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Sechstes Kapitel.
Leben in einem Hindudorf

Nach meiner Einführung begann der Priester mir Symbole unserer Religion zu erklären und die Wahrheiten, die unter den feierlichen Formen unserer täglichen Übungen verborgen waren. Er sagte mir, daß ein jeder sich im Schlaf der vorhergehenden Nacht für sein Tagewerk vorbereiten sollte.

Scheint dies seltsam? Laßt mich erklären. Eines Morgens früh gingen er und ich auf die Jagd. Ich trug einen Wurfspieß und er einen Stock. Unser Ziel war das Nest eines Fische fressenden Adlers, in dem jetzt, es war Anfang April, Eier liegen mußten. In der Richtung nach Ladakh mußten wir sechs Stunden lang anhaltend steigen, bis wir einen blauen See erreichten, an dessen Ufer riesige Felsen, weiß wie Kreide, aufragten. Dort beschlossen wir zu frühstücken. Deshalb holte Purohit aus seiner Vorratstasche geröstetes, mit Butter und Salz durchtränktes Korn. Dann gingen wir an den See, um zu trinken. Ich stand auf einem vorspringenden Felsen, beugte mich nieder und trank von dem blauen Wasser. Nach meiner Rückkehr zu unserem Ruheplatz ging der Priester zum Trinken. Während er sich nach Affenart vorbeugte, schaute ich zum Himmel hinauf. Von Sekunde zu Sekunde größer werdend, stürzte ein schwarzer Punkt aus ihm hernieder. Es war wie das Herabfallen eines schwarzen Felsens. Ihm folgte ein anderer, genau wie er. Es gab in meinem Gehirn keinen Zweifel mehr darüber daß die beiden Adler Purohit gesehen hatten und herabstießen, um ihn zu töten, indem sie ihre Krallen in seinen Hals schlugen. Im selben Augenblick sprang ich auf die Füße und wog meinen Wurfspieß. Ich handelte so, wie man es in Geschichten, die Kämpfe zwischen Menschen und Adlern schildern, von mir erwartet haben würde.

Einer der Adler schoß herunter, wobei er die Luft über den ganzen See hin zum Pfeifen und Schrillen brachte. Etwa zwanzig Fuß von Purohit entfernt ging er nieder. Aber der, der ihm folgte, schien es auf des Priesters Kopf abgesehen zu haben. Es klang ungestümer, wie er mit seinen Schwingen die Luft peitschte. Die kreidigen Felsen widerhallten von dem Echo. Tiefer und tiefer senkte er sich. Aus Angst, daß er in der nächsten Sekunde dem Priester ins Genick fallen würde, schleuderte ich meinen Wurfspieß. Horch, es gab ein dumpfes Geräusch. Dann spreizte der Adler einen Flügel und schrie … Nie werde ich diesen unheilvollen Ton vergessen. Es war die leibhaftige Stimme des Todes. Er beschrieb einen müden Halbkreis in der Luft, dann sank er in den See. Inzwischen erhob sich der erste Adler in die Luft, einen großen Fisch in den Krallen. Aber den ließ er fahren, sobald er seine Gefährtin unten versinken sah.

Der Priester lief auf mich zu und rief voll Unwillen, Haar und Bart naß und tropfend: »Weshalb hast du den armen Adler getötet?«

»Herr, der Vogel war im Begriff, sich auf Euch zu stürzen«, antwortete ich.

»Wie übertrieben! Sie kannten mich seit Jahren. Sie kamen herunter, um Fische zu fangen, nicht um mich zu töten.«

Gerade da schrie der Gefährte des toten Adlers gellend und kreiste in der Luft, wobei er fast das Wasser berührte, in dem die Schwinge des anderen noch immer wie der Flügel einer müden Windmühle stieg und sank. O Gott, was hatte ich getan! Die Felsen und ihre Echos tönten von der Klage des Gatten, der mit seinen Flügeln die Oberfläche des Sees schlug – ach, vergebens. Endlich hörte der verwundete Vogel auf, seine Schwinge zu heben, und das Wasser zog ihn in seine Tiefe hinab. Jetzt schrie sein rasender Gefährte wie ein Wahnsinniger und überflog, nach uns Ausschau haltend, den ganzen Platz. Aber der Priester hatte mich schon mit sich unter einen Baum gezogen. Von dort aus konnten wir immer noch das Adlermännchen nach seinem Feind suchen sehen.

Etwa eine halbe Stunde später, da er ihren toten Körper auf dem Wasser treiben sah, gab er alle Hoffnung auf und flog zu seinem jedem Blick verborgenen Horst über den Felsen hinauf. Purohit schalt mich: »Es sind Fischadler. Sie haben niemals irgendeinem anderen Tier etwas zuleide getan. Ich kenne sie, seit sie ganz klein waren. Dies ist das fünfte Jahr, daß ich meine Wallfahrt zu ihrem Nest gemacht habe. Ach! Sie werden, nein – er wird nie hierher zurückkehren. Nie wieder besuchen sie den Ort des Todes, wenn sie ihn einmal verlassen haben. Nächstes Jahr wird es in diesem Horst keine Adler geben.«

Ich war so tieftraurig über meinen blutigen Mißgriff, daß ich kaum sprechen konnte. Der Priester verstand meine Gefühle, und er redete nicht mehr mit mir. Er ging zu dem vorspringenden Felsen, legte seine Tunika ab und tauchte, sein Dhobi (Lendentuch) eng um sich geschlungen, ins Wasser. In den Binnenseen oder den Flüssen des Innern gibt es keine Krokodile oder sonstigen todbringenden Tiere. Er schwamm ungefährdet bis zur Mitte des Sees, faßte den Flügel des toten Vogels mit den Zähnen und schwamm zum Ufer zurück.

Zum Tragen war der Adler ihm zu schwer. Deshalb kletterte Purohit auf den Felsvorsprung, während ich den Adler von seinem Rand wegzerrte, und kam mir zu Hilfe. Wir legten den Vogel auf einen großen Felsblock. Dann – nachdem der Priester seine Tunika angezogen hatte – sammelten wir beide eine Menge trockener Zweige und Blätter, um den Adler in der rechten Weise zu verbrennen. Nun begannen die feierlichen Leichengebräuche. Ich umschritt den Scheiterhaufen und sang dabei:

» Akasastu invalambo bayu bhuta vishraya.

Nun bist du heimatlos auf der Erde, obdachlos auf
dem Wasser, keine Bleibe für dich in der Luft; so befreit
mache dich auf, o Seele, o unsterbliche Wahrheit, nach
dem Hause des Gesanges und vereinige dich mit der
Schar der lichtgekleideten Götter.«

Indem wir Stein gegen Stein schlugen, setzten wir das Feuer in Brand. Bald knisterte und rauchte das trockene Laub. Im Verlauf von zwei Stunden war der Vogel eingeäschert. Jetzt sangen wir die Schlußworte:

»Begehre nicht dein fleischliches Gewand – ziehe dorthin,
wo die Söhne der Unsterblichkeit deiner warten.«

Das war genau so wie ein menschliches Leichenbegängnis. Aber ihr müßt bedenken, daß nach dem Glauben der Hindus nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere Seelen haben. Wenn toter Menschen Seelen in die Unsterblichkeit hineingebetet und -gesungen werden, warum nicht die toter Tiere? Es ist beschwerlich, die Begräbnisriten bei allen sterbenden Tieren zu beobachten. Aber manchmal können wir sie feiern, um uns daran zu erinnern, daß die Seele unsterblich ist und nicht mit dem Körper vergehen kann.

Nach wenigen Minuten kehrte der verwaiste Adler zurück. Er flog über das Wasser hin. Sobald man den Wind in seinen Flügeln singen hörte wie den Sturm im Schilf, wurden die Fische, die über das Wasser gesprungen waren, still und sanken in die Wassertiefe hinab. Aber er, der Jäger der Höhen, dachte nicht an Töten. Er schwebte über dem Wasser und spähte nach einem letzten Schimmer von seiner Geliebten. Bei diesem Anblick zerriß ein scharfer Schmerz meine Seele. Unfähig, ihn zu ertragen, brach ich in Tränen aus. Auf dem Heimweg sagte der Priester: »Ich lasse dich jetzt bei deiner Tante. Wenn ich meine Abendarbeit im Tempel beendet habe, werde ich dich noch einmal aufsuchen. Lege dich nicht schlafen, ehe ich wiederkomme!«

Gegen halb neun kam er auf das Dach, wo ich auf einer Matte lag – denn die Nacht war heiß –, setzte sich dicht neben meinen Kopf und sprach: »Laß nicht Qualerinnern mit dir in das Haus des Schlummers gehen. Keine unglücklichen Gedanken sollen dein Gemüt bedrücken, während du in die Wohnung des Schlafes wanderst. Du hast weder Recht noch Unrecht getan, du bist Gottes Kind. Möge Er dich in die Grotte der Bewußtlosigkeit geleiten. Keine Furcht, keine Trübsal, keine Reue. Du bist vollkommen. Du bist der Kelch der Gelassenheit, der Klarheit und Anandas, des Segens.« So sprach er. Jeder Satz tilgte Spur auf Spur der trüben Gedanken und Selbstvorwürfe aus meinem Herzen. Seiner murmelnden Rede zuhörend, wurde ich endlich schläfrig. Alles, woran ich mich jetzt noch erinnere, sind die Augen der lauschenden Sterne, die mich langsam vom Riff des Bewußtseins in eine unermeßliche Weite sanften Rauschens hinausstießen.

Eine Woche später, als er mich das Mahabharata lehrte, sagte der Priester: »Lege dich nie mit schmerzlichen Gedanken und quälenden Erinnerungen schlafen. Sie werden dir nicht dazu verhelfen, gesund und völlig heiter zu erwachen – die beiden Beschaffenheiten von Körper und Geist, ohne die kein Mensch sein Tagewerk gut verrichten kann. Ein Kind sollte mit heller Freude in das Schlafgemach geleitet werden.«


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