Fritz Müller-Partenkirchen
Der Spursucher
Fritz Müller-Partenkirchen

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Der Tiger

Dschudi, der Malaie, wurde auf der Pflanzung eingestellt. Als Verwalter hatte ich das Recht dazu. Weder an den Hauptverwalter in der Hauptstadt, noch nach Amsterdam an die Verwaltungsräte hatte ich zu schreiben seinetwegen.

Erst wurde er dem Koch beigegeben. Er tat alles, was ihm auch geheißen wurde, sogar Teller wusch er ab. Nach einem Monat kam er leis zu mir getreten: »Herr, wenn ihr mich damals nicht gerettet hättet, wäre alles jetzt vorbei.«

»Alles? Meinst du das Geschirrabwaschen? Gut, du sollst von morgen ab in dem Schuppen schaffen, wo die Tabakblätter gebündelt werden, um zu gären.« Er hielt es dort vier Wochen aus. Seine Arbeit war ganz tadelfrei. Er wollte auch die Nacht durch schaffen.

Dann war er wieder unhörbar, als die Nacht anbrach, an meiner Seite: »Herr, hättet ihr mich doch, als es zu Ende ging –«

»Du sollst von morgen an den Boten machen – bist du es zufrieden?«

Zwei Monate lang machte er den Boten zwischen den Pflanzungen. Dann begann man über ihn zu klagen: Er verspäte sich.

»Dschudi,« sagte ich, »was treibst du auf den Botengängen?« 17

Da brach es aus ihm aus: »Herr, ich bin kein Bote, ich bin ein Spursucher!«

Um diese Zeit war die Pflanzung in Unruhe. Panther und andre Wildkatzen waren in der Nacht in Hütten eingebrochen, die nicht völlig abgeschlossen werden konnten. Sie hatten Beute gemacht.

Einen Tag lang war Dschudi verschwunden: »Zwei Panther hab' ich aufgespürt – wenn du sie schießen wolltest, Herr, so könnte ich dich führen.«

Er führte mich. Ich schoß die beiden Panther. »Dschudi,« sagte ich am Heimweg, »ein Mensch kann nicht aus seiner Haut heraus – mach dich nützlich, wo du meinst, im Hauptamt aber bleibst du angestellt als – als –«

»– Spursucher,« sagte er so würdig wie dankbar. Nicht viel später machte ein Malaienbär uns zu schaffen. Absichtlich ließ ich Dschudi ihn nicht suchen. Ich versuchte es erst selbst. Dann ließ ich andre Angestellte nach ihm streifen. Niemand fand die Spuren. Dschudi sah mich an mit Augen, so spitz wie eine abschnellbereite Pfeilspitze: »Darf ich, Herr?« – »Du darfst, zeuch hin!«

Noch am gleichen Tage hatte er das Bärenlager ausgekundschaftet. »Ich hätte ihn schießen können,« sagte er, »ich schieße gut, – mein Vater, der Rajak, hat es mich gelehrt.«

»Warum tatst du's nicht?«

»Mein Amt ist, Spuren aufzusuchen – schießen mögen andre.«

»Du füllst deine Stelle aus, Dschudi, du bist deinen Lohn und die Verpflegung wert.« 18

»Herr, wenn du mir's schriftlich geben könntest?«

»Du kannst es ja nicht lesen.«

»Es ist von dir, Herr, und es wird mich nicht verlassen.«

Ich schrieb eine Urkunde, worin Dschudi in feierlichen Ausdrücken zum Spursucher unsrer Pflanzung ernannt wurde. Ein großes rotes Siegel machte ich darauf. Ehrfürchtig nahm es Dschudi entgegen, faltete es zusammen, hing's an einer Schnur um seinen Hals und ließ es, solang er lebte, über seinem Herzen liegen, Tag und Nacht.

Mein Jägerehrgeiz hatte zugenommen. Ich wagte es, im Vorbeigehen unserm Dschudi scheinbar nebenbei zu sagen: »Einmal ein Tiger wäre auch nicht schlecht.«

»Wir müssen auf ihn warten, Herr. Menschen, die zum Tiger kommen, sind fast stets verloren. Tiger, die zum Menschen kommen, auch.«

»Hast du einen je erlegt?«

»Einen? Viele, Herr. In unser Dorf kamen viele. Hier muß es ihm schon schlecht gehn, wenn er einbricht.«

»Warum, Dschudi?«

»Der Herr des Dschungels mag die Weißen nicht – er kann sie wohl nicht riechen.«

»Desto besser für unsere Haustiere.«

»Desto schlechter für dein Gewehr, das schon raucht.«

»Wovon raucht?«

»Vom Vor–schuß auf den Herrn des Dschungels.«

»Du hast – mein Gewehr erkannt, Dschudi. Schaff mir einen Tiger.« 19

»Einen Tiger kann man nicht schaffen, den muß man erwarten – wer keine Geduld hat, ist verspielt bei Tieren.«

»Auch bei Menschen, Dschudi. Weißt du noch, wie ich dich fand und eine ganze Nacht Geduld mit dir hatte?

»Ach Herr, ich wollte gleich, ich sei ein Tiger, dir zu dienen –«

»– daß ich dich erschösse?« lachte ich, »nein, Dschudi, ich will auch bei Tieren warten lernen.«

»Ich könnte Euch dabei helfen, Herr.«

»Womit?«

»Um Euch tiger–recht zu machen.«

»Was ist tiger–recht?«

»Man sieht, Ihr habt noch keinen geschossen. Die meisten Menschen, die einem Tiger zum erstenmal ins Auge sehen, sind verloren. Das zweitemal ist es ein Kinderspiel.«

»Was ist es mit dem Tigerauge, Dschudi?«

»Wer zum erstenmal ein Tigerauge auf sich gerichtet sieht, dem ist es so, als ob die ganze Welt in diesen Tigeraugen sei und er damit. Seine Augen, Herr, sind schrecklicher als seine Pranken und sein Maul – wollen wir uns draußen üben, Herr?«

Wir übten uns draußen. Dschudi zeichnete mit Holzkohle einen Tigerkopf auf eine weiße 20 Bretterwand – ich staunte, wie er mit nur wenig Strichen das Grauenhafte eines Tigers im Ansprung herausbrachte. Ich mußte mich mit dem Gewehr aufstellen. »Näher, Herr, viel näher – nur nah erlegst du ihn.«

Dschudi stellte sich neben das Kohlebild: »Jetzt schaut er euch an, Herr.«

Er sagte das mit einer Stimme und mit Augen, daß mir war, als finge das Bild neben ihm zu leben an.

Dschudi brüllte. Nein, das Bild brüllte. Ein leichtes Zittern hatte ich zu unterdrücken. Dann schoß ich auf die Schädelstelle im Bild, die Dschudi mir bezeichnet hatte: »Nur diese ist beim ersten Schuß tödlich, Herr.«

»Und welche Stellen auf den zweiten Schuß?«

»Es kommt sehr selten noch zum zweiten Schuß. Vor dem zweiten Schuß schiebt sich ein Tigersprung ein und ein Tigerbiß.«

Er schaute nach dem Schuß aufs Bild: »Er ist tot, Herr,« war sein Lob.

»Jetzt kann er also wirklich kommen?«

»Noch nicht, Herr. Wir müssen es noch viele Male üben.«

Wir übten es viele Male.

»Jetzt wenn er käme, Dschudi?«

»Noch nicht, Herr. Macht euch erst vertraut damit, ihr wäret ganz allein.«

»Nein, Dschudi, du mußt mitgehn. Schon der Spuren wegen.«

»Ja, das will ich – bin doch euer Spursucher. Aber dann verlaß ich euch.« 21

»Warum?«

»Einen Tiger kann im Freien nur ein Mann töten, der ganz auf sich allein gestellt ist.«

»Das ist Larifari, Dschudi. Alles kann ich dir nicht glauben. Ich glaube gar, du fürchtest dich?«

»Wenn ihr das meint, so fürcht' ich mich.«

»Und ein Gewehr mußt du auch dabei haben, ein Gewehr mit Tigerkugeln.«

»Warum, Herr?«

»Damit, wenn ich ihn fehlen sollte –«

»Wenn ihr ihn fehlt – wir wären alle zwei verloren. Doch ihr fehlt ihn nicht, ihr werdet ganz allein sein, denn ich werde keine Flinte haben.«

»Du wirst sie haben, du wirst sie mitnehmen – ich befehl' es dir, zum Donnerwetter, hast du mich verstanden?«

»Ich habe euch verstanden,« kreuzte er die Hände über seiner braunen Brust, »ich werde sie mitnehmen.« Den Morgen darauf war die Pflanzung in einer wilden Aufregung. Die Kuli zitterten. Die Rinder brüllten. Zwei von ihnen waren in der Nacht von Tigerpranken totgeschlagen, ein Kalb war geraubt. Wie ein Schatten glitt Dschudi aus der Pflanzung. Ohne Büchse.

Spät am Abend – aus der Nachbarpflanzung hatte ich Besuch – trat er unangemeldet in das Zimmer. Er beachtete meine Besucher nicht. »Morgen früh um fünf Uhr, Herr,« sagte er. Wie ein Schatten war er wieder draußen.

Man drang in mich, was das bedeute. Ich sagte, ich verstünde es selber nicht. Denn Dschudi hatte mich 22 gelehrt: »Wer auf das größte jagt, darf's niemand vorher sagen.« – Ich verstand das gut: »Es ist bei allem Großen so, Dschudi.«

Diese Nacht schlief ich nicht gut. Um vier Uhr stand ich in der Tür, bereit. Von der Hütte drüben löste sich ein Schatten los: »Zu früh, Herr, noch zu früh.« Um halb fünf stand ich wieder in der Tür meines Hauses. »Zu früh, Herr, fünf Uhr ist das rechte.«

Um fünf Uhr gingen wir aus der Pflanzung. Auf verschiedenen Wegen. Vor der Pflanzung trafen wir uns wieder.

Er hatte ein Gewehr geschultert. »Es freut mich, Dschudi, daß du mir gehorcht hast.«

»Wenn der Herr sagt: ›Dschudi, gehe mit‹, so geht Dschudi mit; wenn der Herr sagt: ›Nimm dein Gewehr mit‹, so nimmt Dschudi sein Gewehr mit – eine Stunde ist es noch von hier.«

Wir sprachen den ganzen Weg kein Wort. An den Weg selbst kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Aber an die Stunde. Die vergesse ich mein Leben nicht. Die Stunde vor der ersten Tigerkugel kann kein Mensch vergessen. Sie zu schildern, wäre wohl nicht möglich. Und wenn es möglich wäre – im Beschrieb von dieser Stunde wär' ich alles andre eher als ein Held.

Überschlagen wir die Stunde. Wir überschlagen ja auch alle letzten Stunden vor den großen Punkten unsres Lebens – nicht vor Fremden nur, vor uns selber auch, wenn wir darauf zurücksehen.

Das Schilf wurde dichter. Ich erkannte Dschudis Spuren von gestern. Jetzt blieb er stehen. Er sicherte 23 nochmal den Wind. Der strich zu uns her. Er nickte. Er neigte sich zu meinem Ohr: »Dort drüben ist er – wenn der Wind ein wenig auffrischt und die Halme auf die Seite legt, so siehst du ihn.«

Als ob der Wind ihm willens sei, frischte er auf. Das Schilf bog sich zur Seite. Ich sah den Tiger liegen. Ganz ruhig. Noch schien er mit den Knochen des geraubten Kalbs beschäftigt.

Ich redete mir vor, ich sei jetzt ganz gefaßt. Ich war es nicht. Ich war unruhig. Von innen heraus redete es immer dasselbe: »Wenn ich nicht treffen sollte – wenn ich nicht treffen sollte – Dschudi ist bei mir – bei mir – er hat auch ein Gewehr – auch ein Gewehr . . . .«

Ich hob entschlossen die Büchse. Sie zitterte.

»Noch nicht,« machten Dschudis Lippen unhörbar.

Ich ließ die Büchse wieder sinken. Ich zitterte noch. Ich biß mich auf die Lippen. Ich blickte zu Boden, erst senkrecht unter mich, dann schräg neben mich – Herrgott, Dschudis Gewehr, wo ist es – wo ist Dschudis Gewehr – Dschudi hatte kein Gewehr! Ich sah ihn entsetzt an. Er bewegte lautlos die Lippen Ich las ab: »Herr, Ihr sagtet nur, ich müsse das Gewehr mitnehmen, und ich nahm es mit –Ihr sagtet nicht: Dschudi, du darfst dein Gewehr nicht unterwegs liegen lassen – ja, ich ließ es liegen, Herr; unser beider Leben ist in eurer Büchse, Herr!«

Ich sagte nichts. Zorn stieg in mir auf, Zorn und – Entschlossenheit, wilde Entschlossenheit. Ich hob wieder mein Gewehr. Es würde nicht mehr zittern. Aber jetzt hob drüben der Herr des Dschungels 24 seinen dicken Kopf. Er hatte uns nicht gehört und nicht gewittert. Er hob den Kopf nur, weil ein selbstzufriedener Esser den Kopf unter einer Mahlzeit hebt. Nichts Schreckliches war in seinen Augen. Dschudi hatte gelogen.

Höher hob ich das Gewehr.

»Noch nicht, Herr,« formte es sich auf Dschudis Lippen, »noch hat sein Kopf nicht jene Stellung, die du brauchst.«

Ich mußte auf etwas Dürres, Raschelndes getreten sein. Unabsichtlich. Oder war es Dschudi – absichtlich?

Der Tigerkopf drüben zuckte höher. In seine Augen kam das, was Dschudi beschrieben hatte: Die ganze Welt war drin und ich mit ihr.

Dschudi hatte sich leicht gebückt. Gottseidank, gerade recht, um meine Büchse auf seine Schulter zu legen. Er würde sich nicht rühren, meine Büchse würde nicht mehr zittern. Ha, sie zitterte doch! Hatte Dschudi sich gerührt? Nein, er hatte sich nicht gerührt – die Büchse zitterte aus meinem Herzen heraus – das Herz war noch nicht frei.

Auf einmal hing meine Büchse in der Luft. Dschudis Schulter war unter ihr sachte hinweggeschlichen. Ich stand ganz allein, ohne Hilfe, ohne Stab und Stütze.

Und wunderbar, der Zorn war weg, die Furcht war weg, die grünen Tigeraugen drüben, die mordgierigen, funkten Feuerbrände der Stärke in meine Brust. Scharf und ruhig zielte ich. Ein kurzes Brüllen drüben aus dem unverrückten Tigerkopf – mir war's als hörte ich aus weiter Ferne Dschudi flüstern: »Ich 25 habe kein Gewehr, Herr – ich habe keine Schulter, Herr – du bist das Gewehr, du bist die Schulter – tu, was du mußt, Herr!« 26

Ein letztes stahlhartes Zielen, und ich tat, was ich mußte: Ich schoß.

Ein zweites Brüllen drüben – der Riesenkörper drüben fiel zur Seite, daß die Halme wie erschreckte Wellen auf die Seite peitschten.

»Tot,« sagte Dschudi ruhig.

»Zieh ihm das Fell ab, Dschudi,« sagte ich eben so ruhig.

Mit dem Messer, das ihm sein Vater, der Rajak, mitgab, als er ihn auf Nimmerwiedersehen in die Fremde schickte, hantierte er drüben. Derweilen stand ich da, auf meine Büchse gestützt. Ganz ruhig, bildete ich mir ein.

Aber da sah Dschudi unterm Fellabziehen durch den aufgehobnen Ellenbogen scharf zu mir herüber und lächelte: »Ihr zittert, Herr – Ihr zittert furchtbar, Herr – es ist das nachgeholte Zittern – das ist immer so, Herr – jetzt seid Ihr gefeit für immer.«


Das Tigerfell hing auf Dschudis Rücken. Wir gingen heim. Schweigsam. Gleichmütig, als ob nichts geschehen wäre. 27

 


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