Fritz Müller-Partenkirchen
Der Spursucher
Fritz Müller-Partenkirchen

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Das stille Schiff

Kapitän Peters war mein Onkel.

Alle Jahre einmal kam er auf Besuch. Er haßte die Begrüßerei. Alles nur Routine, pflegte er zu sagen. Nicht einmal das Klingeln liebte er. Klingeln sei Theaterei. Was theaterhaft im Menschen wäre, kriegte auf das Klingelzeichen nur die Möglichkeit, sich aufs eingelernte Küssen und Umarmen einzustellen.

Er zog es vor, in einer dunklen Nische unseres Treppenhauses lieber stundenlang zu warten, bis die alte Theres', unser Mädchen, etwas zu besorgen hatte. Die pflegte nämlich unsere Flurtür nicht zu schließen, sondern kunstvoll anzuklemmen – seit dreißig Jahren war's ihr nicht mehr auszutreiben.

Sachte schlüpfte Onkel Peters in die altvertraute Wohnung. Leise klinkte er das schöne Zimmer auf, wo nur morgens und am Abend jemand flüchtig nachsah, ob es nicht gestohlen worden war – andere Zwecke hatten schöne Zimmer damals nicht.

Da saß er dann am Fenster in dem nie benützten Lehnstuhl, paffte stundenlang aus seiner Seemannspfeife, bis der ungeheure Qualm sich durch die Fensterritzen einen Ausweg auf die Straße suchte, wo er die Verwunderung des pensionierten Zollamtmanns erregte, welcher gegenüber wohnte und sich in der hergebrachten Reihenfolge überlegte: 92 Feuer ist es keines – hätte sonst nicht zwei geschlagene Stunden lang nur rauchen können – schönes Zimmer – unbenützt – es sei denn, daß Besuch – dann aber müßte man's von Rede und von Gegenrede doch ein wenig murmeln hören – also ein Besuch für sich – Besuch für sich macht nur ein Eigenbrötler – einen haben sie in der Familie, der so ist – Auguste, den Kalender bitte – Ende Juli? – hatten sie nicht drüben letzten Juli auch Besuch von diesem alten Knasterbart, dem Peters – Auguste, lauf' mal nüber und erzähle ihnen –«

Auguste lief hinüber, klingelte bei uns und sagte: »Der Herr Zollamtmann läßt sich empfehlen und bestellen, daß Besuch da sei.«

Schön, sagte meine Mutter, und es freue sie, daß Herr Zollamtmann Besuch habe.

»Noi«, sagte die Haushälterin, »net mir – Sie! Sie hänt Besuch –«

»Wir? – Da müßte ich doch auch was wissen, Fräulein Gusti.«

»Des isch's ja – bei eierm Onkel Bäders weisch ma des nie, sagt der Herr Zollamtmann.«

»Ach du meine Giete!« rief in diesem Augenblick die Tante Paula, die im schönen Zimmer nachgesehen hatte, ob's noch immer nicht gestohlen worden wäre, »ach du meine Giete – er isch's – er isch's!«

Nun, dann stürzten wir hinein, die Mutter und die Tante, die Buben und die Mädchen, und es ergab sich eine ansehnliche Volksversammlung um den noch immer schweigend paffenden Onkel Peters, der mit verstärktem Qualm nicht nur das Küssen und 93 Umarmen, sondern auch das Händeschütteln von sich wehrte und sich durch die Brandung der Begrüßungsworte also hören ließ: »Also Fritze, sage mir, bei welcher Geschichte bin ich doch das letztemal gleich steh'n geblieben, he?«

»Bei keiner, Onkel, du hast sie alle auserzählt?«

»Alle? Was quasselst du doch dummes Züg – Ohm Peters hat noch niemals auserzählt – da müßt ich dreimal älter werden, als es mir der Herrgott vorbestimmt hat, und dann blieben immer noch zwei Zentner an Geschichten über, die ich zu erzählen keine Zeit mehr hatte.«

»Ach, lieber Onkel Peters, dann ist keine Zeit mehr zu verlieren,« jubelten wir Jungen.

Er tat erstaunt: »Wobi?«

»Mit Erzählen, Onkel – fang gleich an!«

»Wat, ohne Grog?« Er blinzelte zur Mutter hinüber, die schon nach der Küche eilte.

Und als er seinen dampfenden Grog vor sich stehen hatte: »Wat, ohne die anneren – meent ihr, daß ich eine und dieselbe Sache zweimal oder dreimal . . .?«

So wurde denn die übrige Verwandtschaft – sie war zahlreich – herbeigeholt. Inzwischen war es auf den Abend und das vierte Grogglas zugegangen. Das ganze Zimmer saß gefüllt und schwatzte.

Nur einer blieb stumm. Das war Onkel Peters.

Bis auf einmal eine jener Pausen in Besuchsgesprächen eintrat, die gefürchtet sind. Es ist, als habe eine Geisterhand mit einem Schlag die Dutzende von Lippen zugedrückt. Es ist, als gelle einem jeden, der noch eben sehr vernehmlich etwas 94 auseinandersetzte, lautlos ein Befehl ins Ohr: »Du schweigst!« Es ist, als sähe jeder ängstlich auf den andern: Nun, du wirst schon weiterreden. Aber niemand redet weiter. Wir hängen – eine schweigend geballte Masse – im schweigenden Weltenraum und der nächste Fixstern, dem man was erzählen könnte, ist tausend Lichtjahre entfernt. Beklemmend zieht sich's über Brust und Hirn: Niemals wieder wird man was erzählen können, wenn nicht binnen einer Sekunde – binnen zwei Sekunden – binnen drei Sekunden – binnen einer Minute – binnen –

Wahrhaftig, eine Stunde hatte jetzt dies Schweigen, dieses fürchterliche Schweigen, das die Ehre der Familiengeselligkeit untergrub, schon gedauert, eine volle Stunde – die Wanduhr drüben kann's bezeugen –

Die Wanduhr drüben aber bezeugte, daß die Pause einen halben Pendelschlag gedauert hatte, als Onkel Franz sich auf das Knie schlug: »Und nun, Onkel Peters, schieß mal los!«

»Womit?«

»Mit deiner Geschichte«

»Mit meiner Geschichte? Du meinst, ich hätte eine. Eine nur, ich, der ich reise? Eine, in der ein Schuß vorkommt? Eine, mit der ich auf allen Stühlen herumrutsche, bis ich die schickliche Überleitung zu dem Schlusse fände? Eine, an der ich ersticken müßte, wenn ich sie nicht überall und jedem, den ich irgendwie erwischen könnte, ›vorgeschossen‹ hätte, wie mein Steuermann, der alte Riemenschneider.«

»Wußte der nur eine Geschichte, Onkel?« 95

»Ja, eine, in der ein Schuß vorkam. Jedem hat er sie erzählt. Mir allein so viele Male, als ich Haare auf dem Kopfe habe – und ich habe noch 'ne ganze Menge, sieh mal.« Er nahm meine Jungenhand und fuhr sich damit über den ergrauten Kopf. »Ja so, die Geschichte mit dem Schuß. Erschlagen könnt ihr mich, ich weiß sie nicht mehr – so oft hab' ich sie hören müssen. Aber das weiß ich noch, daß wir einmal bei einem Hochzeitsessen waren. Eine Menge Leute. Neben mir mein Steuermann. Nach der ersten Stunde fing er an, auf seinem Stuhl herumzurutschen. Die Geschichte ging in ihm herum. Kinder, eine unanbringliche Geschichte ist das schlimmste. Zahnweh ist schlimm, Ohrenweh noch schlimmer, aber eine unerzählte Geschichte, das ist wie Schlangengift in den Gedärmen. Es frißt euch auf. Bei lebend'gem Leibe. Na, ich sah's ihm an, dem armen Riemenschneider. Er fand den Dreh nicht, um mit der Geschichte einzuhaken ins Gespräch. Er wand sich. Er bekam ein glasiges Gesicht. Er sah mich flehend an. Auf ein Jahr Löhnung, glaub' ich, hätte er verzichtet, wenn ich ihm das Stichwort hingeworfen hätte.«

»Und du tatst es, Onkel?«

»Nee, aber ich sah, wie er dem Kellner heimlich winkte. Sah, wie verstohlen ein Dreimarkstück in des Kellners Hand glitt: ›Bscht, dafür schmeißen Sie die Saaltür beim Hinausgehen zu – knallen muß es aber – haben Sie verstanden?‹ Na, für'n Taler versteht ein Ober irgend etwas. Schmeißt also die Saaltür zu, daß es dröhnt. Mein Steuermann fährt auf: ›Fiel da nicht ein Schuß?‹ – ›Nee,‹ sagt einer, 96 ›dieses Ekel von einem Kellner hat die Türe zugeworfen.‹ – ›Soo – hm – na ja, da wir grad vom Schießen reden, muß ich Ihnen eine Geschichte erzählen . . .‹«

Alle lachten.

»Onkel, sag mal, in deinen Geschichten kommt da nie ein Schuß vor?« sagte Onkel Franz.

»Ich glaube nicht. Geschichten mit Schüssen sind nichts wert. Geschichten mit Schüssen bewegen keine Herzen. Sie durchlöchern nur die Dinge. Es ist nicht der Mühe wert, um ein löcherig gewordnes Ding herum etwas zu sagen. Die entscheidenden Geschichten unseres Lebens sind die stillen, Kinder. Glaubet ja nicht, daß ein Krieg entscheidend wäre. Ich habe einen mitgemacht. Die Millionen Kugeln haben manche Löcher aufgerissen. Alles Löcher, die sich wieder schließen. Und eines Tages wird es sein, als wäre nichts gewesen. Was gewesen ist, was ist, was bleiben wird, das sind die leisen, sind die unhörbaren Sachen.«

Einige lächelten. Onkel Franz spottete: »Auf deine alten Tage bist du gar ein Philosoph geworden, Peters.«

»Auf dem Meere wird man's. Ihr wißt das nicht. Ihr wart nie auf der Kommandobrücke. Stundenlang, tagelang, monatelang, jahrelang. Die Mannschaft abgestemmt von sich, und Gott nicht näher, als wir alle ihm je kommen können. Da wird man still. Da erlebt man seine stillsten Stunden.«

»Ach, Stunden – von Geschichten hast du uns erzählen wollen, Onkel.« 97

»Richtig, ja, von stillen. Eine weiß ich, Kinder, die ist wohl die stillste.« Er sah sich langsam um im Kreise: »Doch ich weiß nicht, ob ihr sein könnt, wie es die Geschichte nötig hätte.«

»Wie denn?«

»Still.«

»Stell uns auf die Probe, Onkel.«

Er sah die Wanduhr an. Wieder holte ihr Pendel aus zu einem halben Schlag. Wieder schob sich jenes lähmende Entsetzen zwischen uns. Wieder schrie es auf in einem jeden: »Redet, redet – ach, ich bitt' euch, redet – wir verkommen sonst!«

Aber niemand sprach. Niemand sprach, bis daß der Pendelschlag erklang. Da war's Onkel Peters zufrieden und sagte:

»Ich könnte die Geschichte lang erzählen. So lange, daß wir noch um Mitternacht bei ihrem Garne säßen. Aber mit der Länge ist's wie mit dem Lärm. Je länger, je gleichgültiger. Kurz und still, das sind die beiden Pendelschläge, zwischen denen das, was in dem Ablauf unserer Lebensuhr der Mühe wert gewesen, sich ereignet – darf ich also die Geschichte knapp erzählen?«

Wir nickten stumm.

»Was dran fehlen sollte, müßt ihr euch dann selbst erzählen. Das ist das Geheimnis: Etwas übrig lassen und den andern zwingen, selbst sich etwas zu erzählen – wollt ihr?«

Wir nickten wieder.

»Ihr kennt alle die Geschichten von Gespensterschiffen. Ihr habt alle euer Urteil schon bereit: 98 's ist dummes Zeug. Mag sein, mag nicht. Eins ist sicher: Die Gespensterschiffe, denen wir begegnen, sind wir selber. Weiß schon, das klingt wieder mächtig philosophisch und nach dürrer Theorie. Aber hängen wir der Theorie mal Fleisch an das Gerippe – wollte sagen, Planken ans Gestänge – hört.«

Er tat einen Zug.

»Es war eine meiner ersten Fahrten, seit auf meinen Achseln die Kapitänstressen aufgenäht worden waren. Ich war der Herr. Niemand auf dem Schiff, der mächtiger als ich gewesen wäre. Tod und Leben hielt ich in der Hand. Nichts auf der Welt, was mir noch hätte imponieren können.

Kommt der alte Riemenschneider, mein Steuermann, auf mich zu. Sein Gesicht war weiß: ›Dort ist er wieder, Kapitän.‹

Er wies auf einen Segler, der in unserem Rücken plötzlich aufgetaucht war. Ich riß mich zusammen. Ich begnügte mich zu sagen: ›Wieder?‹

›Ich bin sechzig, Kapitän. Sechsmal hab' ich ihn gesehen. Ich kenne ihn genau. Er kann nicht untergehen.‹

›Wir auch nicht‹, scherzte ich, ›also werden die da drüben über uns den gleichen Schrecken haben.‹

›Die da drüben? Kapitän, dort drüben gibt es keine Menschen.‹

›Na, dann vielleicht wohl Viehzeug.‹

›Kapitän, haben Sie Mut?‹

›Mindestens soviel, als in den Hohlraum Eures Hirns hineingeht.‹ 99

›Scherzt nicht, Kapitän – jetzt ist er nah, ganz nah – ich mach die Jolle los – ich rud're Euch hinüber, – wenn's Euch nicht inzwischen andersrum geworden ist.‹ 100

›Schwätzt nicht – los!‹

Wir machten die Jolle frei. Wir ruderten hinüber. Wir legten an. Wir kletterten hinauf. Halbwegs im Klettern sah ich aufwärts: Jetzt mußte ein Gesicht herunterschauen, jetzt mußte einer fragen, was wir wollten.

Niemand sah herunter. Niemand fragte. Wir sprangen an Deck. Alles blank und sauber. So sieht nur ein Segler aus, der innerhalb der letzten beiden Stunden bis aufs Spantenholz gereinigt wurde. Wo waren sie, die's taten? Wartet nur, wir holen euch schon aus dem Dunkel.

Wir sahen die Segel nach. Alle richtig aufgesetzt. Dauerhafter Stoff. Ein Jahr lang im Gebrauch, mehr nicht. Stempelaufdruck? Keiner. Vorn am Bug der Seglername? Keiner. Hätte ich mir denken können: Wenn schon Versteckspiel, dann wohl hier zuerst.

Wir turnten in den Steuerraum. Das Steuer nagelneu. Tadellos in Ordnung. Wir wollten es bewegen. Unserer beider Hände konnten es kein Jota von der Stelle rücken. Ein Wind sprang auf. Das Steuer rückte. Rückte selber.

Es durchlief mich fröstelnd. Ich sah weg. Zog sich da oben nicht das Fockmastsegel selber aufwärts? ›Riemenschneider, laß uns gehen!‹

›Erst hinunter – wer hat doch gleich gesagt, er habe so viel Mut, als ich im Hirne Hohlraum hätte?‹

Wir stiegen hinunter. Die Treppen frisch gescheuert. Die Messingstangen am Geländer blitzten.

Wir kamen in den Mannschaftsraum. Auf dem langen Tische war ein sauberes Tischtuch. Leere Teller 101 standen drauf. Neben jedem Teller Messer, Gabel, Löffel. In der Mitte eine große Schüssel. Leer. Ich faßte sie an. Warm. Leicht und würzig stieg ein Suppendampf aus ihrer Leere.

›Riemenschneider, jetzt ist es genug, wir wollen –‹

›– erst in die Kajüte, hinten rechts, Herr Kapitän, ich weiß es gut.‹

›Woher?‹

›Was man sechsmal sah, weiß man das siebtemal – tretet ein.‹

Wir standen in der Kapitänskajüte. Auf dem Tisch das aufgeschlagene Logbuch. Leer. Das Tintenfaß daneben – ich hätte was gegeben, hätte ich die Tinte eingedickt gefunden. Sie war flüssig. Glänzend sah ihr dunkles rundes Auge auf uns her.

Der Steuermann wies in die Ecke. Ein Stuhl stand dort. Auf dem Stuhl lag eine Stickerei aus Perlen. Sie war angefangen. Ein Buchstabe. Nein, nur der Anstrich dazu. Mit solchem Anstrich fingen zwölf von fünfundzwanzig Buchstaben an.

Der Steuermann wies auf den Boden. Ein paar feine, rote Schühchen standen dort. Zierlich gleichgerichtet. Leer.

Auf einem Teppich standen sie. Die eine Ecke des Teppichs war umgeschlagen. Ein Knöpfchen blinkte. Es war ein Kragenknopf. Ich bückte mich.

›Nicht, nicht!‹ schrie der Steuermann.

›Jetzt gerade!‹

Ich steckte das Knöpfchen in die rechte Westentasche. Im gleichen Augenblicke fingen meine Füße an zu 102 laufen. Nein, nicht ich lief. Jemand anderer lief mit meinen Füßen.

›Ich will nicht!‹ rief ich, ›nein, ich bleibe hier!‹

Meine Füße kümmerten sich nicht um mein Schreien. Sie rannten die Treppen hinauf. Im Handumdrehen saßen wir in der Jolle. Meine Hände nestelten zitternd an den Stricken. Sie knüpften sich von selber auf. 103

Der Steuermann wollte abstoßen. Mit dem Ruder. Er kam nicht dazu. Das Boot schoß von selbst davon. Eine unsichtbare Hand zog es pfeilschnell in der Richtung nach unserem Schiff.

Plötzlich hielt das Boot mit einem Ruck an. Es war, als habe jemand vom Gespensterschiff ihm Halt geboten. Ein Windstoß fuhr mir an die Weste. Es war wie eine Hand.

Dann ward die Jolle wieder fortgetrieben. Wir lagen an unserem guten Schiff. Ich holte mächtig Atem. Wär' ich nicht der Kapitän gewesen, ich hätte mich in seine Wanten eingekrallt, ich hätte aufgeschrien, wie man aufschreit, wenn nach einem Leben voller Fremde man die Heimat wieder an die Finger kriegt.

Wir standen droben. Es war noch hell. Der Steuermann zeigte nach dem Segler. Ich sah hinüber. Er bewegte sich nicht. Aber etwas anderes geschah, was man nicht beschreiben kann. Der Segler wurde alt. Der Segler wurde älter. Der Segler wurde uralt. Der Segler schrumpfte ein und morschte auseinander – es war, als hole eine grauenhafte Macht vergessene Jahrhunderte nach, wie man mit einer Handbewegung vergessene Winterfliegen einfängt. Das Segelschiff war nicht mehr da. An seiner Stelle ruhevoll ein abendsonnenstiller Fleck im Meer.

Ich schüttelte das Grauen ab. Ich trumpfte auf: ›He, Steuermann, etwas hab' ich doch aus dem Gespensterreich gerettet – hier das Knöpfchen.‹

›Zeigt es!‹ 104

Ich fuhr in meine rechte Westentasche. Sie war leer«


Onkel Peters schwieg. Schwieg lange. Wir mit ihm.

Onkel Franz sagte etwas heiser: »Damit war das Schiff wohl ein für allemal erledigt?«

»Nein, ich sah es wieder, blank und leer, und werd' es wiedersehen, blank und leer.«

Niemand sprach an diesem Abend mehr. Wir gingen bald zu Bett.

Keine Geschichte meiner Jugend, keine Geschichte meines Lebens hat so in mich hineingegriffen wie Onkel Peters stille Geschichte, in der kein Schuß, kein Lärm war, keine Handlung. 105

Manche sagen: auch kein Sinn.

Ich weiß das nicht. Ich weiß nur, daß der unbemannte Segler durch mein Leben gehen wird, durch meine Freuden, meinen Kummer, meine Arbeit. Daß er mich einmal begleiten wird auf einem dunklen Weg, wo alles Liebe, das man hat auf dieser Erde, klein und kleiner wird, in der Ferne schrumpft und auseinandermorscht, bis eine grauenhafte Macht es wegfängt wie vergessene Winterfliegen.

 


 


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