut mit Goma, deren klingende Glocke Unruhe in die Stille des frühen Abends trug.

Unser Haus war das letzte am Nordende des Dorfes, und wir mußten weit nach Westen gehen, um zur Tempeleinfriedigung zu gelangen; denn das Haus des Himmels, wie wir die geheiligte Stätte unseres Dorfes nannten, lag am westlichen Ende, so daß am frühen Morgen das Licht der aufgehenden Sonne im reinsten Glanze darauf fiel. Der Tempel war ein Wunder aus gelbem Sandstein, ungefähr drei Stock hoch. Vor ihm breitete sich ein Grasplatz aus, groß genug, um mehr als fünfhundert Menschen Raum zu geben. Hinter ihm, dem Blick entzogen, lag das niedrige einstöckige Haus des Priesters.

Langsam schritt unser Vrisa, von Farben und Fett strotzend, auf den grünen Rasen zu und stand dem Tempel gegenüber. Bald kamen aus verschiedenen Richtungen in großen Mengen Viehherden herbei, ihre Hörner waren gelbe Flammen, und ihre Flanken troffen von grellen Farben. In einem Nu war der Platz vom Lärm der Menschen und Tiere erfüllt. Jetzt erschien der Priester auf der obersten Stufe der Tempeltreppe, um seinen Segen zu erteilen. Er trug ein ockerfarbenes Gewand. Langsam hob er die Hände und segnete uns:

» Eka avarno Bahudha
Schakti
Yogat

Er, die unendliche Barmherzigkeit,
Unbefleckt von Farbe, ungefesselt von Gestalt,
Er, der stillet das Bedürfen aller Geschlechter und Formen des Lebens,
Er, für den alle Farben unentweiht sind wie alle Seelen,
Er hat euer Verlangen erfüllt im Anfang wie am Ende aller Welten.
Friede sei mit Euch,
Tiere und Menschen, möget ihr leben in Frieden,
Möget ihr allen Frieden bringen!«

 

Gerade hatte der Priester geendet, als mein kleiner Pflegling, mit seiner Glocke klingelnd, nach vorn lief. Das schien mir ganz gehörig, denn es bezeichnete das Ende der Zeremonie beim Tempel. Jetzt bildete sich der Zug, und wir brachen nach der Gemeindetenne am äußersten Ostende unseres Dorfes auf. Werde ich je diese wundervolle Parade vergessen?

Wir schritten zwischen Häusern, teils aus Luftziegeln und mit Stroh gedeckt, teils aus Backsteinen und Balken, dahin – aber alle waren an diesem Nachmittag angefüllt mit den Gesichtern von Frauen und Männern, nicht nur aus unserem Dorf, sondern auch aus der benachbarten Stadt Almora, von wo sie gekommen waren, um bei unserem Fest zugegen zu sein. Der sonst staubige Weg, der unser Dorf durchquerte, war gefegt und mit Reiskörnern und Lotusblättern bestreut, und mehrere Familien hatten ihre Frontmauern und auch die Erde auf ihren Türschwellen mit Zeichnungen und Mustern versehen. Aus allen Häusern klang uns der schmetternde Ton von Muschelhörnern entgegen, von Frauen geblasen, und junge Mädchen streuten Blumen auf unsere Köpfe. Vor Bel-Grün (Zederngrün) und kleinen Blüten, die die Luft durchschwirrten, ehe sie auf uns niederfielen, konnten wir kaum den rötlichen Abendhimmel über unseren Köpfen sehen.

Endlich erreichten wir die Gemeindetenne unter dem mächtigen Banyanbaum, wo die Dorfältesten und meine Tante Kuri uns empfingen. Hier segneten die Ältesten uns, ehe der Festzug aufgelöst wurde. Der Betagteste von ihnen sprach: »Wir alle sind Brüder – Mensch und Tier. Wir sind Genossen in der Arbeit und im Ertragen von Schmerzen. Wir haben einer an des anderen Wohlergehen Teil: das Leben, das im Ochsen wirkt, ist das gleiche Leben, das in unserem Blute pocht; die Milch, die von der Kuh kommt, ist die Kraft in den Gliedern unserer Kinder. Möget ihr eure Tiere gut behandeln, mögen sie dafür von Gott dazu bewegt werden, euch in reichem Maße nützlich zu sein.«

Mit diesen Worten wurde die Versammlung entlassen. Gerade da lief Goma, diese kleine Unheilstifterin, nach vorn und machte sich daran, den Oleanderkranz vom Hals des Stiers, der an der Spitze des Zuges schritt, zu verzehren. Das war schrecklich und demütigend, trotz der Tatsache, daß sie hungrig und erst zwei Monate alt war. Wäre der Besitzer des Stiers ein guter Mensch gewesen, so hatte er verstanden und verziehen, statt dessen aber stürzte er wütend auf sie los und fing an sie auf den Rücken zu schlagen. Augenblicklich schlug sie mit dem Schwanz, krümmte den Hals und sprang in der Richtung des Dschungels davon, und ich lief hinterher! Es dauerte nicht lange, bis wir weit weg waren von den Männern und Frauen bei der Tenne. Ich sah nichts als Gomas entschwindenden weißen Rumpf vor mir. Ich stolperte, fiel, stand auf und rannte wieder hinter ihr her. Bevor sie aufhörte zu laufen, und bevor ich wußte, wo wir uns befanden, war es völlig dunkel geworden.

Plötzlich merkten wir beide, daß wir in den äußersten Teil des Dschungels eingedrungen waren und an der Schwelle großer Gefahr standen. Gewöhnlichen Beobachtern mögen die Randgebiete eines Waldes zu jeder Zeit sicher vorkommen, für die aber, die Bescheid wissen, sind Abend und früher Morgen die beiden Zeitpunkte, an denen es nicht ungefährlich ist, sich dort aufzuhalten. Zu jenen Stunden begeben sich die Tiere auf die Jagd oder kehren von ihrem nächtlichen Streifzug zurück. Jeder Mensch, der sich am Saum eines dichten Dschungels verweilt, kann von einem Tiger oder einem Leoparden getötet werden; ein Knabe und ein Kalb sind in größerer Gefahr, denn wilde Hunde, Wölfe, Hyänen und schwarze Panther – alle trachten sie zu verschlingen.

So standen wir dort an jenem Dipavali-Abend, neugierig auf unser Schicksal. In einem Nu blitzten durch mein Gehirn die Bilder vergangener Dipavali-Nächte, wo das ganze Dorf von Lichtern erhellt war, weil jedes Haus sein Dach und seine Mauern mit zahllosen Lampen geschmückt hatte. Das Dorf hüllte sich in Zauber wie in ein Gewand. Und nun stellt euch vor, hier stand ich im Dschungel verirrt, in der Gesellschaft eines kaum zwei Monate alten Kälbchens!

Glücklicherweise hatte Goma noch nicht gelernt sich zu fürchten. Furcht lehren die erwachsenen Menschen und Tiere ihren Kleinen. Haben wir einmal gelernt uns zu fürchten, so legen wir diese Gewohnheit selten ab, und ich glaube, unsere Furcht erschreckt andere Kreaturen und veranlaßt sie uns anzugreifen. Während Goma dastand, immer ein Maul voll von den uns umgebenden dichten jungen Bäumchen fraß und mich zwischendurch anblickte, überlegte ich, wie schwierig es sein würde, einen Ausweg aus der uns umschließenden Finsternis zu finden, die von tausend Geräuschen von Insekten und Tieren beredt war. Diese Laute waren jedoch ein Zeichen für verhältnismäßige Sicherheit, denn hätte sich ein Tiger auf uns zu bewegt, wären alle Stimmen verstummt. »Je mehr Lärm, desto gefahrloser der Dschungel«, heißt das Sprichwort.

Ich legte die Hand auf Gomas Schulter und machte mich auf sie zurückzuführen. Wir hielten uns beständig so, daß der Wind uns die Geräusche zutrieb, aber wir mußten oft die Richtung wechseln, um die weniger geräuschvollen Stellen zu vermeiden. Nachdem wir ungefähr eine halbe Stunde gegangen waren, konnten wir durch die uns umgebenden Laubwände etwas wahrnehmen, was ich für einen schwachen Lichtschein am Himmel hielt, der anzeigte, daß wir uns in der Nähe von Mayavati befanden. Ich war glücklich und Goma schwang vergnügt den Schwanz. Aber die Gefahr stürzt sich auf uns, wenn wir in der Wachsamkeit nachlassen. Irgend etwas fiel vor unsere Füße und zermalmte unter sich alle Insekten- und anderen Geräusche, die wie Wasser durch das Unterholz rannen. Goma brüllte auf, dann sprang sie fort. Im Umsehen war sie außer Reich- und Hörweite. Ich stand reglos, neugierig, was wohl das schwere Ding sein mochte, das auf dem Boden des Dschungels lag. Ich ging immerzu rückwärts und spähte in das Mitternachtsdunkel vor mir. Sehen konnte ich nichts, aber ich hörte schusch-scha-schusch in meiner Nähe. Es näherte sich mir immer mehr. Ich war überzeugt, daß es ein Python sein müsse. Hätte ein starker Baum in der Nähe gestanden, so wäre ich verloren gewesen; denn die Schlange hätte den Schwanz als Hebel um den Stamm winden und mich so fest in ihrer Umschlingung halten können, daß ein Entrinnen unmöglich gewesen wäre. Aber glücklicherweise kamen wir gerade durch grasbewachsene Stellen, locker mit kaum zehn Fuß hohen jungen Bäumchen bestanden, die zu schwach waren, als daß die große Schlange sich um sie hätte winden können. Im selben Augenblick, in dem ich die Natur meiner Feindin erkannte, machte ich auf den Fersen kehrt und lief; ich wußte, daß sie mich nicht packen konnte, wenn ich im Zickzack vor ihr davonrannte. Ich war noch nicht weit gelaufen, als ich einen Trupp Kundschafter aus dem Dorf traf, die mit Laternen und Spießen auf der Suche nach mir waren. Ich war in der Tat sehr froh, ihnen zu begegnen. Sie hatten seit nahezu einer Stunde nach Goma und mir gesucht. Bei meiner Ankunft zu Hause fanden wir das Kalb schon dort. Es war aus dem Dschungel geradeswegs in den Kuhstall gerannt.

Als ich den Männern, die mich gefunden hatten, und meiner Tante von meiner Begegnung mit einem Python berichtete, wollten sie mir kaum glauben und sagten: »Das ist die Erzählung eines erschrockenen Kindes.« Ich war tief gekränkt, aber ach, sie wußten nicht, daß sie eine Woche später für ihre törichte Zweifelsucht büßen sollten.


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